10. KAPITEL
W enn noch ein schmerzerfüllter Schrei in Sabins Zimmer drang und sich ihr dabei der Magen umdrehte, würde Gwen irgendjemanden verletzen! Das ging nun schon eine gefühlte Ewigkeit so. Es half auch nicht, dass die Müdigkeit mit schweren Fäusten auf sie einschlug, ihr die Augenlider herunterdrückte, das Gehirn vernebelte und das Ganze wie einen nicht enden wollenden Albtraum erscheinen ließ. Gwen war fest entschlossen, Augen und Ohren offen zu halten, nur für den Fall, dass sich einer der Herren in ihr Zimmer schlich und ihr etwas antat.
So wie sie den Männern etwas antaten, die augenblicklich um Gnade flehten. Jenseits jeden Zweifels wusste sie, dass die Jäger gefoltert wurden. Deshalb war Sabin gegangen. Deshalb hatte er sie so schnell verlassen. Seine „Arbeit“ war das Wichtigste in seinem Leben.
Du kennst ihn ja so gut, nicht wahr? Nein. Aber sie wusste, dass er die Jäger verachtete und sich so sehr danach sehnte, sie zu vernichten, wie sie sich nach Normalität sehnte. Sabin würde alles dafür tun, um sein Ziel zu erreichen.
Und sie verstand sein Verlangen. Sie hatten ihm etwas genommen, eine geliebte Person. Sogar mehr als eine geliebte Person. Auch ihr hatten sie etwas genommen. Vieles sogar: ihren Stolz, das normale Leben, das sie gerade für sich gestaltet hatte. Sie hasste sie genauso wie Sabin. Vielleicht sogar noch mehr.
Sie hatten Chris dabei zugesehen, wie er die Frauen vergewaltigt hatte, und zwar mit einer Lust in den Augen, die verraten hatte, dass diese Männer es am liebsten selbst getan hätten. Sie hatten ihn nicht aufgehalten, hatten seineverabscheuungswürdigen Taten nicht ein Mal infrage gestellt. Auch wenn diese Schreie Gwen also schier wahnsinnig machten – Sabin aufzuhalten stand nicht auf ihrer Todo-Liste. Diese Jager verdienten, was sie gerade bekamen. Und dennoch erinnerte Gwen jeder einzelne Schrei daran, dass Sabin von ihr verlangte, ihm dabei zu helfen, absichtlich Leben zu beenden.
Konnte sie das?
Allein beim Gedanken daran kam ihr die Galle hoch. Die Angst durchsetzte ihr Blut, verwandelte die Zellen in Säure und verursachte Blasen in ihren Venen. Über die Jahre hatte sie schon öfter getötet. Oh ja und wie …
Mit neun hatte sie ihren Lehrer umgebracht, weil er ihr eine Sechs gegeben hatte. Mit sechzehn war ihr ein Mann in ein Gebäude gefolgt, hatte sie in einen leeren Raum gedrängt und die Tür verschlossen. Er hatte sich ganze dreißig Sekunden gegen die Harpyie behaupten können. Mit fünfundzwanzig war sie von Alaska nach Georgia gezogen. Sie war Tyson gefolgt – der der Auslöser dafür gewesen war, dass ihre Mutter den Kontakt zu ihr abgebrochen hatte – und war schließlich aufs College gegangen. Davon hatte Gwen schon viele Jahre zuvor geträumt. Ihre Schwestern hatten sie davor gewarnt, dass sie ihre Bestie in der Öffentlichkeit nicht würde beherrschen können, und sie hatten recht behalten. Ein verheirateter Professor hatte versucht, sich ihr anzunähern, sonst nichts, und trotzdem war sie auf ihn losgegangen, als hätte er ihr die Kehle durchschneiden wollen. Gwens dritte Woche auf dem College war ihre letzte gewesen.
Ihre Schwestern behaupteten, die Harpyie wäre nicht so unberechenbar, wenn Gwen aufhören würde, ihr eigenes Wesen zu bekämpfen, doch sie glaubte ihnen nicht. Sie waren ein Haufen blutdurstiger Weiber, die permanent kämpften und mit einer Todesopferzahl aufwarten konnten, bei der Gwen schwindelig wurde. Sie liebte sie, aber obwohl sie sie um ihr Selbstbewusstsein und ihre Stärke beneidete, wollte sie nicht mit ihnen tauschen. Meistens jedenfalls.
Noch ein qualvoller Schrei.
Um sich abzulenken, erkundete sie das Schlafzimmer, knackte das Schloss der Waffentruhe, steckte einige der Wurfsterne ein, die Sabin dort versteckt hatte, und gähnte dabei nur dreimal – ein Fortschritt. Es gab Dinge, die man nie verlernte. Und sich unbefugten Zugang zu einer Sache oder einem Ort zu verschaffen, das war ein hoher Wert in ihrer Familie. Das hätte ich schon viel eher machen sollen. Sie knackte auch das Türschloss und schlich auf den Flur – nur um sich sofort wieder ins Schlafzimmer zurückzuziehen, als sie Schritte hörte.
Warum bin ich bloß so ein elender Feigling?
Noch ein Schrei. Dieser erstickte in einem Gurgeln.
Zitternd und abermals gähnend sank Gwen auf die Matratze und zwang sich, sich nicht auf das zu konzentrieren, was sie hörte, sondern darauf, was sie um sich herum sah. Das Zimmer war eine Überraschung. Hart und maskulin, wie Sabin nun mal war, hatte sie eine spärliche Möblierung, dominierende Schwarz-und Brauntöne und keinerlei persönliche Gegenstände erwartet. Und oberflächlich betrachtet sah der Raum auch ihren Erwartungen entsprechend aus.
Doch unter der dunkelbraunen Tagesdecke blitzten lebhaft blaue Bettwäsche und eine Feder-Matratzenauflage hervor. In seinem Schrank hing eine stolze Anzahl lustiger T-Shirts. Fluch der Karibik. Ist ja fast wie Hello Kitty, dachte Gwen. Auf einem stand „Willkommen auf dem Waffenbasar“, und mehrere Pfeile zeigten in Richtung Bizeps. Hinter einem Schleier aus üppigen Pflanzen befand sich ein Sitzbereich, wo Sabin Kissen auf dem Boden ausgelegt hatte, von denen aus man direkt auf ein Deckengemälde blicken konnte, das mehrere Burgen in den Wolken zeigte.
Dass er so widersprüchliche Seiten hatte, gefiel ihr. Wie der harte und doch jungenhafte Ausdruck in seinem Gesicht.
„Hallo, hallo, hallo“, erklang eine Frauenstimme. Die Tür, die sie eben erst geschlossen hatte, flog auf, und eine große, atemberaubend attraktive Frau kam herein. Sie balancierte ein Tablett voller Essen auf den Händen. Dem Geruch nach zu urteilen, der plötzlich die Luft erfüllte, lagen auf dem Teller ein Schinkensandwich sowie eine Handvoll Kartoffelchips, eine Schale Weintrauben und ein Glas … Gwen konzentrierte sich auf den Duft … Cranberry-Saft.
Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Vielleicht war es ihr starker Hunger oder der Schlafmangel, doch das Erscheinen des Eindringlings beunruhigte sie nicht im Geringsten. „W-was hast du denn da?“
„Vergiss das Essen“, erwiderte die Fremde, während sie das Tablett auf die Anrichte stellte. „Das ist für Sabin. Der Kniich hat mich ausgetrickst, und ich musste ihm was zu essen machen. Er hat mir gesagt, du würdest sowieso nichts anrühren. Tut mir leid.“
„Ach, kein Problem.“ Ihre Zunge war so stark geschwollen, dass sie kaum sprechen konnte. „Wer bist du?“ Gwen konnte den Blick nicht von dem Tablett abwenden.
„Ich bin Anya, die Göttin der Anarchie.“
Gwen hatte keinen Anlass, daran zu zweifeln. Die Frau strahlte eine überirdische Macht aus, die förmlich Funken sprühte. Aber was machte eine Göttin bei den Dämonen? „Ich…“
„Ach, Papperlapapp. Entschuldigst du mich einen Moment? Lucien – das ist mein Mann, also Finger weg – ruft nach mir. Rühr dich nicht von der Stelle, ja? Ich bin gleich wieder da.“
Gwen hatte zwar nichts gehört, doch sie protestierte nicht. Kaum hatte sich die Tür hinter der Göttin geschlossen, stand Gwen auch schon an der Anrichte und stopfte sich Sabins Sandwich in den Mund, spülte es mit dem Saft herunter, schnappte sich dann die Chips und die Weintrauben. Sie verschlang sie, als hätte sie nie zuvor etwas so Exquisites gekostet.
Vielleicht hatte sie das ja auch nicht.
Es war, als hätte sie einen Regenbogen im Mund. Es war eine Melange aus Aromen, Konsistenzen und Temperaturen. Ihr Magen hieß jeden Bissen gierig willkommen und bettelte um mehr dieser gestohlenen Köstlichkeiten.
Anya war nur eine Minute weg oder vielleicht zwei, doch als sie zurück ins Zimmer kam, war das Tablett leer, und Gwen saß auf dem Bett, wischte sich mit dem Handrücken das Gesicht ab und schluckte den letzten Bissen runter.
„Also. Wo waren wir stehen geblieben?“ Ohne auch nur einen Blick auf das Tablett zu werfen, schlenderte Anya zum Bett und setzte sich neben Gwen. „Ach ja. Ich sorge dafür, dass es dir gut geht.“
„Sabin hat mir gesagt, dass er dich herschicken will, aber ich dachte, er hätte seine Meinung geändert. Ich, äh, brauche keinen Leibwächter. Ehrlich nicht.“ Bitte, achte nicht auf das Tablett. „Ich habe nicht vor zu gehen.“
„Ich bitte dich.“ Die schöne Göttin winkte abwehrend. „Wie gesagt, ich bin die Göttin der Anarchie. Als wenn ich mich dazu herabließe, so einen Standpunkt einzunehmen. Außerdem schickt mich niemand irgendwohin, wo ich nicht hinwill. Mir ist einfach nur langweilig, und ich bin neugierig. Eine Frage, die mir durch den Kopf gespukt ist, hat sich zumindest schon beantwortet. Du bist unglaublich hübsch. Allein dieses Haar …“ Sie ließ ein paar Strähnen durch ihre Finger gleiten. „Kein Wunder, dass Sabin dich als seine Frau auserwählt hat.“
Gwen schloss genüsslich die Augen, und ihr Kopf schmiegte sich wie von selbst an die Berührung der Göttin. Die Harpyie war still, eingelullt, zuerst durch das Essen und jetzt durch die Gesellschaft. Nun musste sie nur noch die Burg verlassen, nur für ein paar Stunden, und irgendwo ein Schlafplätzchen finden. „Er hat mich nicht als seine Frau auserwählt.“ Dennoch gefiel ihr allein der Gedanke. Denn ihre Brustwarzen waren steif geworden, und zwischen ihren Beinen war eine Hitze erglüht, die sich wie ein Lauffeuer in ihrem Körper ausbreitete.
„Natürlich bist du Sein.“ Anya ließ den Arm sinken. „Du schläfst in seinem Zimmer.“
Sie öffnete die Augen, und nur mühsam unterdrückte sie ein Wimmern. Warum wollte nur niemand sie länger berühren? „Ich bin hier, weil ich gezwungen werde.“
Anya prustete los, als hätte Gwen einen genialen Witz gemacht. „Der war gut!“
„Im Ernst. Ich habe ihn um ein eigenes Zimmer gebeten, aber er wollte mir keins geben.“
„Als wenn irgendwer in der Lage wäre, eine Harpyie zu zwingen, an einem Ort zu bleiben, an dem sie nicht bleiben will.“
Das traf auf ihre Schwestern zu. Aber auf sie? Eher nicht. Wenigstens war in Anyas Tonfall keine Verachtung mitgeschwungen, als sie das Wort „Harpyie“ ausgesprochen hatte. Es gab so viele Geschöpfe aus sogenannten Mythen und Legenden, die Harpyien als schlechte Wesen sahen – als bloße Mörder und Diebe.
„Glaub mir. Ich bin anders als der Rest meiner Familie.“
„Autsch. Du klingst so angeekelt, als hättest du gerade bei der Folterparty im Kerker vorbeigeschaut. Mögen wir unsere Herkunft oder womöglich uns selbst nicht?“
Gwen blickte auf ihre Hände, die sie auf dem Schoß rang. Konnte die Information gegen sie verwendet werden? Würde es ihr irgendeinen Vorteil verschaffen, wenn sie die Information für sich behielt? Wäre eine Lüge ausreichend, wenn nicht sogar besser?
„Beides“, erwiderte sie schließlich, nachdem sie beschlossen hatte, dass sie ruhig die Wahrheit sagen konnte. Sievermisste ihre Schwestern mehr, als sie sagen konnte. Und hier saß eine Frau, die ihr zuhörte und sich anscheinend für sie interessierte. Unter diesen Umständen war Gwen sogar egal, ob Anya sich wirklich für sie interessierte oder nur so tat. Es tat gut, jemandem ihre Gefühle mitzuteilen. Zum Teufel, es tat gut, zu reden. Zwölf Monate lang hatte ihr niemand zugehört.
Seufzend ließ Anya sich auf die Matratze fallen. „Aber ihr Harpyien seid, wie soll ich sagen, die coolsten Geschöpfe überhaupt. Niemand kann euch hereinlegen und es später herumerzählen – weil er es gar nicht überlebt. Selbst die Götter machen sich in die Hose, wenn ihr auftaucht.“
„Ja, aber es ist unmöglich, Freundschaften zu schließen, weil uns niemand zu nahekommen will. Aber noch schlimmer ist, dass man sein wahres Ich in einer Liebesbeziehung unter keinen Umständen zeigen darf, weil man ja seinen Freund auffressen könnte.“ Gwen ließ sich neben die Göttin fallen, wobei sich ihre Schultern berühren. Sie konnte nicht widerstehen und kuschelte sich dichter an sie.
„Und das ist etwas Schlechtes? Als ich ein Mädchen war, wurde ich von den Gleichaltrigen aufs Übelste verachtet. Sie nannten mich eine Hure, einige weigerten sich sogar, sich mit mir in einem Raum aufzuhalten, als würde ich ihr kostbares Leben irgendwie verpesten. Damals wünschte ich mir nichts sehnlicher, als eine Harpyie zu sein. Denn dann hätte sich niemand mit mir angelegt. Garantiert nicht.“
„Du wurdest verachtet?“ Diese schöne, sanftmütige, unglaublich freundliche Frau?
„Ja. Und eingesperrt. Und schließlich auf die Erde verbannt.“ Anya drehte sich auf die Seite, legte die Hände unter ihre Wange und sah Gwen an. „Zu welchem Clan gehörst du?“
Konnte die Information gegen sie verwendet werden? Würde es ihr irgendeinen Vorteil verschaffen, wenn sie die Information … Ach, halt die Klappe. „Zu den Skyhawks.“
Anya blinzelte, und die langen schwarzen Wimpern warfen für einen Augenblick Schatten auf ihre Wangen. „Moment. Du bist eine Skyhawk? Wie Taliyah, Bianka und Kaia?“
Jetzt legte sich auch Gwen auf die Seite und starrte die Göttin hoffnungsvoll und zugleich erschrocken an. „Du kennst meine Schwestern?“
„Aber hallo! Wir haben tolle Sachen miteinander erlebt, irgendwann im siebzehnten Jahrhundert, glaube ich. In all meinen Jahrhunderten habe ich erst eine Handvoll Leute als Freunde bezeichnet, und diese Mädels standen auf der Liste ganz oben. Aber vor ein paar Hundert Jahren ist der Kontakt leider abgerissen. Einer meiner menschlichen Lieblinge war gestorben, und ich bin nur schlecht damit klargekommen. Ich hab mich damals fast von jedem zurückgezogen.“ Anyas azurblauer Blick wurde intensiv und abschätzend. „Du musst ein neuer Spross sein.“
Verglich sie Gwen mit ihren schönen, klugen, unglaublich starken Schwestern? „Ja. Ich bin erst siebenundzwanzig sterbliche Jahre alt.“
Anya setzte sich auf und schnalzte mit der Zunge. „Dann bist du ja noch ein Baby. Aber bei dem großen Abstand zu deinen Schwestern müsste deine Mom doch schon längst aus dem Alter raus sein, einen weiteren kleinen Hosenscheißer auszubrüten.“
„Offensichtlich ja nicht.“ Auch Gwen setzte sich aufrecht hin, und sie spürte einen kleinen Anflug von Wut. Sie war kein Baby, verdammt noch mal. Ein Feigling, ja, aber ein erwachsener Feigling. Aber diese Unsterblichen würden sie niemals so sehen, so viel stand fest. Sogar Sabin behandelte sie wie ein Kind … na ja, wie ein Kind, das zu jung war, um es zu küssen?
„Wissen die drei, dass du hier bist?“, erkundigte sich Anya.
„Noch nicht.“
„Dann sollten wir sie anrufen. Wir können doch zusammen feiern.“
„Das werde ich“, versprach sie. Und sie würde ihr Versprechen halten. Nur noch nicht sofort. Denn je länger Gwen darüber nachdachte, umso klarer wurde ihr, dass ihre Angst davor, ihren Schwestern von ihrer Entführung und der Gefangenschaft zu erzählen, absolut gerechtfertigt war. Es würde ja so erniedrigend werden. Sie würden ihr einen Vortrag halten, von dem Recht der Alteren Gebrauch machen und sie bestrafen. Vielleicht würden sie ihr sogar befehlen, nach Hause zu kommen – für immer –, wo sie sie beobachten und beschützen könnten. Und niemals würden sie sich eingestehen, dass das nur ein anderer Käfig war.
Genau deshalb war sie nach Georgia gegangen – um zu fliehen. Sie hatte sich eingeredet, sie wäre gegangen, um bei Tyson zu sein, den sie während seines Urlaubs in Anchorage kennengelernt hatte. Doch in den letzten Monaten, als sie allein in ihrer Zelle gesessen und nichts anderes hatte tun können als nachzudenken, war Gwen klar geworden, dass sie einfach nur hatte ausbrechen wollen. In die Freiheit.
Ausnahmsweise hatte sie sich wie eine Erwachsene benommen und ohne Sicherheitsnetz etwas gewagt. Ja, sie hatte versagt. Aber wenigstens hatte sie es versucht.
Der Gedanke, den Anruf vor sich herzuschieben, bereitete ihr ein schlechtes Gewissen. Ihre Schwestern waren sicher beunruhigt, weil sie sich nicht meldete – ob sie nun wussten, was geschehen war oder nicht. Deshalb war es gleichgültig, wie demütigend es werden würde, sie musste sie anrufen, und zwar bald.
„Du hast gesagt, der Kontakt sei abgerissen“, platzte Gwen heraus. „Aber hast du sie denn weiterhin beobachtet? Weißt du, wie es ihnen geht? Was sie machen?“
„Nein, das habe ich in der Vergangenheit nicht getan und auch jetzt nicht. Tut mir leid. Aber wie ich sie kenne, stecken sie bis zum Hals in Schwierigkeiten.“
Sie lachten zusammen. Gwen konnte sich noch gut an die Zeit erinnern, als Bianka und Kaia „Himmel und Hölle“-Hüpfkästchen in ihren Garten gemalt hatten. Anstelle von Steinen hatten sie Autos geworfen. Taliyah hatte Sattelschlepper genommen.
„Die gute Nachricht ist, dass sie den Muskelprotz deiner Wahl gut finden werden. Sabin ist zweifellos genauso gefährlich, wie sie es gern mögen. Man beachte das geniale Wortspiel.
Wortspiel? Was für ein Wortspiel? Außerdem war Sabin nicht ihr Freund. Und das war auch gut so. Da sie ihre Schwestern wegen Tyson verlassen hatte, würden sie ihren nächsten Freund vermutlich allein schon aus Prinzip töten. „Ich schätze, sie würden fünf Minuten nach der ersten Begegnung seine Leber verspeisen.“ Noch ein Grund, den Anruf zu verschieben. Trotz der Schuldgefühle. Sabin rangierte derzeit zwar nicht unter den fünf Wesen, die ihr am meisten bedeuteten, aber sie wollte auch nicht, dass er starb.
„Das macht nichts. Ihm würde einfach eine neue wachsen. Außerdem traust du ihm nicht genug zu. Wenn es ums Kämpfen geht, hat er schmutzigere Tricks drauf als jeder andere, den ich kenne. Mich eingeschlossen, und ich habe meiner besten Freundin nur aus Spaß ein Messer in den Bauch gerammt!“
Okay. Vielleicht war Anya doch nicht so freundlich und sanftmütig, wie es den Anschein hatte. „Ich habe ihn kämpfen sehen. Ich weiß, dass er wild ist.“
„Und trotzdem machst du dir Sorgen um ihn?“ Anya sah sie eindringlich an.
Ja. Nein. Vielleicht.
„Das brauchst du nicht. Immerhin ist er zur Hälfte ein Dämon.“
„Welcher Dämon wohnt eigentlich in ihm?“, fragte sie, ohne verbergen zu können, wie ungeduldig sie auf eine Antwort wartete.
Doch Anya fuhr fort, als hätte sie nichts gehört. „Ich gebe dir mal ein paar Hintergrundinfos. Also, Sabin liegt mit den Jägern – das sind die Männer, die dich gefangen gehalten haben – schon seit Jahrtausenden im Clinch. Sie geben den Herren die Schuld an allem Elend auf der Welt – Krankheit, Tod, einfach an allem – und werden sich bei ihrem Vorhaben, sie alle auszumerzen, durch nichts aufhalten lassen. Sie ermorden Menschen.“ Anya sah sie mit klugen Augen an. „Oder sie vergewaltigen Unsterbliche.“
Gwen musste wegsehen.
„Momentan gibt es ein Wettrennen um vier Artefakte, die einst König Cronie gehört haben, diesem Scheißkerl, weil sie den Weg zur Büchse der Pandora weisen. Die ist nämlich das Einzige, das den Herren unter Garantie das Lebenslicht auspusten würde. Sie würde die Dämonen direkt aus ihnen heraussaugen.“ Gegen Ende ihrer Ausführungen hatte sich Sorge in ihren Tonfall gemischt.
„Klingt eigentlich nach einer guten Sache.“ Was würde sie nicht alles dafür geben, dass man die Harpyie aus ihr heraussaugte. Doch sie war kein zweites Wesen, auch wenn Gwen noch so häufig vorgab, dass es so war. Die Harpyie war ein Teil von ihr. Ihr Kern.
„Aber es wäre ganz und gar nicht gut. Es würde ihre Körper töten. Diese Dämonen sind wie ein zweites Herz. Ohne sie können sie nicht mehr funktionieren.“
„Oh.“
„Aber nur keine Panik. Dreier machen Spaß. Und ich spreche aus Erfahrung.“ Anya lächelte verträumt. „Cronus höchstpersönlich hatte meinem Mann befohlen, mich zu töten, aber Lucien hat es einfach nicht fertiggebracht. Stattdessen hat er sich in mich verliebt. Und, oh Mann, ich liebe es, wie er mich liebt.“
Niemand, nicht mal Tyson, hatte es je geschafft, Gwen so ein Lächeln zu entlocken. Was wohl bedeutete, dass sie niemals so geliebt hatte oder so geliebt worden war. Und obwohl sie zu dieser Erkenntnis schon in der Zelle gelangt war, versetzte es Gwen einen Stich, als es ihr wieder bewusst wurde.
„Schluss jetzt mit dem faulen Herumliegen“, sagte Anya. „Komm, wir machen einen kleinen Rundgang durch die Burg. Und dabei verrate ich dir alles über Sabin, was ich weiß.“
Sabin. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Allein die Erwähnung seines Namens hatte immense Auswirkungen auf ihre Körperfunktionen. Wie war das möglich? Er war das krasse Gegenteil von Tyson: wild, dominant, rachsüchtig, heißblütig. Er war das krasse Gegenteil von allem, was sie sich immer gewünscht hatte. „Aber … Sabin hat gesagt, ich soll mich nicht vom Fleck rühren.“
„Oh, bitte. Gwen – darf ich dich Gwen nennen? –, du bist eine Harpyie, und Harpyien befolgen keine Befehle anderer, schon gar nicht die von herrischen Dämonen.“
Sie biss sich auf die Lippe und schaute zur Tür. Du hast schon einmal beschlossen, dich herauszuschleichen. Also kannst du es auch noch mal machen. „Eine Führung hört sich wirklich wunderbar an. Wenn du mir garantieren kannst, dass die Herren mich in Ruhe lassen.“
„Das kann ich, also komm.“ Anya sprang auf die Füße und zog Gwen hinter sich hoch. „Ich gebe dir zehn Minuten, um zu duschen, und dann werden wir …“
„Ach, ich muss nicht duschen.“ Oder besser: Sie würde nicht duschen, nicht in diesem Haus.
„Sicher? Du bist schon … eklig schmutzig.“
Ja, und dabei wollte sie es auch belassen. Während ihrer Gefangenschaft hatte Gwen sich alle paar Tage sorgfältig mit Sand eingerieben. Sonst hätten alle die eigentliche Farbe und Beschaffenheit ihrer Haut gesehen. Und so neugierig sie auch darauf war, Sabins Reaktion zu sehen, mit den Folgen wollte Gwen sich nicht auseinandersetzen müssen. Und es gab immer Folgen. „Ja, ich bin sicher.“
Wäre sie zu Hause, entweder in Georgia oder in Alaska, hätte sie nach dem Duschen ihr Make-up benutzt, um das Hautbild optisch anzugleichen. Aber hier ging das nicht. Der Schmutz war ihr einziger Schutz.
„Also gut. Du hast Glück, dass ich keinen Sauberkeitsfimmel habe.“ Anya hakte sich bei ihr unter und schlenderte gemächlich los.
Eine halbe Stunde lang erkundeten sie die Burg, gingen treppauf, treppab, in die breite, offene Küche – Gwen gelang es trotz intensiver Bemühungen nicht, sich einen der Herren beim Kochen vorzustellen –, in die Bücherei, in ein Büro, in einen überdachten Garten, in dem bunte Blumen in kräftigen Farben wuchsen, und in die privaten Schlafzimmer, die weder Anya noch Gwen gehörten. Nichts war der Göttin heilig. In zwei Räumen hatten Pärchen geschlafen, Arme und Beine miteinander verschlungen. Gwens Wangen hatten heiß gebrannt, bis die Tür wieder geschlossen war und sie die Nackten nicht mehr gesehen hatte.
Aber Anya enthüllte ihr keins von Sabins Geheimnissen.
Als sie das Fernsehzimmer erreichten – den Gemeinschaftsraum, wie die Göttin es nannte –, war sie kurz davor, nachzuhaken. Doch Gwen zwang sich dazu, sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren und anhand der Einrichtung mehr über Sabin und seine Freunde zu erfahren. Hier gab es einen riesigen Flachbildfernseher, sortierte Videospiele, einen Billardtisch, einen Kühlschrank, ein Karaokegerät und sogar einen Basketballkorb. Popcornkrümel lagen auf dem Boden und erfüllten die Luft mit einem köstlichen Butterduft.
„Fantastisch“, sagte sie, breitete die Arme aus und wirbelte herum. Anscheinend waren diese Männer doch nicht die Vierundzwanzigstunden-Vollblutkrieger, für die sie sie gehalten hatte.
„Ah, hallo, Ladys. Ich glaube wirklich, dass dieser Raum nicht das einzig Fantastische ist.“
Eine tiefe Stimme erfüllte das geräumige Zimmer, als der Lehnstuhl vor dem Fernseher zu ihnen herumschwang. Darin saß ein hinreißend gut aussehender Mann mit dunklen Haaren und blauen Augen, der zu ihr herübersah und seinen Blick über jede ihrer Kurven gleiten ließ. Gwen geriet in Panik und griff instinktiv nach einem der Wurfsterne, die sie in ihrer Tasche versteckt hatte.
„Gwen, das ist William. Er ist auch unsterblich, aber von keinem Dämon besessen. Sofern man seine Sexsucht nicht als seinen ganz persönlichen Dämon bezeichnet. William, das ist die Frau, die Sabin in die Knie zwingen wird.“
William verzog die sinnlichen Lippen. „Ich würde mich freiwillig in die Knie zwingen lassen. Falls du also deine Meinung über eine Liaison mit dem Krieger ändern solltest …“
„Werde ich nicht“, entfuhr es ihr, obwohl sie Anyas Behauptung kurz zuvor noch bestritten hatte. Einen Verehrer zu ermutigen konnte zu Problemen führen. Zu blutigen Problemen, bei denen es um Leben und Tod ging.
„Ich würde mich ausgezeichnet um dich kümmern, das schwöre ich.“
„Einen Tag lang. Höchstens anderthalb“, kommentierte Anya trocken. „Er ist der Typ ‚Schlaf mit ihr und verlasse sie‘. Und obwohl er kein Herr ist, klebt ein Fluch an ihm. Ich besitze das Buch, mit dem ich es beweisen kann.“
William stieß einen kehligen Laut aus. „Anya! Musst du meine Geheimnisse mit jedem teilen?“ Er legte die Hände flach auf die Armlehnen seines Sessels. „Aber gut. Was du kannst, kann ich schon lange. Anya ist der Grund dafür, dass die Titanic gesunken ist. Sie hat mit den Eisbergen das Feiglingspiel gespielt – wer als Erster ausweicht, hat verloren.“
Finster dreinschauend stemmte Anya die Hände in die Hüfte. „William hat von seinem Penis eine Bronzestatue anfertigen lassen und sie auf seinen Kaminsims gestellt.“
Statt den Mann in Verlegenheit zu bringen, spornten ihre Worte ihn nur noch an. „Anya hat vor einigen Jahren die Jungferninseln besucht, danach haben die Einheimischen angefangen, sie nur noch ‚die Inseln‘ zu nennen.“
„William hat sich ein Bild von seinem Gesicht auf den Rücken tätowieren lassen, weil er den Menschen, die hinter ihm gehen, seine Schönheit nicht vorenthalten will.“
„Anya …“
„Moment!“, unterbrach Gwen sie lachend. Der unbeschwerte verbale Schlagabtausch hatte ihr die Nervosität genommen. „Ich habe schon verstanden. Ihr habt beide ’ne Menge Laster. Aber jetzt genug von euch. Verrät mir bitte irgendeiner etwas über Sabin? Anya, du hast versprochen, es zu tun.“
„Hat sie das?“ Sogleich schenkte William ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Seine blauen Augen funkelten. „Gestattest du, dass ich aushelfe? Einmal hat Sabin Aeron, den tätowierten Krieger mit der Stoppelfrisur, in den Rücken gestochen. Aber das ist kein Spiel gewesen, er wollte ihn töten.“
„Wirklich?“, fragte sie. William schien zu entsetzen, was er erzählte. Eigentlich hätte Gwen genauso reagieren sollen, aber Sabin war eben ein Mann, der im Kampf zu schmutzigen Tricks griff – wie sie und Anya festgestellt hatten –, und das, na ja, beeindruckte sie. Ihre Schwestern waren genauso; manchmal, wenn nur der Sieg zählte, wünschte sie sich trotz ihrer Angst vor Gewalt insgeheim selbst so zu sein.
„Laaangweilig“, meinte Anya. Sie rieb die Handflächen aneinander, als freute sie sich darauf, dass sie nun an der Reihe war.
„Warte. Erzähl mir, warum Sabin auf ihn eingestochen hat!“ Interessiert sah Gwen ihn an.
„Du stehst also auf Williams Geschichte? Na gut.“ Anya seufzte. „Ich werde sie zu Ende erzählen. Der Herren-gegen-Jäger-Krieg war gerade erst ausgebrochen. Im alten Griechenland, falls du eine zeitliche Einordnung wünschst, noch vor diesen leckeren Gladiatoren. Jedenfalls haben die Jäger verloren. Klar, sie waren ja auch Menschen. Deshalb haben sie angefangen, Frauen als Köder einzusetzen, um die Herren anzulocken, sie einzufangen und umzubringen. Ihnen ist gelungen, Sabins besten Freund Baden zu töten.“
Gwen fuhr sich nervös mit den Fingern über den Hals. „Das hat er mir erzählt.“ Der Verlust hatte ihn offenbar schwerer getroffen, als sie angenommen hatte.
„Tatsächlich?“ Anya zog eine Augenbraue hoch. „Wow. Normalerweise ist er ziemlich verschlossen. Aber warum siehst du so aus, als würdest du gleich in Tränen ausbrechen? Du kanntest den Mann doch gar nicht.“
„Ich hab was im Auge“, log sie mit heiserer Stimme.
Ämüsiert erwiderte Anya: „Ja, klar. Aber egal, zurück zu meiner Geschichte. Sabin und die anderen Krieger stürzten sich auf die verantwortlichen Jäger und vernichteten sie. Danach wollte Sabin mit dem Amoklauf fortfahren. Die anderen nicht. Warte, das stimmt nicht. Die eine Hälfte stand auf Sabins Seite, die andere Hälfte sehnte sich nach Frieden. Aeron sprach unentwegt davon, alles hinter sich zu lassen und ein neues Leben weit weg vom Krieg gegen die Jäger zu beginnen und so weiter. In seiner Trauer und in seinem Zorn hat Sabin ihm seinen Dolch in den Rücken gerammt.“
„Hat Aeron sich gerächt?“ Gwen rief sich das Bild des Kriegers vor Augen. Groß, muskulös und am ganzen Körper tätowiert, wie William gesagt hatte. Die Haare waren fast abrasiert, violette Augen mit starrem, düsterem Blick. Aeron wirkte kalt, aber ruhig. Beinah zurückhaltend. Doch sie hatte gesehen, wie rabiat er auf diese Jäger losgegangen war.
Wer von den beiden würde einen Kampf gewinnen?
„Nö“, antwortete Anya. „Und das hat Sabin noch mehr aufgeregt. Er ist Aeron an die Gurgel gegangen.“
War es schlecht, dass sie erleichtert war? Ihr missfiel der Gedanke, dass jemand Sabin etwas antat oder ihn angriff.
„Willst du immer noch seine Frau sein?“, fragte William sie plötzlich und klang dabei fast hoffnungsvoll. „Mein Angebot steht noch. Ich kann dir all deine unanständigen Wünsche erfüllen.“
Hätte sie zu Sabin gehört, was ja nicht der Fall war, dann, ja, dann hätte sie immer noch mit ihm zusammen sein wollen. William war bezaubernd und schüchterte sie nicht ein – im Gegensatz zu den anderen –, aber er führte sie auch nicht im Geringsten in Versuchung. Gwen sehnte sich nach dem Anblick des rauen, manchmal aber auch jungenhaften Sabin. Sie sehnte sich nach dem Klang seiner harten Stimme. Sie fühlte sich kribbelig und verspürte eine unsagbare Lust, seine sonnengebräunte Haut zu berühren. Dummes Mädchen. Er hätte ihr nicht deutlicher zu verstehen geben können, dass sie auf Abstand bleiben sollte.
Aber was täte sie, wenn er seine Meinung änderte? Er verkörperte alles, wovor sie sich fürchtete, und sie würde ihn nicht bändigen können.
„Ach, und nur damit du es weißt“, fügte William hinzu und grinste schelmisch. „Er ist vom Dämon des Zweifels besessen. Wenn du dich also bei dem Versuch ertappst, deine Unsicherheit niederzuringen, ist er der Grund dafür. Ich hingegen werde dafür sorgen, dass du dich besonders und geliebt fühlst. Geschätzt.“
„Nein, wirst du nicht“, erklang plötzlich die Stimme hinter Gwen, nach deren Klang sie sich so gesehnt hatte. „Weil du den morgigen Tag nicht mehr erleben wirst.“