20. KAPITEL
U nd ich wollte eine Kriegerin sein?, fragte Gwen sich zum tausendsten Mal nach einer weiteren zermürbenden Trainingseinheit. Sie keuchte, schwitzte und war voller Blutergüsse, als sie sich auf Sabins Bett fallen ließ.
In den letzten Tagen hatte Sabin seine Zeit zwischen seinen Verpflichtungen – was auch immer dazuzählte – und ihrem Training aufgeteilt. Die letzten paar Stunden hatte sie damit verbracht, sich nach allen Regeln der Kunst schlagen zu lassen. Mal wieder. Es gab kein Pardon. Er zeigte keine Gnade. Das nervte!
„Du bist stärker, nicht wahr?“, sagte er, als könnte er ihre Gedanken lesen.
„Ja.“ Das war sie.
„Ich werde mich nicht entschuldigen. Jetzt weißt du ja, dass du einstecken kannst.“
„Und austeilen“, erwiderte sie selbstgefällig. Erst vor einer Stunde hatte sie den muskelbepackten Krieger so kräftig in die Bäume geschleudert, dass er nur noch nach Luft geschnappt hatte. Inzwischen wusste sie auch, wann sie sich ducken und wann sie angreifen musste.
„Du musst nur noch lernen, wie du deine Harpyie schneller auf den Plan rufst. Wenn du das machst, passieren gute Dinge.“ Er setzte sich auf die Bettkante, legte Gwen die Hand in den Nacken und zog sie an sich heran. „Jetzt trink.“
Als sie die Zähne in seiner Halsschlagader versenkte, musste sie daran denken, wie sie ihn im Wald genommen hatte, und ihre Wangen begannen zu glühen. Dann schloss sie die Augen und genoss einfach nur den Geschmack dieses Mannes.
Er hob sie auf seinen Schoß, ohne dass sie aufhören musste zu trinken, und sie spreizte sofort die Beine und hieß ihn willkommen. Er rieb sich zwischen ihren Beinen. Sie stöhnte lustvoll auf. Doch als sie ihm mit den Fingern durchs Haar fuhr und ihre Zähne aus seinem Hals zog, um an seinem Körper zu lecken und zu knabbern, warf er sie zurück auf die Matratze, stand mit zittrigen Beinen auf und ging zur Tür.
„Zeit für die zweite Runde“, sagte er. „Wir sehen uns draußen.“ Dann ging er um die Ecke.
„Du machst mich allmählich echt wütend“, rief sie.
Keine Antwort.
Fast hätte sie vor Frust laut gekreischt. Das hatte er jetzt schon zum dritten Mal gemacht. Mit ihr trainiert, sie in sein Zimmer gebracht, um mit seinem köstlichen Blut ihre Verletzungen zu heilen, sie heiß und willig gemacht und dann einfach stehen lassen, weil er seinen sogenannten Pflichten nachzugehen hatte oder sie weitertrainieren mussten. Warum? Seit dem letzten ernsteren Gespräch hatte er nicht wieder mit ihr geschlafen. Noch mal: warum?
Sie hatten einander ihre Gefühle gestanden. Oder nicht? Sie wusste, dass sie ihn wollte, egal wie sie ihn bekam und egal, für wie lange sie ihn haben konnte. Das brauchte sie nicht länger zu leugnen. Wenn es nicht funktionierte, hatte sie es zumindest versucht. Und natürlich wäre es dann seine Schuld, also brauchte sie nichts zu bereuen.
Bei der Vorstellung, ihm für jegliche zukünftigen Spannungen die Schuld zu geben, verrauchte ihr Frust. Sie lächelte. Bei dem Gedanken an eine Zukunft mit ihm musste sie sogar verträumt seufzen und kuschelte sich an ein Kissen. Er gehörte zu den Männern, nach der sich jede Harpyie sehnte. Er war stark, ein bisschen wild, sehr gefährlich. Er war in der Lage, einen Feind ohne Schuldgefühle zu töten. Er scheute vor harter Arbeit nicht zurück. Er konnte skrupellos sein, und dennoch war er zärtlich zu ihr.
Die einzige Frage war: Würde sie ihm wichtiger sein als sein Krieg?
Moment. Zwei Fragen: Wollte sie, dass er sich im Fall des Falles für sie entschied?
Wieder seufzte sie, stand jetzt auf und ging wieder nach draußen. Die Sonne stand hoch am Himmel und schien warm auf sie herab, während sie nach Sabin suchte. Als Gwen ihn entdeckte, verspürte sie Stolz. Meiner. Er kauerte über zwei Dolchen und schärfte sie.
Es gibt keinen Grund, mit Attrappen zu üben, hatte er gesagt. Am nächsten Tag wollten sie mit Schusswaffen trainieren. Das goldene Licht schmeichelte seiner nackten Brust und betonte seinen dunklen Teint. Ein zarter Schweißfilm bedeckte seine Muskeln, sodass sie glänzten – und ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Die Bisswunden an seinem Hals heilten bereits. Sie wünschte, sie blieben für immer und würden ihn als ihr Eigentum kennzeichnen.
All diese Kraft ist über mir, in mir gewesen.
Sie wollte es wieder. Bald. Nachts war die Sehnsucht kaum zu ertragen. Er kam immer erst kurz vor dem Morgengrauen ins Zimmer – sie brauchte nicht seinen Dämon zu bemühen, um sich zu fragen, wo er gesteckt und was er getan hatte – und kroch dann neben ihr ins Bett, jedoch ohne sie zu berühren. Sie spürte seinen Herzschlag, hörte seine leisen Atemzüge, und sie nahm die Sehnsucht fast als körperlichen Schmerz wahr. Dann schlief sie ein, bevor sie irgendetwas dagegen tun konnte.
Wenn er sie diese Nacht immer noch ignorierte, würde sie die Dinge in die Hand nehmen. Und zwar wortwörtlich. Er war schon einmal mit der Harpyie verschmolzen und hatte es überlebt; das könnte er auch ein zweites Mal, zum Teufel.
„So ein Mist“, sagte Ashlyn, die Frau des Hüters der Gewalt. Gwen überraschte es, diese sanftmütige Frau fluchen zu hören. „Nicht schon wieder!“
Wie gewöhnlich saßen Ashlyn und Danika an der Seitenlinie, um sie anzufeuern und zu unterstützen. Sie buhten auch gern, wenn Sabin sie in die Knie zwang. Obwohl Gwen noch nicht viel Zeit mit ihnen verbracht hatte, hatte sie sie bereits ins Herz geschlossen. Sie waren offen und ehrlich, nett und witzig, und sie hatten es irgendwie – trotz allem – geschafft, eine Beziehung mit einem Herrn der Unterwelt zu führen. Gwen nahm sich vor, sich von ihnen detailliert erzählen zu lassen, wie sie dieses Kunststück fertigbrachten, aber noch war der richtige Zeitpunkt dafür nicht gekommen.
Im Augenblick waren sie von irgendeinem Spiel abgelenkt, das sie mit Anya, Bianka und Kaia spielten – die ihr auch gern beim Training zusahen. Ashlyn und Danika hatten ihre Schwestern mit offenen Armen empfangen, weil die Burg, wie sie sagten, dringend mehr Östrogene brauchte, um das Testosteron auszugleichen.
„Ich bin dran“, sagte Bianka und knurrte gespielt. „Wenn du also nicht sofort meinen Würfel loslässt, reiße ich dir die Finger ab. Du hast die Wahl.“
Maddox war anscheinend drinnen, sonst hätte er ihre Schwester herausgefordert, das wusste Gwen. Spiel oder nicht – er hatte etwas dagegen, wenn jemand seine Frau bedrohte.
Der Krieger namens Kane stand etwas abseits und beobachtete die Frauen, ein angedeutetes Lächeln umspielte seine Lippen. Seine haselnussbraunen Augen glänzten. Er stand auf dem freien Feld, lehnte sich weder gegen einen Baum, noch ragten Zweige über seinen Kopf. Und dennoch brach in dem Moment, als Gwen zu ihm hinübersah, ein Zweig von der Färbereiche ihm gegenüber, raste direkt auf ihn zu und peitschte ihm ins Gesicht.
Er und ein paar andere waren offenbar hiergeblieben, um die Schriftrollen von Cronus, dem Götterkönig, zu studieren – war das eine von Sabins Pflichten? –, während die restlichen Männer nach Chicago gereist waren, um den Jägern „in den Hintern zu treten“. Merkwürdig, dass sie sie vermisste.
„… konzentriert?“ Ein schweres Gewicht traf sie im Magen, und sie stürzte zu Boden.
In der nächsten Sekunde war Sabin auf ihr, starrte sie an und hielt die Dolche knapp über ihren Schultern. „Wir haben doch schon darüber gesprochen, was passiert, wenn man mit den Gedanken abschweift.“
Ihre Lunge hatte sich verkrampft, und sie brauchte einen Moment, um eine Antwort herauszubringen. „Wir hatten doch … noch gar nicht angefangen.“
Denkst du wirklich, dass du dafür… stark genug bist?
Zweifels Stimme hallte durch ihren Kopf, aber der Dämon klang zurückhaltend, als hätte er Angst, auf sich aufmerksam zu machen. Er hatte tatsächlich Angst vor ihr, ganz so, wie Sabin gesagt hatte. Das war eine Erkenntnis, die in ihr ein Machtgefühl hervorrief.
„Tut mir leid, dass ich den Dämon gegen dich einsetze, aber ich will, dass du auch gegen ihn trainierst. Und denkst du allen Ernstes, ein Jäger bittet dich um Erlaubnis, anfangen zu dürfen, bevor er angreift?“
Berechtigter Einwand. Vielleicht war es an der Zeit, dass sie endlich mal punktete. „Erstens ist dein Dämon mittlerweile so zahm wie eine Hauskatze, und zweitens …“ Da ihre Arme frei waren, ballte sie die Hände zu Fäusten und rammte sie Sabin in die Schläfen. Er keuchte überrascht auf und hielt sich den Kopf, als er nach hinten fiel. Sie verschwendete keine Sekunde und trat ihm so fest gegen den Brustkorb, dass seine Rippen brachen.
Die Harpyie lachte. Mehr!
Ausnahmsweise erschreckte es sie nicht, die Stimme zu hören, und Gwen blinzelte überrascht. War sie gerade dabei … sich mit ihrer dunklen Seite zu verbünden?
„Los, Gwennie!“, rief Kaia.
„Tritt ihn, solange er am Boden liegt!“, stimmte Bianka ein.
Er hielt die Dolche immer noch fest in den Händen, während er blinzelte und versuchte, wieder einen klaren Blick zu bekommen. Gwen sprang auf die Füße, und ihre Flügel sprangen hervor. Zum Glück waren sie so klein, dass sie ihr neues Top nicht zerrissen. Während sie sich schneller bewegte, als irgendwer sehen konnte, raste sie hinter Sabin und legte die Finger um seine Handgelenke.
Er hatte keine Zeit, sich zu wehren.
Noch ehe ihm bewusst wurde, wo sie war und was sie tat, hatte sie ihm die scharfen Messerspitzen auch schon auf die Schultern gelegt. Auf beiden Seiten bildeten sich kleine Blutstropfen.
Ein Moment verstrich, in dem er verblüfft schwieg.
„Okay. Du hast mich offiziell besiegt.“ Einige Männer hätte das erniedrigt, aber in Sabins Worten schwang Stolz mit.
Sie hätte vor Freude Luftsprünge machen können. Sie hatte es einfach so getan, schneller als ein Blitz. Sie hatte es tatsächlich getan. Sie hätte sich niemals träumen lassen, dass sie einmal einen Kampf gewinnen würde, ohne Rücksicht auf ihren Gegner zu nehmen. Bislang war ihr das immer unmöglich erschienen. Und nun hatte sie einen Herrn der Unterwelt besiegt, einen der fähigsten Krieger dieser Welt und einiger anderer. Die Götter zitterten, wenn nur ihr Name fiel.
Und falls nicht, täten sie gut daran.
„Aber wenn wir das nächste Mal kämpfen, will ich, dass du deine Harpyie ganz freilässt“, fügte er hinzu.
Sie nickte widerstrebend. Die Harpyie beim Sex gewähren zu lassen, war eine Sache, aber beim Kämpfen – das war etwas völlig anderes.
„Denk einfach daran, was du schon bald mit den Jägern machen kannst“, sagte Kaia ehrfürchtig. „Ehrlich, Kleine, ich habe noch nie solche Bewegungen gesehen wie bei dir.“
„Mutter wäre stolz auf dich.“ Taliyah kam an ihre Seite und klopfte ihr anerkennend auf den Rücken. „Wenn wir wüssten, wo sie steckt, würde sie dich womöglich wieder in ihre Schar aufnehmen.“
Gwen hätte tanzen können. Sie war immer die Ausnahme gewesen, das schwächste Glied, der Fehler. Mit nur einem süßen Sieg hatte sie jetzt endlich das Gefühl, eine von ihnen zu sein. Als wäre sie ihnen ebenbürtig.
Schweigend griff Sabin nach oben und nahm ihr die Dolche aus den nun zitternden Händen. Was er wohl gerade dachte?
„Gut gemacht.“ Ashlyn rieb sich den runden Bauch. „Ich bin ehrlich beeindruckt.“
Danika klatschte grinsend. „Sabin, du solltest dich schämen. Du lagst nach nicht mal einer Minute am Boden.“
„Und das auch noch wegen eines Mädchens.“ Doch Kaias Belustigung verflog schnell. „Okay, jetzt, da der heiße Teil des Trainings vorbei ist, habe ich eine Frage: Wann werden wir endlich was erleben?“ Sie stemmte die Hände in die Hüfte. „Uns ist langweilig. Und zwar schon lange. Außerdem haben wir uns verdammt gut benommen und abgewartet.“
„Ja. Die Jäger haben unserer Kleinen wehgetan und müssen jetzt endlich dafür bezahlen“, meinte Bianka.
„Bald“, sagte Sabin. „Versprochen.“
Das jagte Gwen ein wenig Angst ein. Allerdings nicht genug, um den Kurs zu wechseln, den sie nun eingeschlagen hatte.
„Aber nun werde ich erst mal etwas Zeit mit der Frau der Stunde verbringen. Und zwar allein.“
Niemand protestierte, als Sabin sie zu einer geheimen Nische führte, in der er bereits eine Kühlbox versteckt hatte. Mit einer Geste bedeutete er Gwen, hineinzugehen und sich in den kühlen, kreisförmigen Schatten zu setzen. „Brauchst du mehr Blut?“
„Nein.“ Im Ernst, was ging da in seinem Kopf vor? Er war höflich, aber distanzierter denn je. Ganz offensichtlich ging Zeit zu zweit bei ihm nicht zwangsläufig mit Nacktsein und einem Bett einher. Wie schade. „Es geht mir gut. Ich bin sogar topfit.“ Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, blieb auch sie stehen.
„Gut. Denn so gern ich es dir auch geben würde, ich möchte sehen, wie schnell du dich ohne Blut von kleineren Verletzungen erholst.“
„Ich bin nicht verletzt, weder ein bisschen noch stärker.“
„Ach ja?“ Er betrachtete ihren Arm.
Sie folgte seinem Blick und sah die blutigen Schrammen an ihrem Unterarm. „Oh.“ Wow. Die Schussverletzung hatte sie offenbar gegen den Schmerz anderer Verletzungen abgehärtet.
„Sag mir Bescheid, wenn alles verheilt ist.“
Immer der Trainer. Das mochte sie an ihm. Alles war eine Unterrichtsstunde, die sie stärker machen und auf das vorbereiten sollte, was kommen könnte. Das zeigte Gwen, wie viel sie ihm bedeutete, denn so etwas tat er nicht für jeden. Eigentlich sogar nur für sie.
Wenn sie weiter darüber nachdachte, reagierte er sogar eigentlich nur mit Gewalt, wenn jemand sie bedrohte. Kaia und Bianka hatten seine Freunde schon bei zahlreichen Gelegenheiten verletzt, sowohl verbal als auch körperlich, aber er hatte nur gegrinst und war in ihre Neckereien sogar noch eingestiegen. Doch sobald ihre Schwestern anfingen, sie zu ärgern, änderte sich Sabins Stimmung. Dann zögerte er auch nicht und schubste sie einfach weg. Richtig. Für ihn waren Männer und Frauen in jeder Hinsicht gleich und verdienten es, gleich behandelt zu werden. Noch etwas, wofür sie ihn bewunderte.
„Setzen“, drängte er sie nochmals. „Ich muss mit dir reden.“
„Na gut.“
Als sie seiner Anweisung gefolgt war, hielt er eine eiskalte Flasche Wasser hoch, an deren Außenseite feine Tropfen abperlten. „Wenn du dir die hier verdienen willst, musst du mir sagen, was mit einer Harpyie geschieht, wenn sie sich einen Gemahl ausgesucht hat. Sag mir, wie lange sie diesen Gemahl hat und was von ihm erwartet wird.“
War es möglich, dass er … darüber nachdachte, sich für diesen Job zu bewerben? Sie saß erstaunt da und sah ihn an, als er sich ein paar Zentimeter vor ihr auf den Boden setzte und ausstreckte.
„Ich höre?“
„Ein Gemahl ist für immer“, brachte sie krächzend hervor, „und sehr selten. Harpyien haben einen freien Geist, doch ab und an begegnet eine einem Mann, der sie … verzaubert. Ich denke, mit diesem Wort kann man ihre Besessenheit am besten beschreiben. Sein Duft und seine Berührungen werden zu ihren Drogen. Seine Stimme besänftigt ihre Wut wie nichts anderes, beinah so, als würde sie ihre Federn streicheln. Aber was von ihm erwartet wird, weiß ich nicht. Ich habe noch nie eine Harpyie mit einem Gemahl kennengelernt.“
Er zog eine Augenbraue hoch. „Du hattest also noch nie einen? Einen Gemahl, meine ich. Und wag es nicht zu sagen, der Hühnchenmann …“
„Nein, keinen Gemahl.“ Tyson hatte ihre Harpyie nicht verzaubert, so viel stand fest. Sie hob die Hand und wedelte mit den Fingern. „Ich habe es mir verdient.“ Im nächsten Augenblick flog die Wasserflasche auf sie zu. Kalte Flüssigkeit spritzte auf ihre Arme, als Gwen sie auffing. Binnen Sekunden hatte sie alles ausgetrunken.
„Muss eine Harpyie ihrem Gemahl gehorchen?“
Ihr entschlüpfte ein Lachen. „Nein. Denkst du wirklich, eine Harpyie muss irgendjemandem gehorchen?“
Er zuckte die Schultern, und sie erkannte in seinem dunklen Blick sowohl Entschlossenheit als auch Enttäuschung.
„Warum willst du das wissen?“, fragte sie.
„Anscheinend denken deine Schwestern …“ Sein Wangenmuskel zuckte. „Ach vergiss es.“
„Was?“
Sein Blick wurde eindringlicher. „Sicher, dass du es wissen willst?“
„Ja.“
„Sie denken, dass ich dein Gemahl bin.“
Das Kinn fiel ihr aufs Brustbein, als ihre Lippen ein großes O formten. „Was?“, wiederholte sie, was sich für sie selbst töricht anhörte. „Warum sollten sie so was denken?“ Und warum hatten sie nicht mit ihr darüber gesprochen, sondern mit Sabin?
„Ich kann dich beruhigen. Du willst mich.“ Er klang fast defensiv.
Aber wenn er … wenn sie … heilige Hölle. Er konnte sie in der Tat beruhigen. Von Anfang an hatte er sie beruhigt. Und sie verzehrte sich nach ihm, nach seinem Blut, nach seiner Gegenwart, nach seinem Körper. In allen anderen Bereichen der Harpyienwelt war sie ein derartiger Störfall, dass sie immer geglaubt hatte, ein Gemahl stünde für sie nicht auf dem Plan. War es doch so?
Wenn Sabin nicht bei ihr war, suchte sie nach ihm. Und wenn er bei ihr war, wollte sie sich an ihn schmiegen und seine Nähe genießen. Sie hatte ihre Geheimnisse mit ihm geteilt und bereute es nicht.
Anya hatte ihr gesagt, dass Sabin zu ihr gehörte, doch damals hatte Gwen der Göttin nicht geglaubt. Aber jetzt … Heilige Hölle, dachte sie wieder. Sie war wie benommen.
Hatte Sabin deshalb so viel Abstand zu ihr gehalten? Weil er nicht ihr Gemahl sein wollte? Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. „Aber ich … ich weiß doch gar nicht, ob ich dich überhaupt liebe“, merkte sie in dem Versuch an, ihn zu beruhigen.
Etwas Dunkles schimmerte in seinen Augen. Sein Blick war hart und feurig. „Du brauchst mich nicht zu lieben.“ Das Wort „noch“ stand unausgesprochen, aber dennoch spürbar zwischen ihnen.
Liebte er sie denn? Das war fast mehr, als sie zu hoffen wagte. Denn wenn er sie liebte, hätte er sie doch noch mal berührt. Oder nicht? „Lass uns lieber über den Krieg sprechen“, hörte sie sich sagen, anstatt zu fragen, was sie wirklich wissen wollte: Warum hast du nicht mit mir geschlafen? „Das ist nicht so unangenehm.“
Er seufzte. „Also gut, wie du willst. Da ich nicht mit den anderen nach Chicago gereist bin, habe ich Namen aus den Schriftrollen gepickt, in denen weitere von Dämonen besessene Unsterbliche aufgelistet sind. Ich habe in den Büchern, die Lucien über die Jahre gesammelt hat, nach ihnen gesucht, um mehr über sie in Erfahrung zu bringen.“
Er war ihretwegen geblieben. Das wusste Gwen, und sie konnte die Freude, die sich in ihr ausbreitete, nicht zurückhalten. Vielleicht fand er die Vorstellung, ihr Gemahl zu sein, am Ende doch nicht so abstoßend. „Und, hast du was gefunden?“
„Viele Namen kenne ich noch aus meinen Tagen im Himmel. Die meisten Gefangenen wurden von mir und den anderen Herren in den Tartaros geworfen, wir sind also nicht gerade ihre Freunde. Vermutlich ist es am besten, wenn wir sie einfach jagen und umbringen, damit sie Galen nicht helfen können. Andererseits hat auch er dabei geholfen, sie einzusperren, damals, als er noch einer von uns gewesen ist. Vielleicht spielt es also überhaupt keine Rolle.“ Er machte eine Pause und seufzte wieder. „Sieh mal, ich habe die Sache mit dem Gemahl angesprochen, weil ich mit dir über etwas reden wollte.“
Enttäuschung und Ungeduld rangen in ihr. Ihre Ungeduld gewann. Schließlich straffte Gwen die Schultern und sah Sabin aufmerksam an. Dieses Thema war ihm offenbar sehr wichtig. „Ich höre.“
Mit steifen Bewegungen griff er zur Kühlbox und zog eine weitere Wasserflasche heraus.
„Bezahlung?“, fragte sie lachend. „Ich habe bereits zugestimmt, dir zu helfen. Du brauchst mich nicht zu bezahlen.“
Schweigend öffnete er den Deckel und trank die Flasche in einem Zug leer.
Ihr Lächeln verblasste, als ihr bewusst wurde, wie angespannt er schwieg. „Was ist hier los?“
Er lehnte sich gegen einen Baum und sah überallhin, nur nicht zu ihr. „Wenn die Zeit für die nächste Schlacht gekommen ist, und das wird eher früher als später der Fall sein, möchte ich, dass du hierbleibst, weit weg von den Kämpfen.“
Ja. Genau. Sie musste lachen. Ihre gute Laune war wieder da. „Lustig.“
„Es ist mein Ernst. Ich habe deine Schwestern. Ich brauche dich nicht.“
Aber … das konnte er unmöglich ernst meinen. Oder doch? Dieser getriebene Krieger würde doch jeden gegen die Jäger benutzen und sich nicht mit drei Harpyien zufriedengeben, wenn er vier haben könnte. Richtig?
„Über so etwas würde ich niemals Witze machen“, fügte er hinzu.
Nein, allerdings nicht. In diesem Augenblick hatte sie das Gefühl, tausend von Sabins Dolchen würden sich in ihre Brust bohren, jeder einzelne mit demselben Ziel: ihr Herz zu treffen. Einige von ihnen durchstachen das Organ erfolgreich, denn es pochte und brannte. „Aber du hast gesagt, du brauchst mich. Du hast alles in deiner Macht Stehende getan, um meine Hilfe zu bekommen. Ich habe trainiert. Ich bin besser geworden.“
Er rieb sich mit der Hand übers Gesicht und sah auf einmal erschöpft aus. „Ja, das habe ich gesagt. Und ja, du bist besser geworden.“
„Aber?“
„Verdammt noch mal!“, rief er plötzlich und rammte eine Faust in den Boden. „Ich bin nicht bereit, dich in den Kampf zu schicken.“
„Ich verstehe nicht ganz. Was ist denn los? Was hat deine Meinung so radikal geändert?“ Dazu bedurfte es irgendetwas Größerem, so viel war ihr klar.
„Ich will nur … Verdammt“, wiederholte er. „Was auch immer in Chicago vor sich geht, es wird die Jäger garantiert aufbringen. Du hast ja gesehen, was nach unserer Ägyptenreise passiert ist. Sie werden herkommen. Sie werden versuchen, sich zu rächen. Ich werde mich nicht konzentrieren können, wenn du an meiner Seite kämpfst. Alles klar? Ich werde mir Sorgen machen. Ich werde abgelenkt sein. Und diese Ablenkung wird meine Männer in Gefahr bringen.“
Gwen wusste nicht, woher sie die Kraft nahm, doch sie stand auf. Sie kniff die Augen zusammen. Er würde sich Sorgen machen. Der Frau in ihr gefiel diese Vorstellung. Sehr sogar. Doch die aufblühende Kriegerin, die Harpyie, die sie jetzt sein wollte, hasste den Gedanken und fraß die Freude auf. Sie würde nie wieder feige sein.
„Dann musst du üben, dir keine Sorgen zu machen, weil ich dich nämlich begleiten werde. Das ist mein gutes Recht.“
Nun sprang auch er auf. Seine Nasenflügel bebten, seine Hände waren zu Fäusten geballt. „Und es mein gutes Recht als dein Geliebter – als dein Gemahl –, deinen Feind für dich zu töten.“
„Ich habe nie gesagt, dass du mein Gemahl bist. Also sperr besser die Ohren auf. Ich habe mein ganzes Leben darauf gewartet, etwas zu sein. Mich zu beweisen. Das wirst du mir nicht wegnehmen. Das werde ich nicht zulassen!“
„Nein, das wird er auch nicht“, unterbrach auf einmal Taliyah ihren Streit. Sie stand neben dem Vorsprung, Kaia und Bianka an ihrer Seite. Alle drei strahlten Wut aus. „Niemand hält eine Harpyie auf. Niemand.“
„Großer Fehler, Zweifel“, sagte Kaia. „Zu schade – wir haben gerade angefangen, dich zu mögen.“
„Ich wusste, dass es klug war zu lauschen“, zischte Bianka durch zusammengebissene Zähne. „Du magst wunderbar böse sein, aber du bist immer noch ein Mann, und wir sind nicht so dumm, einem Mann zu vertrauen. Du weißt ja, was passiert ist, als Gwen diesen Fehler das letzte Mal gemacht hat.“
Taliyah fuhr sich mit der Zunge über die geraden weißen Zähne. „Gwen hat dir endlich das gegeben, was du die ganze Zeit wolltest. Und du hast beschlossen, dass du es nicht mehr willst. Typisch.“
„Gwen“, meinte Kaia. „Komm. Wir verlassen die Burg. Wir werden uns allein um die Jäger kümmern.“
„Nein“, widersprach Sabin. „Das werdet ihr nicht tun.“
Eine gefühlte Ewigkeit lang starrte Gwen einfach nur zu ihm hinüber und flehte ihn stumm an, ihren Schwestern zu sagen, dass sie sich irrten. Zweifel fraßen sie auf, Zweifel, die ganz allein ihre waren. Tat er das, um sie zu beschützen, weil ihm etwas an ihr lag? Oder hatte er schlichtweg kein Vertrauen in ihre Fähigkeiten, selbst nach all der harten Arbeit nicht? Oder plante er etwas, worüber sie sich aufregen würde – etwas mit einer Jägerin –, und wollte nicht, dass sie es beobachtete?
Oder hatte sein Dämon die Herrschaft über seinen Verstand erlangt? Falls ja, musste es doch einen Weg geben, ihn zu bekämpfen.
„Sabin“, sagte sie hoffnungsvoll. „Lass uns darüber reden, ob …“
„Ich will, dass du in diesen Wänden bleibst“, unterbrach er sie. „Für immer.“
„Du wirst mich hier zurücklassen, aber meine Schwestern wirst du im Kampf einsetzen, stimmt’s?“
„Zwei von ihnen. Eine wird bei dir bleiben.“
Die Frauen, um die es ging, lachten. „Von wegen“, ertönte es im Chor.
Gwen hob das Kinn und sah ihm fest in die Augen. „Sie werden dir nicht helfen, wenn ich nicht dabei bin. Willst du mich immer noch zurücklassen?“
„Ja.“ Kein Zögern.
Wie konnte er das nur tun? Nachdem er so hart daran gearbeitet hatte, sie und ihre Schwestern für seine Sache zu gewinnen … Ihr stieg die Galle hoch. Sie brannte wie Säure in ihrer Kehle. „Willst du deinen Krieg nicht endlich gewinnen? Denn das könntest du. Mit uns, mit uns allen, wäre es sogar sehr wahrscheinlich.“
Eine Weile schwiegen sie. Das Schweigen fühlte sich für Gwen an, als würde sie währenddessen mit Enttäuschung, Reue und Traurigkeit zwangsernährt – einen widerlichen Löffel nach dem anderen.
„Gwen.“ Diesmal klang Taliyahs Stimme scharf. „Komm.“
Gwen spürte den Verrat bis tief in ihre Seele, als sie sich von Sabin abwandte und ihren Schwestern folgte.