27. KAPITEL

G wen war überrascht, ihre Schwestern im Medienzimmer vorzufinden – grrr, im Gemeinschaftsraum, aber egal. Genauso überrascht war sie, dass sie nicht augenblicklich von Sofa aufsprangen und sie erstachen.

Sie schaute die anderen Anwesenden an. Wer würde sie unterstützen und wer nicht? Ashlyn, Danika und Cameo saßen am Tisch, beugten sich über die Schriftrollen, deren gelbes Papier knisterte, und über einen Laptop. Ashlyns hübsches Gesicht war vor Konzentration faltig. Danika war blass und sah krank aus. Cameo starrte finster vor sich hin.

William, Kane und Maddox fehlten. Vermutlich waren sie in der Stadt und suchten nach Jägern, die dort womöglich noch herumlungerten. Gegenüber von den Frauen spielten Aeron und Paris Billard und sprachen dabei über ihre Strategie. Ihre Wunden waren fast vollständig verheilt. Na ja, zumindest bei Paris. Bei Aeron war das schwer zu beurteilen, da er am ganzen Körper tätowiert war.

„Ich sage dir doch, ich habe sie gesehen“, meinte Paris.

„Wunschdenken oder durch Ambrosia verursachte Halluzinationen?“, erwiderte Aeron. „Als wir abgestürzt sind, warst du noch bei Bewusstsein. Hast du sie noch mal gesehen?“

„Nein. Wahrscheinlich hat sie sich versteckt.“

Aeron war gnadenlos. „Bis jetzt war ich wirklich nachsichtig mit dir, Paris, und das hat dir anscheinend nicht geholfen. Du musst über deine Trauer hinwegkommen. Heute Morgen haben wir ein paar der neuen Gefangenen verhört. Sie wussten nichts von ihr. Danach hast du Cronus gerufen und ihn gefragt, ob er sie zurückgeschickt hat. Und, was hat er gesagt?“

Paris war blass, als er mit seinem Queue gegen eine Kugel stieß. „Kein Körper, die Seele vertrocknet. Gestorben.“

Ein winziges, geschupptes … Ding legte sich um Aerons Schultern, streichelte seinen Kopf und küsste ihn auf die Wange. Aeron griff nach oben und kraulte das Wesen sanft im Nacken, als wäre es ein wohlbehütetes Haustier, als wäre es natürlich und schön, es zu berühren. Dabei blieb er die ganze Zeit auf das Gespräch konzentriert. „Würde der Götterkönig dich anlügen?“

„Ja!“

„Und warum, bitte? Er will doch unsere Hilfe.“

„Keine Ahnung“, murmelte Paris mürrisch.

„Was ist das denn für ein Ding?“, fragte Gwen, die ihren Blick nicht von dem Geschöpf abwenden konnte, das sich um Aeron schlang.

Sabin, der neben ihr an der Tür stand und dessen Gegenwart sie körperlich wie eine Hitze spürte, der sie in Versuchung führte, zu vergeben und zu vergessen und sich allein auf die Zukunft zu konzentrieren, auf eine Zukunft mit ihm, lächelte. „Das ist Legion. Sie ist eine Dämonin – und eine Freundin. Aeron würde lieber sterben, als zuzulassen, dass ihr etwas geschieht, also versuch bitte nicht, sie umzubringen.“

Dieses … Ding war ein Mädchen? Egal. Du hast hier etwas zu erledigen. Mit großen Augen nahm Gwen auch den letzten Anwesenden in Augenschein. Torin lehnte an der Wand, und zwar so weit entfernt von den anderen wie möglich. In den behandschuhten Händen hielt er einen kleinen Bildschirm, auf den er seine volle Aufmerksamkeit gerichtet hatte.

Er würde sie unterstützen, das wusste Gwen. Eines hatte sie bereits gemerkt: Er stellte das Wohl seiner Freunde über sein eigenes.

„Willst du so tun, als ob wir nicht hier wären?“ Kaia streckte die Arme über den Kopf und putzte sich wie ein Kätzchen.

Ja. Nein. „Hey.“ Als sie ihren Schwestern endlich in die Augen sah, schenkte sie ihnen ein halbes Lächeln und winkte ihnen zu. Die ganze letzte Stunde hatte sie darüber nachgedacht, was sie ihnen sagen würde – wenn sie überhaupt daran interessiert waren, ihr zuzuhören. Nichts war ihr eingefallen. Eine Entschuldigung wäre unangebracht gewesen, da ihr das, was sie getan hatte, eigentlich gar nicht leidtat.

Taliyah stand auf. Ihr Gesichtsausdruck war genauso neutral wie sonst. Sabin stellte sich schützend vor Gwen.

„Also gut“, begann Taliyah und ignorierte ihn. „Da du nichts zu dem sagst, was vorgefallen ist, werden wir anfangen.“ Sie schwieg kurz, bevor sie sagte: „Ich bin stolz auf dich.“

„W-was?“, fragte Gwen mit brüchiger Stimme. Damit hatte sie nun absolut nicht gerechnet. Sie lugte hinter dem massigen Krieger hervor, und ihre älteste Schwester kam wieder in ihr Sichtfeld. Taliyah war stolz auf sie? Nichts hätte sie mehr überraschen können.

„Du hast getan, was du tun musstest.“ Taliyah ging weiter auf sie zu und versuchte, Sabin beiseite zu schieben. „Du warst im wahrsten Sinne des Wortes eine Harpyie.“

Sabin bewegte sich keinen Millimeter.

Jedem anderen wäre bei Taliyahs Blick das Blut in den Adern gefroren. „Lass mich meine Schwester umarmen.“

„Nein.“

Gwen sah, dass er die Schultern und den Rücken anspannte. „Sabin.“

„Nein“, wiederholte er. Er wusste genau, was sie wollte. „Das könnte ein Trick sein.“ Dann fügte er an Taliyah gewandt hinzu: „Du wirst ihr nicht wehtun.“

Bianka und Kaia gesellten sich zu Taliyah und bildeten einen Halbkreis um den Krieger. Sie hätten ihn angreifen können, doch zu Gwens Überraschung unterließen sie es.

„Im Ernst, lass uns unsere Schwester umarmen“, forderte Kaia ihn auf. Dass sie ihm nicht damit drohte, ihn zu verletzen – ein Wunder. „Bitte.“ Das letzte Wort brachte sie nur widerwillig über die Lippen.

„Bitte, Sabin“, sagte Gwen und legte die Hände auf seine Schulterblätter.

Er atmete tief und stoßweise ein, als versuchte er, an ihrem Duft auszumachen, ob sie es ehrlich meinten. „Keine Tricks. Sonst …“ Kaum war er zur Seite getreten, huschten sie auch schon an ihm vorbei.

Sechs Arme schlangen sich um Gwen.

„Wie gesagt, ich bin so unglaublich stolz auf dich.“

„Ich habe noch nie jemanden so leidenschaftlich kämpfen sehen.“

„Ich bin schockiert. Du hast mir ja dermaßen den Hintern versohlt!“

Gwen war vor Verblüffung wie versteinert. „Ihr seid nicht sauer?“

„Hölle, nein“, sagte Kaia. Dann machte sie einen Schritt zurück. „Na ja, im ersten Moment vielleicht schon. Aber heute Morgen, als wir uns überlegt haben, wie wir dich am besten entführen und uns an Sabin rächen können, haben wir gesehen, wie du von ihm getrunken hast. Da ist uns klar geworden, dass er jetzt deine Familie ist und wir zu weit gegangen sind. Wir wussten, dass man niemals die Familie einer Harpyie bedroht, und haben es dennoch getan.“

Okay. Wow. Ihr Blick wanderte zu Sabin, der sie mit dunklen und zugleich glühenden Augen ansah. Er wollte mit ihr zusammen sein, hatte er gesagt. Er würde den Krieg für sie aufgeben. Er wollte sie zur obersten Priorität in seinem Leben machen. Er vertraute ihr. Er liebte sie.

Sie hätte ihm so gern geglaubt, ja, das hätte sie wirklich, aber sie konnte sich einfach nicht dazu bewegen. Nicht nur, weil er sie eingesperrt hatte, sondern – und das war ihr klar geworden, als sie im Bett gelegen und sich von ihren Verletzungen erholt hatte – weil sie jetzt eine Waffe war. Die Waffe, die er immer gewollt hatte. Sie hatte sich im Kampf bewiesen. Er musste sie nicht mehr zurücklassen, musste sich nicht mehr um sie sorgen. Hätte er sich etwas Besseres einfallen lassen können, um das von ihr zu bekommen, was er wollte, als ihren Körper und ihre Seele zu verführen?

Aber liebte er sie wirklich? Das war es, was sie wissen wollte.

Er behauptete, es sei ihm egal, wenn er sie dabei ertappte, wie sie ihren Vater umarmte. Vielleicht war das die Wahrheit. Aber auch wenn er sie jetzt liebte – würde er sie nicht eines Tages für das hassen, was sie war? Würde sich sein Hass auf die Jäger und ihren Anführer auf sie ausweiten? Würden seine Freunde sich gegen ihn stellen, weil er einen Feind in ihr Zuhause gebracht hatte? Wären am Ende nicht jedes ihrer Worte und jede ihrer Taten verdächtig?

All diese Zweifel schwirrten nicht wegen seines Dämons in ihr umher. Es waren ihre eigenen. Und sie wusste nicht, wie sie sie abschütteln sollte, auch wenn sie es sich noch sosehr wünschte, mit Sabin zusammen zu sein.

Als sie ihn blutüberströmt in der Stadt gesehen hatte, war ihr tatsächlich das Herz stehen geblieben – der eindeutige Beweis dafür, dass es ihm gehörte. Was hatte er nur für einen wilden Anblick geboten. Jede Frau wäre stolz, so einen starken und fähigen Mann an ihrer Seite zu haben. Sie hatte diese Frau sein wollen. Von Anfang an. Doch ihr fehlte das Vertrauen, um an diesem Traum festzuhalten. Was eigentlich lustig war, wenn man etwas länger darüber nachdachte. Denn körperlich war sie noch nie stärker gewesen.

„Ich hasse es, dich zu verlassen“, sagte Bianka, als sie sie losließ und zurücktrat.

„Na ja …“ Nun zum schwierigen Teil. „Warum versuchst du es dann überhaupt? Ich brauche euch hier, damit ihr Torin helfen könnt, die Burg und die Menschen zu beschützen.“

„Und was hast du vor?“ Auch Taliyah ließ sie los und sah sie mit ihren blassblauen Augen an. Wenigstens hatten sie ihr die Bitte nicht gleich abgeschlagen.

Sie straffte entschlossen die Schultern. „Das ist genau der Grund, weshalb ich euch hergebeten habe. Würdet ihr mir bitte für einen Moment eure Aufmerksamkeit schenken?“ Sie klatschte in die Hände und wartete darauf, dass auch die anderen Anwesenden sie ansahen. „Sabin und ich werden nach Chicago gehen und nach seinen vermissten Freunden suchen. Sie haben sich schon seit einiger Zeit nicht mehr gemeldet, und wir vermuten, dass irgendetwas nicht stimmt.“

Bei diesen Worten blinzelte Sabin. Das war seine einzige Reaktion. Sie wusste, dass er auf weitere Informationen von Torin wartete. Aber sie hielt es für besser, sich schon mal auf den Weg zu machen, anstatt tatenlos hier herumzusitzen.

„Ich bin ja so froh darüber“, sagte Ashlyn. „Ich weiß nicht, ob es dir schon jemand erzählt hat, aber Aeron, Cameo und, ja, deine Schwester Kaia haben mich heute Morgen in die Stadt gebracht. Dort habe ich ein paar Sachen aufgeschnappt.“

Oh, oh. In der Burg würde es Ärger geben. „Du hättest nicht in die Stadt gehen sollen. Dein Mann wird durchdrehen, wenn er davon erfährt.“ Sie hatte Maddox zwar erst wenige Male mit der Frau zusammen erlebt, doch das hatte gereicht, um zu erkennen, wie groß sein Beschützerinstinkt war.

Ashlyn tat die Bemerkung mit einer Handbewegung ab. „Er weiß davon. Er kann mich nicht selbst hinbringen, weil ich in seiner Gegenwart keine Stimmen hören kann. Deshalb war der Kompromiss, mich mit Leibwächtern gehen zu lassen. Er wusste, dass ich mich sonst später allein davongeschlichen hätte. Wie dem auch sei – einige Jäger sind ebenfalls nach Chicago aufgebrochen. Sie hatten Angst vor dir, weil sie nicht wussten, was du ihnen antun kannst.“

Jäger, Angst vor ihr. Sie hatten sich vor ihr gefürchtet, als sie in dieser Pyramide gefangen gewesen war, aber damals hatte Gwen nichts gegen sie ausrichten können. Nun war sie nicht mehr hilflos. Bei dem Gedanken musste sie lächeln. Auch Sabin glühte förmlich vor Stolz.

Ihr Magen bebte, und die Luft in ihren Lungen wurde wärmer. Wenn er sie so ansah, konnte sie fast glauben, dass er sie aufrichtig liebte und alles für sie tun würde. Konzentrier dich auf dein aktuelles Vorhaben. „Was ist mit den Gefangenen?“

„Sind immer noch eingesperrt.“ Paris sah sie an, stellte den Queue auf dem Boden ab und lehnte sich dagegen. Er war blasser als gewöhnlich, wirkte angestrengt, und um seine Augen verliefen Falten. „Da Aeron und ich ja wahre Meister im Multitasking sind, haben wir uns um sie … gekümmert.“

„Mit meiner Hilfe“, meldete sich Legion mit piepsiger Stimme zu Wort.

Gekümmert. Auch bekannt als gefoltert. Hatte Sabin sie verhört? Gwen wusste, dass er Gefallen daran fand. Allerdings war er seit der letzten Schlacht kaum von ihrer Seite gewichen. „Die Kinder …“

„Wie ich bereits erwähnt habe: Sie sind von den anderen Jägern isoliert und in hübschere Zimmer gebracht worden. Sie haben Angst und ihre Kräfte – wie auch immer die aussehen mögen – nicht eingesetzt. Bisher. Wir wissen also nicht genau, womit wir es zu tun haben. Aber das werden wir aus den Erwachsenen schon noch rausholen, keine Sorge“, meinte Sabin.

Paris nickte mit grimmiger Entschlossenheit. „Das übernehme ich, sobald wir zurück sind. Ich werde euch nämlich begleiten.“

Sabin und Aeron sahen einander vielsagend an.

„Du bleibst hier“, korrigierte Sabin ihn. „Genau wie der Rest von euch. Wir brauchen hier so viele Krieger wie möglich. Wir wissen nicht, wie viele Jäger hiergeblieben sind.“

„Außerdem hat Torin Galen in der Stadt gesehen“, fügte Cameo hinzu. „Wir haben ihn noch nicht ausfindig machen können, was womöglich bedeutet, dass er sich irgendwo versteckt hält und plant, erneut zuzuschlagen.“

Sabin stellte sich neben Gwen und legte ihr seinen starken Arm um die Taille. Sie wehrte sich nicht. Obwohl sie vom Verstand her noch nicht sicher war, wusste ihr Herz genau, dass sie zu ihm gehörte. Sein Zitronenduft stieg ihr in die Nase. Er war längst zu einer Droge für sie geworden. „Aber, Paris, deine neue … Lieblingsbeschäftigung bringt alle in Gefahr. Du bleibst hier und erholst dich erst mal ordentlich.“

Paris öffnete den Mund, um zu protestieren.

„Torin kann die Reisevorbereitungen für uns treffen“, fuhr Sabin schnell fort. Unentwegt – und vielleicht ganzunbewusst – fuhr er zärtlich mit der Hand an ihrem Arm hoch und runter.

„Ihr müsst einen Linienflug nehmen“, meinte Torin, „weil die Jungs den Jet, den wir immer chartern, drüben in den Staaten haben.“

„Was, wenn die Jäger uns entdecken? Und wie sollen wir unsere Waffen durch die Sicherheitskontrolle bringen?“ Wenn man auch nur ein Messer bei ihnen fand, würde man sie befragen – die reine Zeitverschwendung – und festnehmen.

„Ich habe da so meine Methoden.“ Sabin küsste sie auf die Schläfe. „Vertrau mir. Ich mache das schon ein ganzes Weilchen. Man wird uns nicht entdecken.“

„Bringt Reyes und die anderen sicher nach Hause.“ Danika hielt die Hände gefaltet, als spräche sie ein Gebet. „Bitte.“

„Ja, bitte“, sagte Ashlyn wie ein Echo.

„Und vergesst Anya nicht“, meinte Kaia. „Wer weiß, was sie mal wieder angestellt hat.“

„Ich werde mein Bestes tun“, versicherte Gwen ihnen, und sie meinte es auch so. Doch wäre ihr Bestes gut genug?

„Verrate mir mal, was eine Göttin mit einem Dämon will.“

Anya beäugte den Erzfeind ihres Geliebten: Galen, den Hüter des Dämons der Hoffnung. Er vereinnahmte die eine Seite ihres neuen Gefängnisses und sie die andere. Die langen weißen Flügel trug er hinter dem Rücken zusammengefaltet. Nur die oberen Bögen ragten über seinen Schultern empor. Seine Augen waren so blau wie der Himmel, und je länger sie hineinsah, desto sicherer war sie sich, aufgebauschte weiße Wolken zu sehen. Diese Augen sollten sein Gegenüber einlullen und beruhigen.

Aber Anya machte der Anblick bloß stinkwütend.

Der Geisterjunge hatte sie in dieses kleine, enge Loch „begleitet“ – das verfluchte Kind hatte ihren Körper gesteuert wie einen Roboter – und sie dann allein gelassen. Sie hatte gewartet. Und gewartet. Allein, aufgebracht. Nun wusste sie, dass die Jäger sie für ihren Anführer aufgehoben hatten, der in Buda geblieben war, bis er von dem großzügigen Beutefang hier erfahren hatte.

Mittlerweile waren Gideons Schreie durch die Flure gehallt – und mit seinen Schreien das schadenfrohe Gelächter seiner Entführer. Arme Lüge. Sie hatte irgendwie ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn getreten hatte. Hatte er irgendwelche Geheimnisse ausgeplaudert?

„Hast du keine Antwort auf Lager, meine Schöne?“

„Ich habe Spaß, sonst nichts.“ Sie hatten den Fehler gemacht, sie aus dem Zimmer zu lassen. Auch wenn der Geisterjunge Galen natürlich begleitet hatte. Allem Anschein nach war er seine Versicherungspolice. Tja, er würde schon bald merken, dass er sich eine bessere Police hätten aussuchen sollen. Ohne das merkwürdige Metall rings um sie herum kehrten ihre Kräfte zurück. Schon bald war sie ein lebender Albtraum. Und Galen und seine Untertanen würden leiden.

Ob Lucien sich auch erholte? Anya konnte es nicht ausstehen, von ihm getrennt zu sein.

Langsam verzog Galen die Lippen zu einem Lächeln. „Du bist kratzbürstig. Das gefällt mir. Lucien ist ein Glückspilz. Mehr als das. Dass ein derart hässlicher Mann das Herz einer so wunderschönen Frau erobert, ist ein wahres Wunder.“

Sogar seine Stimme sollte beruhigend wirken. Im Grunde schien alles an ihm darauf ausgerichtet zu sein, Hoffnung zu wecken, wie ein helles Licht in einem Raum voller Dunkelheit und Angst. Was er nicht wusste, war, dass Anya die Dunkelheit bevorzugte. Und zwar schon immer.

„Er ist nicht hässlich“, erwiderte sie, während sie entlang der Rückwand auf und ab ging. Sie ging davon aus, dass man ihre Handlungen umso weniger bemerkte, je mehr sie in Bewegung blieb. „Er ist ehrenwert und liebevoll und herrlich wild.“

Ein höhnisches Lachen ertönte. „Aber er ist ein Dämon.“

Sie blieb stehen, zog eine Augenbraue hoch und sah ihn an. „Nun ja. Genauso wie du.“

„Nein.“ Geduldig schüttelte Galen den Kopf. „Ich bin ein Engel, der vom Himmel geschickt wurde, um diese Erde vom Bösen zu reinigen.“

„Ha!“ Sie setzte sich wieder in Bewegung. „Guter Witz. Wir glauben wohl selbst, was wir über uns erzählen, hm?“

„Ich werde meine Herkunft bestimmt nicht mit einer Dämonenhure diskutieren.“ Nun klang er nicht mehr amüsiert oder duldsam. „Und jetzt erzähl mir, was die Herren über die beiden Artefakte wissen, die noch immer verschwunden sind.“

„Wer sagt denn, dass sie noch immer verschwunden sind?“, fragte sie provokant.

Mehrere Sekunden verstrichen in absoluter Stille. „Stimmt. Wie du sicher weißt, habe ich eins davon.“

Bastard. Stimmte das?

„Wenn sie alle vier hätten, wären sie nicht hier und von meiner Gnade oder Ungnade abhängig. Sie würden nach der Büchse suchen. Oder hätten sie schon gefunden.“

Sie verdrehte die Augen, obwohl sie innerlich zitterte. „Weißt du überhaupt, wie man Gnade schreibt, Engel}“

Er zuckte die Schultern. „Immerhin lebst du noch, nicht wahr?“

Ihre Absätze klapperten auf den Fliesen. „Aber du denkst doch ganz bestimmt, dass du mich auf irgendeine Art benutzen kannst, oder?“

Er verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust, wobei der Stoff seines weißen Hemdes spannte. Seine Hose war auch weiß. Zu viel des Guten, wenn man Anya fragte, aber egal. Sie bezweifelte, dass er von ihr eine Typberatung wollte. „Ich habe langsam die Nase voll von dir, Göttin. Vielleicht sollte ich Tod reinbringen lassen.“

Sollte das heißen, dass er sich lieber damit amüsieren wollte, Lucien zu foltern? „Hör mal, ich werde mit dir reden und dir alles sagen, was du wissen willst, aber nur, wenn du dieses Kind wegschickst. Der Junge geht mir auf die Nerven.“ Sie wollte auf keinen Fall einen so jungen Menschen verletzen.

„Tut mir leid, falls ich bei dir den Eindruck erweckt haben sollte, dass ich dumm bin.“ Galen verzog den Mund zu einem halben Lächeln. „Er bleibt hier.“

Den Versuch war es wert gewesen. Zeit für Plan B. Erst Ablenkung, dann Wut. Wenn sie nicht zu ihm fliegen konnte, würde sie dafür sorgen, dass er zu ihr flog. Der Junge würde wohl kaum seinen Anführer stören. „Warum hasst du die Herren eigentlich so sehr? Was haben sie dir angetan?“

„Die bessere Frage ist: Warum sollte ich sie nicht hassen? Sie wollen mich ruinieren. Deshalb werde ich sie zuerst vernichten.“ Er breitete die Arme in einer So-einfach-ist-das-Geste aus. „All die Jahre konnten wir sie nur verletzen, weil wir uns zu sehr davor gefürchtet haben, ihre Dämonen zu befreien. Wenn das passieren sollte, würden die Götter mich von Neuem verfluchen. Davor hat man mich bereits gewarnt.“ Er lächelte zaghaft. „Aber wir stehen kurz davor, das zu ändern. Es könnte jeden Tag so weit sein. Vielleicht erfahre ich schon morgen, ob sich der Dämon des Misstrauens mit meiner Frau verbinden konnte. Falls ja … werde ich bald die mächtigste Armee anführen, die diese Welt je gesehen hat.“

„Dein windiger Diener dachte anscheinend irrtümlich, du würdest Schwächlinge benutzen und sie zum Wohle dieser Welt wegschließen.“

Er zuckte die Schultern. „Wie kommt er wohl auf so was?“

Okay. Zeit, kurz nachzudenken. Er hatte gesagt, die Götter würden ihn irgendwie verfluchen, wenn er die Herren tötete und die Dämonen befreite. Aber offensichtlich nicht, wenn er diese Dämonen irgendwo halten könnte. Doch wenn er sie den Herren wegnahm, würde er die Unsterblichen damit vernichten. Er würde Lucien vernichten … töten.

Ihr Magen wurde steinhart, und ihr gefror das Blut in den Adern. „Wie hast du Misstrauen gefunden? Wie hast du ihn eingefangen? Einen irren Dämon, meine ich?“ Stefano hatte behauptet, sie hätten den Dämon bereits erfolgreich an einen anderen Körper gebunden. Er hatte eindeutig gelogen. Mal wieder. Doch die Tatsache, dass sie damit experimentierten, war schon Furcht einflößend genug.

„Im Gegensatz zu Amun plaudere ich nicht all meine Geheimnisse aus“, erwiderte Galen.

„Tja, ich fürchte, solange du das nicht tust, kann ich dir auch nicht glauben.“

Er schenkte ihr noch ein halbes Lächeln. „Jetzt bin ich natürlich am Boden zerstört.“

Götter, ich hasse ihn! Sie tippte sich mit dem Fingernagel gegen das Kinn, als wäre sie tief in Gedanken versunken. Sie hatte es geschafft, ihn abzulenken, und jetzt würde sie ihn wütend machen. „Mal sehen, mal sehen. Wenn ich ein feiger, eifersüchtiger Dämon wäre, der vorgibt, ein Engel zu sein, und versuchen würde, einen bösen Geist zu finden und ihn unter Kontrolle zu bringen, würde ich … was machen? Auf jeden Fall andere meine Drecksarbeit erledigen lassen. Vielleicht würde ich sogar Kinder benutzen“, sagte sie mit einem flüchtigen Blick auf den Geisterjungen. Ihre Augen wurden größer, als seine schmaler wurden. Eigentlich hatte sie ihn mit der höhnischen Bemerkung nur in Rage bringen wollen, aber plötzlich wurde ihr klar, dass sie viel mehr getan hatte.

Sie hatte die Antwort gefunden. Irgendwie war eines – oder mehrere – dieser Kinder in der Lage, einen Geist aus der Anderswelt zu finden. Vielleicht war es sogar der Geisterjunge.

„Wir werden sie euch wegnehmen“, fuhr sie fort und sah Galen wieder in die Augen. „Wir werden euch daran hindern, sie je wieder zu benutzen. Wir haben jede Schlacht gegen euch gewonnen. Diesmal wird es nicht anders sein. Ich meine, immerhin haben wir jetzt eine Harpyie auf unserer Seite. Hast du zufällig schon mal gehört, was eine Harpyie so alles kann?“

„Du hältst jetzt sofort den Mund“, herrschte der „Engel“ sie an.

Sie hatte ihn. Fantastisch. Ein emotionaler Mann war ein Mann, der Fehler machte. „Und weißt du, wer noch schlimmer ist als eine Harpyie? Cronus, der neue Götterkönig. Er will dich tot sehen. Wusstest du das schon?“

Galen richtete sich auf. „Du lügst.“

„Ach ja? Das Allsehende Auge – das Auge, das du an uns verloren hast – hatte eine Vision. Darin sah es dich, wie du versuchst, Cronus umzubringen. Jetzt ist er hinter dir her. Ich weiß nicht, warum er dich nicht selbst getötet hat. Aber ich bin sicher, dass er dafür seine Gründe hat. Ich war auch schon mal sein Ziel, also glaube mir: Er wird dich nicht in Ruhe lassen, bis er hat, was er will.“

Mit jedem Wort, das sie sprach, verhärtete sich Galens Kiefer mehr. „Ich würde einem Titanen nie etwas antun.“

„Ach nein? Du hast doch sogar deine engsten Freunde verraten.“

„Sie waren nicht meine Freunde“, rief er und rammte eine Faust in die Wand, sodass das Fundament wackelte.

Ja, so ist es gut, großer Junge. „Schade, dass sie das nicht eher erkannt haben. Aber was soll’s. Sie haben es trotzdem geschafft, dich zu besiegen. Und sie werden dich auch in Zukunft jedes Mal besiegen, wenn du sie herausforderst. Das ist simple Wissenschaft. Du bist einfach schwächer.“

Seine Wut war fast greifbar. „Dein toller Lucien war nicht stark genug, um uns, Zeus’ Elitearmee, anzuführen. Man hätte ihm nicht die Verantwortung übertragen sollen.“

„Und statt ihn wie ein ehrenwerter Soldat herauszufordern, hast du ihn dazu überredet, die Büchse der Pandora zu öffnen, und den Göttern danach von seiner Entscheidung erzählt, sie zu verraten. Und dann hast du dir eine eigene Armee aufgebaut und versucht, ihn aufzuhalten. Stimmt, das ist kein bisschen feige.“

Er machte zwei Schritte nach vorn, bevor er sichzusammenriss und stehen blieb. Er ballte die Hände zu Fäusten. „Ich habe getan, was ich tun musste. Ein guter Krieger gewinnt, indem er alle erforderlichen Mittel einsetzt. Frag mal deinen Freund Sabin.“

Leg noch mal nach. Du hattest ihn fast. „Hmmm, aber wie gesagt, du hast ja gar nicht gewonnen, oder? Obwohl duwusstest, was Lucien und die anderen vorhatten, warst du nicht in der Lage, sie aufzuhalten und als Schwächlinge hinzustellen. Du hast verloren. Du wurdest als Schwächling hingestellt. Du wurdest verflucht, einen Dämon in dir zu tragen, genau wie die anderen. Du, du, du.“ Sie lachte. „Wie erniedrigend.“

„Schluss jetzt!“

„Willst du mich schlagen?“ Wieder lachte sie grausam. „Will der süße kleine Engel Anya die Zunge herausschneiden? Was würden deine Gefährten dann nur denken, hm? Aber ich bin sicher, dass sie dich schon schlimmere Dinge haben tun sehen. Oder lässt du Stefano immer die Drecksarbeit erledigen, sodass du weiterhin als der Gnädige auftreten kannst?“

Ein paar lange Sekunden sah er sie an, vollkommen ruhig und ohne auf sie loszugehen, so wie sie es gehofft hatte. Dann lächelte er zu ihrer Überraschung. „Stefano ist nicht hier, und ich fühle mich ganz und gar nicht gnädig. Aber keine Sorge. Es wird nur kurz wehtun.“ Im nächsten Augenblick zog er eine kleine Armbrust zwischen seinen Flügeln hervor. Ehe sie Zeit hatte, sich zu ducken, feuerte er auch schon zwei Pfeile auf sie ab, die sie gegen die hintere Wand schleuderten. Einer durchbohrte ihre linke Schulter, der andere ihre rechte, und sie war an den Ziegelsteinen festgenagelt.

Der Schmerz explodierte in ihr und trübte ihren Blick. Blut, das so heiß war, dass es ihre Haut versengte, lief an ihren Armen herunter. Schweißperlen bildeten sich über ihren Augenbrauen und auf der Oberlippe, kühlten sie jedoch nicht.

Am Rande nahm sie war, dass der Junge blass geworden war. Seine Unterlippe zitterte.

„Ich denke, es ist an der Zeit, dass Lucien an unserer kleinen Feier teilnimmt“, sagte Galen. „Er wird alles mitansehen, was wir mit dir machen. Dich ausziehen, dich vögeln, dir wehtun. Mal sehen, ob er stark genug ist, dich zu retten, ja?“

„Wenn du ihn anfasst“, brachte sie durch zusammengebissene Zähne hervor, „werde ich dein Herz vor deinen Augen verspeisen.“

Er lachte. Wie sehr sie dieses Lachen doch verachtete. Doch seine Heiterkeit fand ein jähes Ende, als es laut rumste und das Gebäude erschüttert wurde.

„Sieht so aus, als wäre die Kavallerie eingetroffen“, kommentierte Anya und grinste trotz des pochenden Schmerzes in den Schultern. „Ich wusste, dass die anderen uns retten würden. Ich glaube, die Harpyie habe ich schon erwähnt, nicht wahr?“

Er sah sie an. In seinem Blick lag zum ersten Mal eine Spur von Panik. Dann schaute er zur Tür.

Noch ein Rumsen, noch eine Erschütterung.

„Das hier ist noch nicht vorbei. Wenn sie sich befreit, in Ordnung“, sagte er zu dem Jungen, während er auf den Ausgang zustapfte, „aber lass sie nicht aus diesem Raum.“