28. KAPITEL
O bwohl Sabin und Gwen weder von Jägern entdeckt noch von der Flughafenkontrolle aufgehalten worden waren – Zweifel hatte sich den Aufenthalt in Sabins Körper redlich verdient und alle Menschen um sie herum daran zweifeln lassen, was sie sahen –, war der Flug in die Staaten im wahrsten Sinne des Wortes hart gewesen. Gwen hatte sich stundenlang an Sabin gekuschelt, und er hatte sie nicht so anfassen können, wie er wollte. Und das würde er auch nicht – nicht vor Zeugen und nicht, solange sie ihm nicht vertraute. Ihr Herz und ihr Vertrauen zu gewinnen war zur wichtigsten Schlacht seines Lebens geworden, und ausnahmsweise wollte er die Sache nicht beschleunigen.
Ich werde sie bekommen.
Als sie aus dem Flugzeug gestiegen waren, stieß es Sabin, der gewohnt war, dass die Menschen ihn ob seiner Größe und seines muskulösen Körpers anstarrten, übel auf, dass die Männer seine Frau anstarrten. Ihr Verlangen war offensichtlich.
Es machte ihn schier wahnsinnig. Deshalb erlaubte er Zweifel auch, in die Köpfe dieser Menschen zu schlüpfen und ihnen Unsicherheiten wegen ihres Aussehens und ihrer Fähigkeiten im Bett einzupflanzen, und deshalb war er auch versucht, einen von Maddox’ berühmten Wutanfällen zu bekommen. Doch es gelang ihm, sich zu beherrschen und sich auf das eigentliche Ziel zu konzentrieren: die sichere Heimkehr seiner Freunde. Allerdings schaffte er das nur, weil Gwen offenbar nicht merkte, wie vielen Männern es den Atem verschlug, dass sie geiferten und abrupt stehen blieben.
Sie fuhren sofort zu dem Haus, in dem die Krieger gewohnt hatten. Ein Haus, das meilenweit von jeglicher Zivilisation entfernt lag. Sie beobachteten es eine Weile, um sich zu vergewissern, dass erstens die Krieger sich nicht vor Ort befanden und zweitens die Jäger nicht da gewesen waren und kleine Willkommensgeschenke hinterlassen hatten. Wenn es nach Sabin ging, hätten allerdings ruhig ein paar Jäger dort sein können. Er war bereit für den Kampf.
Dann hatten er und Gwen sich mit Waffen ausgestattet, sich jeder eine Baseballkappe geschnappt, um die Haare zu verstecken und die Gesichter abzuschirmen, und sich auf den Weg zu dem einzigen Ort gemacht, zu dem Sabins Freunde gegangen sein konnten. Jetzt liefen sie die Straße vor einer Häuserreihe entlang, und er war sich sicher, dass die Trainingseinrichtung nicht mehr weit war. Nur konnte er sie nicht finden. Ein Haus schloss sich lückenlos an das nächste an. Und jedes Mal, wenn er nachzählte, kam er durcheinander.
Gwen blieb stehen, rieb sich den Nacken und starrte in den Himmel. „Es ist hoffnungslos. Wir sind doch am richtigen Ort. Warum finden wir es nicht?“
Er seufzte. Vielleicht war es an der Zeit, größere Geschütze aufzufahren. Falls der Götterkönig ihm ausnahmsweise mal antwortete. „Cronus“, murmelte er, „ein wenig Hilfe wäre wirklich nett. Du willst doch, dass wir gewinnen, oder?“
Ein Moment verstrich, dann noch einer. Nichts geschah.
Er wollte gerade aufgeben, als Gwen plötzlich keuchte. „Sieh mal!“
Sabin folgte ihrem Blick und erschrak fast zu Tode. Dort, auf dem Dach eines Gebäudes zu ihrer Rechten, das er irgendwie immer wieder übersehen hatte, stand der Götterkönig. Das Gebäude schien unter ihm zu beben. Seine weiße Robe schwang um seine Knöchel. Nachdem er Sabin so lange ignoriert hatte, half er ihm jetzt? Einfach so?
„Nun bist du mir was schuldig, Zweifel, und ich treibe meine Außenstände immer ein.“ In der nächsten Sekunde war Cronus verschwunden.
Wenn Sabin an diesem Tag siegte, wäre das für Cronus von großem Nutzen. Eigentlich hätte der Gott froh darüber sein müssen, helfen zu können, und nicht im Gegenzug Forderungen aufstellen sollen.
„Wer war das?“, fragte Gwen. „Wie hat er das gemacht? Und denkst du, mein … Galen ist da drin?“
Sabin erzählte ihr von Cronus. „Galen … keine Ahnung. Aber was, wenn er drin ist? Willst du die Sache immer noch durchziehen?“
„Ja.“ Diesmal hatte sie nicht gezögert. Dafür klang sie nervös.
Verlangte er zu viel von ihr? Sabin hatte keine Eltern. Die Griechen hatten ihn vollständig geformt erschaffen. Da zwischen ihm und den ehemaligen Göttern keine Liebe existiert hatte, konnte er nicht mal erahnen, wie Gwen sich fühlen musste.
„Ich will es wirklich“, bekräftigte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen. „Nach allem, was er getan hat, muss man ihm das Handwerk legen.“
Am Ende hatte ihre Stimme gezittert. In diesem Augenblick beschloss Sabin, einzugreifen, falls Galen sich dazu entschied, an der Schlacht teilzunehmen – was ziemlich unwahrscheinlich war, weil der Mistkerl immer das Weite suchte und seine Lakaien die Schmutzarbeit für sich erledigen ließ. Hoffnung hatte sich schon immer über alle anderen gestellt. Aber Sabin wollte nicht, das Gwen am Ende irgendetwas bereute; er wollte nicht, dass sie ihm später für ihre Taten die Schuld gab. Oder für meine, dachte er, und augenblicklich verspürte er ein unangenehmes Ziehen im Magen. Auch wenn er sich die Frage schon häufiger gestellt hatte, konnte er nicht umhin, es wieder zu tun: Würde sie ihn hassen, wenn er ihren Vater besiegte und einsperrte?
Sabin interessierten nur zwei Dinge: Gwens Sicherheit und die seiner Freunde. Und zwar in dieser Reihenfolge. Sie kam an erster Stelle, jetzt und für alle Zeit. Nichts konnte daran etwas ändern.
„Lass uns die Sache hinter uns bringen“, sagte sie und lief los.
„Bevor wir da reingehen“, sagte er, während er neben ihr ging, „möchte ich dir noch einmal sagen, dass ich dich liebe. Ich liebe dich so sehr, dass es wehtut. Ich wollte nur … dass du das weißt, falls irgendetwas passiert.“
„Es wird aber nichts passieren.“ Sie stolperte, fing sich jedoch. „Aber ich liebe dich auch. Von ganzem Herzen. Es gibt keinen Grund mehr, das zu leugnen. Trotzdem bin ich mir noch immer nicht ganz sicher, was ich von dir denken soll. Ich … weiß es einfach nicht. Zweifel ist inzwischen wie ein Haustier für mich, und das gefällt mir. Wirklich. Es ist nur …“
„Schon gut.“ Sie liebte ihn. Den Göttern sei Dank, sie liebte ihn. Er hielt sie fest, sodass sie stehen blieb, und zog sie in seine Arme. Er hasste ihre Worte zwar, aber er verstand sie auch. Er hätte ihr vertrauen sollen. Von Anfang an hätte er sie an erste Stelle setzen sollen. „Das werden wir alles später klären. Versprochen. Ich möchte nicht, dass jetzt irgendwelche Sorgen deinen Verstand trüben. Wenn du abgelenkt bist, kann dein Feind dich …“
„… töten“, beendete sie den Satz für ihn und lächelte. „Ich habe bei deinem Unterricht gut aufgepasst.“ Zögernd schlang sie die Arme um seine Taille und legte den Kopf an seinen Hals. Ihr Haar fühlte sich auf seiner Haut weich an. „Sei vorsichtig da drin.“
Götter, er betete diese Frau an. Ihre Stärke, ihren Mut, ihren Verstand. „Du auch. Egal, was du tust, bring dich selbst in Sicherheit. Verstehst du?“, fragte er eindringlich. „Ohne dich wäre ich verloren.“
„Versprochen.“ Sie schenkte ihm ein halb amüsiertes, halb angespanntes Lächeln. „Das gehört übrigens zum Harpyien-Code.“
Er küsste sie auf den Scheitel. Danach sah sie ihn an. Ihre Lippen waren so voll und rot, dass er nicht widerstehen konnte. Er presste seinen Mund auf ihren und küsste sie besitzergreifend. Sie hob die Hände, wühlte in seinem Haar und stöhnte.
Er verschluckte das Geräusch, genoss es, ließ sich ganz davon erfüllen. Er hielt sein Leben in den Armen. Sie war alles, was er brauchte. Dann zwang er sich, sie loszulassen. „Komm. Bringen wir die Sache hinter uns, damit wir endlich reden können. Ich schlage vor, du nimmst die Vordertür und ich die Hintertür. Wir machen sämtliche Ausgänge ausfindig und treffen uns dann in der Mitte.“
Nach einem weiteren, diesmal flüchtigen Kuss auf den Mund setzte Sabin sich wieder in Bewegung. Die Sonne schien hell und heiß auf ihn herab. Er sah auf den Boden und hoffte, nicht erkannt zu werden, falls das Gebiet von Kameras überwacht wurde.
Schaffst du das auch?
Ja.
Was ist, wenn du versagst?
Werde ich nicht.
Was ist, wenn Gwen verletzt wird?
Das wird sie nicht. Dafür würde er schon sorgen.
„Etwas mehr Tempo, du Trantüte.“ Eine sanfte Brise streichelte sein Gesicht, als Gwen an ihm vorbeiraste. Ihre Flügel verliehen ihr eine Geschwindigkeit, die er nie und nimmer erreichen würde. Aber das hielt ihn nicht davon ab, es zu versuchen. Er wollte nicht, dass sie in dem Gebäude allein war. Er beschleunigte seine Schritte und rannte zur Gebäuderückseite, wo er auf einen mit Stacheln besetzten Zaun stieß, der bis in den Himmel reichte. Jede einzelne Holzlatte war mit elektrischen Drähten umwickelt worden.
Normalerweise nahm er sich die Zeit, solche Drähte zu deaktivieren. Aber heute konnte er sich diesen Luxus nicht leisten. Er kletterte einfach drauflos. Die Stromschläge, die ihn durchzuckten, hätten einen Menschen sofort getötet. Sie waren schmerzhaft, brachten sein Herz zweimal zum Stillstand und pressten unentwegt die Luft aus seiner Lunge, aber er behielt sein Tempo bei. Höher, immer höher schob er sich hinauf, bis er auf der anderen Seite auf dem Boden landete. Seine Stiefel knallten auf den Beton und erschütterten das Gebäude, dann rannte er auch schon los und griff dabei nach seinen Pistolen.
Es dauerte nicht lange, bis er seine ersten Opfer erreicht hatte. Im Schatten eines Sonnenschirms saßen drei Jäger an einem runden Tisch. Hatte keiner von ihnen die Erschütterung bemerkt? Ihr Pech. Endlich. Die Party konnte beginnen.
„… sich in die Hose gepisst“, sagte einer lachend.
„Ihr hättet sein Gesicht sehen sollen, als ich ihm die Nadeln unter die Nägel geschoben habe. Und als ich seine Hände abgeschnitten habe …“ Noch mehr Gelächter. „Ich hoffe, er schweigt auch weiterhin. Ich hatte in meinem Leben nämlich noch nie so viel Spaß.“
„Dämonen. Genau das haben sie verdient, und noch viel mehr.“
Sabin wurde es schwer ums Herz. Und das, obwohl sein Dämon in ihm tobte. Ich will spielen, sagte Zweifel hämisch.
Viel Spaß.
Das ließ sich der Dämon nicht zweimal sagen. Im Nu schlüpfte er in die Gedanken der Männer.
Die anderen Herren werden ziemlich wütend sein. Sie werden euch holen kommen und büßen lassen. Ich bin mir sicher, dass sie alles, was ihr ihren Brüdern angetan habt, auch euch antun werden – nur tausendmal schlimmer.
Einer der Männer schauderte. „Wir wissen doch, dass die anderen Dämonen kommen werden, um ihre Freunde zu retten, sobald sie sich von ihrem letzten Kampf erholt haben. Vielleicht sollten wir, keine Ahnung, schnell unsere Sachen packen.“
„Ich bin kein Feigling. Ich bleibe hier und mache alles, was nötig ist, um aus unseren Gefangenen Informationen herauszupressen.“
Dann wird man dich schon bald ausnehmen wie einen Fisch.
Jetzt schauderte auch der zweite Sprecher.
„Ah, Jungs. Wartet mal. Mein Beeper hat gerade vibriert. Da wurde ein Alarm ausgelöst. Entweder jemand ist abgehauen, oder wir werden angegriffen.“
Sie sprangen auf. Keiner von ihnen hatte Sabin entdeckt. Schalldämpfer drauf? Ja. Magazin voll? Ja. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hätte er ihre Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, eine höhnische Bemerkung über ihren nahenden Tod gemacht und sich daran erfreut, wie ihnen die Farbe aus dem Gesicht wich. Jetzt schoss er einfach einem nach dem anderen in den Hinterkopf. Sie plumpsten in ihre Stühle, und das, was von ihrer Stirn noch übrig war, fiel mit einem dumpfen Geräusch auf die Tischplatte.
Er lief weiter, bog um eine Ecke. Eine Gruppe Kinder planschte in einem Pool. Einer der Jungs hielt einen Arm ausgestreckt, über dem eine Handvoll Wasser schwebte.
„Bewirf mich mal damit“, forderte ein kleines Mädchen ihn auf. „Mal sehen, ob es meinen Abschirmungszauber durchbrechen kann.“
Lachend warf der Junge das Wasser auf das Mädchen. Kein einziger Tropfen berührte sie.
Sabin hatte schon vermutet, dass sie hier waren, und dennoch erschrak er bei ihrem Anblick. Trotz ihrer ungewöhnlichen Fähigkeiten waren sie doch Kinder. Wie konnten die Jäger sie nur so benutzen? Wie konnten sie sie einer solchen Gefahr aussetzen?
Sabin senkte seine Halbautomatik und hob sein Betäubungsgewehr. Eigentlich scheute er sich vor dem, was gleich geschehen würde. Aber es war die beste – und sicherste – Lösung für alle Beteiligten. Was Gwen wohl gerade machte? War sie drinnen? Verletzte sie die Jäger? Er begann die Kinder ohne Pause mit den Pfeilen zu beschießen. Eines nach dem anderen sank bewusstlos zusammen. Er zog sie schnell aus dem Wasser und legte sie in den Schatten, ohne auch nur für eine Sekunde seine Waffen abzulegen.
Dann, endlich, war er bereit, in das Haus einzudringen. Um Gwen zu helfen.
„Du dreckiges Monstrum! Was hast du getan?“
Sabin wirbelte herum. Ein Jäger zielte auf ihn und drückte ab. Eine Kugel bohrte sich in seine rechte Schulter. Sabin zuckte zusammen und feuerte zwei Schüsse aus seiner Pistole ab. Eine Kugel traf den Jäger in den Hals, die andere in die Brust. Laut keuchend kippte er um. Als sein Schädel beim Aufprall auf den Boden zerbarst, erstarb das Keuchen.
Blutend und gänzlich unbeeindruckt von dem Schmerz stürmte Sabin in das Gebäude, während er das Gewehr wegsteckte und eine zweite Pistole in die Hand nahm. Der Boden war bereits von reglosen Jägern bedeckt. Gwen. Sabins Brust schwoll vor Stolz an. Vielleicht war es falsch von ihm, aber er liebte ihre dunkle Seite. Auf dem Schlachtfeld war sie die pure Magie.
Er folgte dem Pfad der Leichen – unter denen sich nur Erwachsene befanden – durch die kurvigen Flure. Einige der Zimmer waren Schlafsäle mit zahlreichen Etagenbetten, andere Klassenräume. Die Tische waren klein, und an den Wänden hingen Bilder. Jedes zeigte einen Dämon, der gefoltert wurde. Sabin sah auch Schriftzeichen. Eine perfekte Welt ist eine Welt ohne Dämonen. Wenn die Dämonen weg sind, wird es weder Krankheit noch Tod geben. Nichts Böses. Jemanden verloren, den du geliebt hast? Du weißt, wer schuld daran ist.
Oh ja. Die Kinder wurden von Geburt an darauf gedrillt, die Herren zu hassen. Fantastisch! Sabin hatte in seinem Leben schon so einige miese Sachen gemacht, aber nie hatte er einem Unschuldigen Hass antrainiert.
„Bastard!“, hörte er Gwen rufen. Unmittelbar darauf folgte ein schmerzerfülltes Jaulen.
Sabin hastete weiter, folgte dem Geräusch und entdeckte einen Mann, der sich krümmte und in den Schritt fasste. Er wusste nicht, was geschehen war, und dachte auch nicht daran, stehen zu bleiben und zu fragen. Er richtete einfach seine Waffe auf ihn und feuerte drei Schüsse ab. Niemand verletzte seine Gwen.
Gwen wirbelte herum, ihre Krallen blitzten. Ihre winzigen Flügel flatterten wie wild unter ihrem T-Shirt. Der tödliche Glanz in ihrem Blick wurde matter, als sie realisierte, wer vor ihr stand. „Danke.“
„Jederzeit.“
„Ich habe deine Freunde gefunden. Sie sind verletzt, aber sie leben. Ich habe sie befreit, allerdings fehlen zwei: Gideon und Anya.“
Erstens – sie hatte sie schon gefunden und befreit? Heilige Hölle. Sie war schneller und besser, als er geahnt hatte. Zweitens – wo zum Teufel waren die anderen? Eingesperrt? „Anya?“, rief er. „Gideon?“
„Sabin? Sabin, bist du das?“, rief eine Frau vom Ende des Flures. Anya. „Das wird auch langsam mal Zeit. Ich bin hier hinten. Mit einem Wächter.“
Sabin sah Gwen an, und genau in dem Moment liefen drei Männer mit wilden Gesichtsausdrücken ins Zimmer. „Übernimmst du?“, fragte er.
„Klar.“ Sie war bereit für die nächste Herausforderung. „Hol du Anya.“
Er rannte los. Jeden seiner Männer hätte er auch allein gelassen, und Gwen war eine bessere Kämpferin als alle Herren zusammen, deshalb hatte er keinen Zweifel daran, dass sie es schaffen würde. Keinen Zweifel. Die Formulierung brachte ihn zum Lächeln.
Während er lief, steckte er eine Pistole ein und zog ein Messer hervor. Er hatte fast keine Munition mehr, und ein Messer musste man zum Glück nie nachladen. Wo bist du, Anya? Er stürmte durch eine Tür – leer. Mit der Schulter brach er eine andere auf, die Scharniere zerbarsten. Nichts. Drei Zimmer weiter, und er hatte sie. Ihre Schultern waren blutüberströmt, und ihr gegenüber stand ein kleiner Junge, der sie fest im Blick hatte.
Der Junge drehte sich mit entschlossenem Gesichtsausdruck zu Sabin um. Irgendetwas war … seltsam an ihm, so als wäre er nicht dreidimensional.
„Sabin!“ Als Anya zu einer Seite flitzte, folgte der Junge ihr schnell und streckte einen Arm aus.
„Ich muss sie hierbehalten“, sagte er, klang jedoch nicht gerade glücklich dabei.
Langsam steckte Sabin seinen Dolch in die Scheide und griff hinter sich. Er legte die Finger um das Betäubungsgewehr.
„Fass ihn nicht an“, beeilte sich Anya zu sagen, „und pass auf, dass er dich nicht berührt. Sonst gehst du ohne Warnung zu Boden.“
„Anya!“
Sabin erkannte die Stimme von Tod, weshalb er sich nicht umdrehte, als sich von hinten Schritte näherten. Er behielt den Jungen fest im Blick und war trotz Anyas Warnung bereit, sofort auf ihn loszugehen, wenn er der Göttin noch einmal zu nahe kam.
„Luden! Bleib, wo du bist, Baby, aber sag mir, dass es dir gut geht.“ Freude und Sorge spiegelten sich auf Anyas Gesicht. „Ich muss wissen, ob es dir gut geht.“
„Ja, es geht mir gut. Und dir? Oh Götter.“ Lucien stellte sich hinter Sabin und sog scharf die Luft zwischen seinen Zähnen ein. Sabin konnte die Wut, die von ihm ausging, geradezu spüren. „Deine Schultern.“
„Ist nur ein kleiner Kratzer.“ In ihren Worten lag Feuer; ein Racheversprechen.
Die Hand immer noch hinter dem Rücken, reichte Sabin Lucien das Betäubungsgewehr. „Keine Ahnung, ob es irgendetwas ausrichten kann, aber ich überlasse es dir. Gideon ist immer noch verschwunden.“ Wortlos nahm der Krieger die Waffe, und Sabin machte auf dem Absatz kehrt.
Er setzte die Durchsuchung der Zimmer fort. Aus einigen hatte man Gummizellen gemacht. In einem standen Computer und andere elektronische Geräte. Ein anderes war mit genügend Konservendosen vollgestopft, um sich ein Leben lang allein davon zu ernähren. Sabin rannte den nächsten Flur hinunter und rief Gideons Namen. Die Zimmer hier hatten dickere Schlösser und Fingerabdruckscanner. Mit klopfendem Herzen horchte Sabin an jeder Tür, bis er schließlich – den Göttern sei Dank – ein Wimmern vernahm.
Gideon.
Hastig spähte er durch den Türschlitz. Dann machte er sich an die Arbeit. Seine Muskeln waren zum Zerreißen gespannt, seine Knochen sprangen fast aus ihrer Verankerung, und seine Wunden gingen wieder auf, doch er schaffte es, das Metall so weit aufzubiegen, dass er sich durchquetschen konnte. Sogleich fiel ihm die gebrochene und blutüberströmte Gestalt ins Auge, die an einer Krankentrage festgebunden war. Er erlebte ein Dejävu, und ihm wurde schlecht.
Als er die Trage erreichte, kam ihm die Galle hoch. Gideons Augenlider waren so geschwollen, dass es aussah, als lägen Steine darunter. Blutergüsse bedeckten jeden Zentimeter seines nackten Körpers. Viele Knochen waren gebrochen und hatten sich durch seine Haut gebohrt.
Man hatte ihm beide Hände abgehackt.
„Sie wachsen wieder nach. Ich schwöre dir bei den Göttern, dass sie wieder nachwachsen“, flüsterte Sabin, als er an den Fesseln zerrte. Sie waren fest. Zu fest. Sie bestanden aus irgendeinem – göttlichen? – Metall. Er konnte sie nicht mal mit seinem Dolch durchtrennen.
„Schlüssel. Nicht da.“ Gideons Stimme war so schwach, dass Sabin sie kaum hören konnte. Doch der Krieger wies mit dem Kinn auf einen Schrank. Und tatsächlich baumelte dort ein Schlüssel. „Sie haben mich damit nicht … gedemütigt.“
„Geh sparsam mit deinen Kräften um, mein Freund.“ Er sprach mit sanfter Stimme, doch in Wahrheit fraß ihn die Wut von innen auf. Dafür würden diese Dreckschweine bezahlen. Jeder einzelne, und zwar mit einer Strafe, die tausendmal schlimmer wäre. Eigentlich verdiene ich es auch, bestraft zu werden, dachte er. Er hatte geschworen zu verhindern, dass seinem Freund so etwas je wieder zustieß. Und trotzdem waren sie hier und durchlebten die Vergangenheit gewissermaßen ein zweites Mal.
Als er Gideon befreit hatte, nahm Sabin ihn vorsichtig auf den Arm und trug ihn in den Flur. In diesem Augenblick bog gerade Strider um die Ecke. Er war blass, zitterte und stolperte ständig. Als der Krieger das Bündel in Sabins Armen erblickte, schrie er wild auf.
„Ist er …“
„Er lebt.“ Gerade noch.
„Den Göttern sei Dank. Lucien hat Anya. Er konnte den Jungen mit dem Beruhigungsgewehr außer Gefecht setzen. Reyes ist irgendwo hinten. Stefano hat zum Rückzug gerufen, aber rate mal, wer immer noch hier herumlungert.“
Das war Sabin in diesem Moment vollkommen egal. „Hast du Gwen gesehen?“
„Ja. Den Flur runter und dann rechts.“ Strider schluckte. „Deshalb habe ich dich auch gesucht. Ich nehme Gideon. Geh du und hilf deiner Frau.“
Angst mischte sich unter Sabins Wut, als er Gideon vorsichtig weiterreichte. „Ist ihr was passiert?“
„Geh einfach.“
Er rannte los. Mit wilden Armbewegungen unterstützte er die Schritte seiner zittrigen Beine. Dann endlich erreichte er die Kammer, in der er sie zurückgelassen hatte. Sie war immer noch da, aber sie kämpfte nicht mehr gegen menschliche Jäger. Sondern gegen ihren Vater. Und sie war dabei, zu verlieren.
Rate mal, wer immer noch hier herumlungert, hatte Strider gesagt. Mussten dem Bastard ausgerechnet jetzt Eier wachsen? Gwen wand sich, sie keuchte, blutete, stolperte jedes Mal, wenn sie ausschlug, als könnten ihre Beine ihr Gewicht nicht länger tragen. Galen hatte eine lange, schlangenähnliche Peitsche. Nein, nicht schlangenähnlich. Das war eine Schlange. Sie zischelte, und ihre Zähne glänzten giftig. Und jedes Mal, wenn es Gwen gelang, der Schlange den Kopf abzuschlagen, wuchs ein neuer nach.
„Die großen, starken Herren der Unterwelt verlassen sich auf eine Frau. Und mich nennen sie einen Feigling“, presste Galen hervor.
„Ich bin keine gewöhnliche Frau“, fauchte Gwen. „Ich bin eine Harpyie.“
„Als ob das einen Unterschied machen würde.“
„Das sollte es. Ich bin zur Hälfte nämlich auch ein Dämon. Erkennst du mich denn gar nicht?“ Sie ging auf ihn zu und zielte auf sein Herz, obwohl die Schlange auf ihrer Wade herumkaute.
„Sollte ich? Ihre Frauen sehen für mich alle gleich aus. Alles dreckige Huren.“ Er wich gekonnt aus, riss die Peitsche aus ihr heraus und brachte Gwen zum Schreien, bevor er die Peitsche wieder schnalzen ließ. Diesmal schlang sie sich um ihre Taille. Er zog abermals. Wieder schrie sie auf. Sie fiel auf die Knie, und ihr Körper verkrampfte sich.
Sabin konnte das nicht länger mitansehen. Er konnte nicht zulassen, dass dieses Dreckschwein Gwen zerstörte, ganz gleich, wie sehr Gwen es ihm übel nehmen würde, dass er dazwischenging. „Lass sie in Ruhe. Ich bin doch der, den du willst.“ Mit knirschenden Zähnen zog er mehrere Dolche heraus und warf alle bis auf einen auf die Peitsche, die daraufhin von Gwen abließ. Den letzten Dolch warf er auf Galen. Er landete in seinem Bauch. Der Krieger brüllte, stürzte, und Gwen rappelte sich wieder auf.
Sabin sprang vor sie, um sie von dem zusammengekauerten Galen abzuschirmen. „Bist du endlich bereit, es zu tun? Dir die Niederlage einzugestehen?“
Mit finsterem Blick zog sich Galen das Messer aus den Eingeweiden. „Denkst du wirklich, dass du stark genug bist, um mich zu besiegen?“
„Das habe ich doch schon. Wir haben fast deine gesamte Truppe niedergemetzelt.“ Er grinste, als er eine Hand um seine Pistole legte und auf Galen zielte. „Alles, was noch fehlt, ist deine Gefangennahme. Und wie es aussieht, sollte das nicht allzu schwierig werden.“
„Halt. Warte.“ Gwen stellte sich mit unsicheren Schritten vor ihn und straffte die Schultern. Sie wankte, fiel jedoch nicht. Ihr Blick war auf Galen gerichtet. „Ich will nicht, dass sie dich mitnehmen, bevor du nicht gehört hast, was ich zu sagen habe. Auf diesen Tag warte ich schon mein ganzes Leben lang. So lange träume ich schon davon, dir zu sagen, dass ich die Tochter von Tabitha Skyhawk bin. Dass ich siebenundzwanzig Jahre alt bin und dachte, von einem Engel gezeugt worden zu sein.“
Galen lachte, als er aufstand, doch das Lachen konnte nicht überspielen, dass er zusammenfuhr. Seine Wunde blutete jetzt stark. „Sollte mir das irgendetwas sagen?“
„Verrate du es mir! Vor ungefähr achtundzwanzig Jahren hast du mit einer Harpyie geschlafen“, fuhr Gwen fort. „Sie hatte rotes Haar und braune Augen. Sie war verletzt. Du hast sie wieder zusammengeflickt. Dann bist du gegangen und hast gesagt, du würdest zurückkommen.“
Sein süffisantes Grinsen erstarb langsam, als er sie genauer ansah. „Und?“ Zwar klang er nicht so, als würde es ihn kümmern. Aber er versuchte auch nicht zu fliehen, obwohl er den Kampf eindeutig verloren hatte.
Gwen zitterte am ganzen Leib, und Sabins Wut wurde immer düsterer. „Und die Vergangenheit neigt dazu, die Leute einzuholen, nicht wahr? Also, Überraschung! Hier bin ich.“ Sie breitete die Arme aus. „Deine lang verschollene Tochter.“
„Nein.“ Galen schüttelte den Kopf. Wenigstens kehrte seine Belustigung nicht zurück. „Du lügst. Das hätte ichgewusst.“
„Weil du eine Geburtsanzeige bekommen hättest?“ Jetzt war Gwen diejenige, die lachte. Es war ein finsteres Lachen.
„Nein“, wiederholte er. „Das ist unmöglich. Ich bin der Vater von niemandem.“
Hinter ihnen legte sich der Kampf. Die Schreie verstummten, die Grunzlaute verebbten. Keine Schüsse mehr. Keine stampfenden Schritte. Dann erschienen die anderen Herren an der Tür, und jeder einzelne strahlte Hass und Wut aus. Alle waren blutgetränkt. Strider hielt noch immer Gideon auf dem Arm, als hätte er Angst, ihn abzusetzen.
„Na, na, na. Seht mal, wen wir da haben“, murmelte Luden.
„Ohne ein Kind, das dich abschirmt, bist du wohl nicht so tough, hm, Hoffnung?“, fragte Anya lachend.
„Heute Abend werde ich dein schwarzes Herz verspeisen“, versprach Reyes.
Sabin musterte die grimmigen Gesichter seiner Freunde. Diese Krieger waren gefoltert worden, und ihre Rachegelüste waren längst nicht versiegt. Sosehr er auch mit ihnen mitfühlte, er konnte es noch nicht zulassen.
„Galen gehört uns“, sagte Sabin zu ihnen. „Haltet euch zurück. Gwen?“
Gwen wusste, was Sabin von ihr wollte. Erlaubte sie ihm, ihren Vater einzusperren, oder sollte er ihn gehen lassen? Dass er ihr diese Wahl überließ, war der größte Liebesbeweis überhaupt. Wenn sie ihm doch nur hätte geben können, was er wollte.
„Ich … ich weiß nicht“, erwiderte sie mit brüchiger Stimme. Als sie in diese Himmelsaugen schaute, Augen, von denen sie früher andauernd geträumt hatte, war sie abermals von der Erkenntnis erschüttert, dass ihr Vater hier war, direkt vor ihr. Er verkörperte alles, wonach sie sich einst als kleines Mädchen gesehnt hatte und dann wieder als Erwachsene, während sie in dieser Zelle in Ägypten eingesperrt gewesen war. Wie oft hatte sie sich danach gesehnt, von ihm festgehalten und beschützt zu werden?
Er hatte nichts von ihr gewusst. Jetzt, da er von ihr wusste – würde er sie lieben? Würde er wollen, dass sie bei ihm blieb, so wie sie es sich all die Jahre gewünscht hatte?
Galen beäugte die Krieger, die ihn bedrohlich ansahen. „Vielleicht waren meine Worte voreilig. Lass uns reden, du und ich. Unter vier Augen.“ Er machte einen Schritt vor und streckte die Hand nach ihr aus.
Sabin knurrte. Es war ein Geräusch, das eine Bestie von sich gibt, kurz bevor sie angreift. „Du kannst gehen, wenn sie es gestattet. Aber du wirst sie nicht anfassen. Niemals.“
Mehrere Sekunden lang schien es, als wollte Galen widersprechen. Etwas, das die Herren mit Sicherheit täten. Sie wollten diesen Mann in Ketten sehen, und es gefiel ihnen nicht, dass Sabin ihm die Freiheit angeboten hatte.
„Ein Kind von mir würde sich niemals für die Herren der Unterwelt entscheiden.“ Galen hielt seine Hand ausgestreckt und winkte Gwen zu sich. „Komm mit mir. Lass uns gehen und einander kennenlernen.“
Wünschte er sich wirklich, sie kennenzulernen, oder hoffte er bloß, sie als weitere Waffe gegen seine verhassten Feinde einsetzen zu können? Der Verdacht schmerzte, und unwillkürlich packte Gwen Sabins Pistole, deren Lauf auf Galens Kopf gerichtet war. „Egal, was geschieht, ich werde nirgends mit dir hingehen.“
Sabin hasste ihn. Dieser Mann hatte grausame Dinge getan. Und damit würde er auch fortfahren.
„Du würdest deinen eigenen Vater töten?“, fragte Galen und fasste sich ans Herz, als hätte sie tatsächlich seine Gefühle verletzt.
In ihren Gedanken schloss er sie plötzlich in die Arme, hielt sie fest und sagte ihr, wie sehr er sie liebte. Hoffnung. Sie war da, in ihrer Brust, blühte in ihrem ganzen Körper auf. Kam sie von ihm? Oder von ihr selbst?
„Du hast mich so schnell verleugnet“, fauchte sie. „Du sagtest, du hättest keine Kinder.“
„Ich stand wohl unter Schock“, erklärte er geduldig. „Ich musste diese Nachricht erst mal verdauen. Schließlich passiert es einem Mann nicht jeden Tag, dass man ihm das unbezahlbare Geschenk der Vaterschaft macht.“
Ihre Hand zitterte.
„Deine Mutter … Tabitha. Ich erinnere mich an sie. Sie war das Schönste, das ich je gesehen hatte oder habe. Ich wollte vom ersten Moment an mit ihr zusammen sein und zusammenbleiben, doch sie verließ mich. Ich konnte sie nicht wiederfinden. Hätte ich von dir gewusst, hätte ich mir einen Platz in deinem Leben gewünscht.“
Wahrheit oder Lüge? Sie hob das Kinn, obwohl ihr Arm nach unten fiel. Vielleicht steckte ja etwas Gutes in ihm. Vielleicht könnte man ihn retten. Vielleicht auch nicht. Aber … „Geh.“
Er streckte den Arm nach ihr aus.
„Geh“, wiederholte sie, und eine heiße Träne lief ihr über die Wange.
„Tochter …“
„Ich habe gesagt, du sollst gehen!“
Auf einmal begannen seine Flügel, sich zu bewegen, breiteten sich schnell aus, viel zu schnell, flatterten, erzeugten Wind. Ehe irgendjemand auch nur blinzeln konnte, schoss Galen nach oben, durch die Decke und aus dem Gebäude.
Die anderen Krieger konnten sich nicht länger zurückhalten und feuerten zahllose Schüsse auf ihn ab, warfen sogar ihre Messer nach ihm. Irgendwer musste ihn getroffen haben, denn sie hörten ihn aufjaulen. Allerdings war die Verletzung wohl nicht allzu schwer, denn Galen stürzte nicht ab. Gwen hasste sich für die Erleichterung, die sie verspürte.
Schnaufende Atemzüge erfüllten den Raum, und schnell mischten sich gemurmelte Flüche und stampfende Schritte darunter.
„Nicht schon wieder!“ Strider stöhnte, und endlich legte er Gideon ab. „Warum hast du das getan, Sabin? Warum hast du zugelassen, dass sie das tut?“ In der nächsten Sekunde lag der massige Krieger auch schon neben seinem Freund und krümmte sich vor Schmerzen.
Sabins Zögern hatte Galen die Chance gegeben zu fliehen, und Galens Flucht bedeutet für die Herren eine Niederlage. Eine Niederlage für Strider. Alles meine Schuld, dachte Gwen. Sabin hatte recht behalten. Was seinen größten Feind betraf, konnte er ihr nicht trauen. Als es ernst geworden war, hatte sie versagt.
„Es tut mir leid“, sagte Sabin zu seinem Freund.
Ich werde es wiedergutmachen. Irgendwie, irgendwann. Sie wirbelte herum, um ihn zu packen und zu zwingen, sich ihre Entschuldigung anzuhören. Stattdessen keuchte sie erschrocken. „Du blutest ja.“
„Halb so wild. Es wird heilen. Aber wie geht es dir?“ Er musterte sie von Kopf bis Fuß und sah jeden Bluterguss und jeden Schnitt. Unter seinem Auge zuckte ein Muskel. „Ich hätte ihn überwältigen sollen, als sich die Gelegenheit dazu hatte. Er hat dich verletzt.“
„Es wird heilen“, wiederholte sie seine Worte und warf sich dabei in seine Arme. „Es tut mir leid. Es tut mir so unendlich leid. Kannst du mir vergeben?“
Er gab ihr einen Kuss auf den Scheitel. „Ich liebe dich. Es gibt nichts, was ich dir vergeben musste, mein Schatz.“
„Ich habe gekniffen. Ich habe deinen größten Feind ziehen lassen. Ich …“
„Nein, nein, nein. Ich werde nicht zulassen, dass du dir dafür die Schuld gibst. Ich habe ihn gehen lassen.“ Er legte ihr die Hand ums Kinn. „Und jetzt sag mir, was ich hören will. Was ich hören muss.“
„Ich liebe dich auch.“
Er schloss für einen Moment die Augen. Seine Erleichterung war greifbar. „Wir bleiben zusammen.“
„Ja. Wenn du mich willst.“
„Was meinst du damit? Ich habe dir doch gesagt, dass du das Wichtigste in meinem Leben bist.“
„Ich weiß.“ Langsam hob sie die Wimpern, und dann sah sie ihn an und ließ ihren Tränen freien Lauf. „Du hast meinetwegen auf einen Sieg verzichtet. Ich kann nicht glauben, dass du das getan hast.“
„Für dich würde ich auf alles verzichten.“
„Du liebst mich wirklich. Aufrichtig. Du wirst mich nicht irgendwann hassen und auch niemals zulassen, dass der Krieg zwischen uns steht.“
„Ist es das, was dich beschäftigt hat?“ Er schnaubte. „Mein Schatz, das hätte ich dir schon eher sagen können.“
„Aber ich hätte dir nicht geglaubt. Ich dachte, zu gewinnen ist das Wichtigste für dich.“
„Nein. Das bist du.“
Sie strahlte ihn an. Doch ihr Lächeln erstarb, als sie das Gemurmel der anderen Herren hörte und sie sich daran erinnerte, was sie getan hatte. Oder nicht getan hatte. „Ich hätte dir sagen sollen, dass du ihn für immer einsperren sollst. Es tut mir unendlich leid. Man muss ihn aufhalten, ich weiß das. Aber am Ende konnte ich mich einfach nicht überwinden … ich konnte nicht zulassen, dass du … Es tut mir so leid. Jetzt wird er noch mehr schlimme Dinge anrichten.“
„Schon gut. Schon gut. Wir werden damit zurechtkommen. Wir haben ihre Armee ernsthaft geschwächt.“
„Ich bin mir nur nicht sicher, wie viel uns das bringen wird. Galen hat Misstrauen gefunden“, sagte Anya. „Er versucht, den Dämon in den Körper eines anderen zu führen. Er hofft, einen unsterblichen Krieger schaffen zu können, den er steuern kann. Er war ziemlich zuversichtlich, dass es ihm gelingen wird.“
Misstrauen, einst der beste Freund von Sabin. Gwen erinnerte sich daran. Wenn Misstrauen an der Seite ihres Vaters kämpfte, konnte Sabin ihn dann verletzen? Ganz gleich, in wessen Körper er steckte? Ganz gleich, welchen Schaden diese Person anderen zufügte? Sie wollte nicht, dass ihr Mann irgendwann vor der gleichen Entscheidung stand wie sie selbst vor wenigen Minuten.
Sabin strich mit der Hand durch ihr feuchtes Haar. „Ich weiß nicht, was ich tun würde“, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Aber ich verstehe jetzt, wie schwer dir die Entscheidung gefallen sein muss. Wenn der Bastard auf freiem Fuß bleiben muss, damit du glücklich bist, wird er in Freiheit bleiben.“
„He“, murmelten mehrere Krieger hinter ihm.
„Darüber müssen wir aber noch mal reden“, grummelte Reyes, der dabei war, die Taschen der gefallenen Jäger zu durchsuchen.
Gwen seufzte. „Ich werde mich schon noch mit seiner Gefangennahme abfinden, da bin ich ganz sicher. Aber ihn zum ersten Mal zu sehen, das war einfach ein zu großer Schock. Aber keine Sorge. Nächstes Mal werde ich es besser machen.“
„Gut, aber wir müssen uns Gedanken darüber machen, was ich am besten kann.“
„Nein, nicht mehr. Das Beste, was du machen kannst, ist, mich zu lieben.“
„Wohl wahr.“
„Lass uns nach Hause gehen“, sagte sie und drückte ihn fest. „Auf uns warten ein paar Kinder, die wir beruhigen müssen, zwei Artefakte, die es zu finden gilt, Jäger, die wir umbringen müssen, und eine Büchse, die unbedingt zerstört werden will. Natürlich erst, nachdem du so oft mit mir geschlafen hast, dass ich kaum noch Luft kriege.“
EPILOG
A ls sie zurück in der Burg und ihre Wunden verheilt waren, schliefen sie wieder zügellos miteinander. Danach war Gwen viel zu aufgedreht, um schlafen zu können. Sie sprang auf, fing an, auf dem Bett herumzuhüpfen, und forderte Sabin auf, etwas dagegen zu unternehmen. Er lehnte sich gegen das Kopfende und beobachtete sie mit wachem, amüsiertem Blick.
„Tz, tz, tz“, machte sie. „Sieh dich nur an. Sitzt einfach nur da und bist nicht in der Lage, mit einem Mädchen mitzuhalten, das … ahhhhhh!“
Er hatte ihre die Beine weggezogen, und sie plumpste rückwärts auf die Matratze. Grinsend legte er sich auf sie. „Und, wer sieht jetzt alt aus, hm?“
Sie lachte, als sie sich auf ihn drehte und ihr Haar wie ein Vorhang um ihn fiel. „Ich nicht, so viel steht fest.“
„Davon will ich mich erst mal überzeugen.“
Und das tat er.
Lange Zeit später lag sie mit dem Rücken an ihn gekuschelt und bemühte sich, ihre Atmung wieder zu kontrollieren. „Und was passiert als Nächstes, hm?“, fragte sie ihn. Sie war glücklicher denn je. Wer hätte gedacht, dass Gwendolyn die Schüchterne, sich mit dem wildesten Herrn der Unterwelt einließ, sich mitten in einen Krieg warf und daran auch noch Spaß hatte? Sie auf jeden Fall nicht.
Doch im Augenblick war alles ruhig. Alle Liebespaare waren wieder glücklich vereint. Die Frauen (und Legion) suchten neue Familien für die Kinder – sowohl für die, die Gwen in Budapest eingefangen hatte, als auch für jene, die sie von der Hunter High gerettet hatten. Anya hatte sogar ein Lieblingskind: den Jungen, den sie „Geisterjunge“ nannte. Gwen ging davon aus, dass die Göttin ihn in einer liebevollen Familie hier in Buda unterbrachte, um ein Auge auf ihn zu haben.
Torin suchte nach den Leuten, die auf Cronus’ Liste standen, und die anderen Krieger suchten nach Wegen, Galen und Misstrauen zu finden. Gideon hatte sich noch nicht vollständig von seinen Verletzungen erholt, und das brauchte wohl auch noch eine Weile. Legion tauchte in regelmäßigen Abständen auf, und sowohl Paris als auch Aeron verhielten sich sonderbar.
„Was als Nächstes mit uns passiert?“, fragte Sabin. „Na ja, sobald mein Herz wieder zu schlagen anfängt, werde ich unter deinen Körper kriechen und …“
„Nein“, erwiderte sie lachend und verscheuchte seine Hand, als er sie am Bauch kitzelte. „Mit den Jägern.“
Er ließ sich tiefer in die Matratze sinken und hielt Gwen fest umarmt. „Danika denkt, dass Galen versuchen wird, Misstrauen mit der Frau zu vereinen, die mit ihm zusammen auf dem Gemälde zu sehen ist. Wenn es ihm gelingt, wird die nächste Schlacht heftiger alles alle vorherigen. Denn dann werden sie sich nicht mehr damit aufhalten, uns zu verletzen, sondern gezielt auf unsere Köpfe losgehen. Dann werden sie unsere Dämonen befreien wollen, um sie in neue Wirte ihrer Wahl zu führen.“
Obwohl sie so etwas erwartet hatte, erschauerte sie. „Brillant von meinem … von Galen, einen Teil deines geliebten Freundes in den Körper deines Feindes zu setzen.“
„Ja, aber von dem Mann, der dich gezeugt hat, hätte ich auch nicht weniger erwartet. Deine Schwestern haben nicht zufällig schon ihre persönliche Superkraft entdeckt oder wie das auch immer heißt? Falls nämlich doch, könnten wir versuchen, sie zum Bleiben zu überreden.“ Er zeichnete Herzchen auf ihren Rücken. „Ich habe gehört, dass jede Harpyie nach einigen Jahrhunderten eine ganz spezielle Fähigkeit entwickelt. So was wie Zeitreisen. Das käme uns wirklich sehr gelegen.“
„Nur Taliyah. Sie kann ihre Gestalt verändern, so wie ihr Vater.“ Es fiel ihr immer leichter, über ihre Art zu sprechen. Und inzwischen wollte Gwen, dass Sabin mehr über sie erfuhr.
„Umso besser.“ Er seufzte. „Wir müssen diese Artefakte vor Galen finden. Falls er nicht schon längst eines gefunden hat. Diese Schlangenpeitsche – je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr erinnert sie mich an die Kreatur, die den Zwangskäfig bewacht hat. Die Kreatur, die vermutlich jedes der Artefakte bewacht. Als Hüter der Hoffnung hat er wahrscheinlich kein Problem, selbst ein Monster davon zu überzeugen, ihm zu helfen.“
„Wenn er eines hat, stehlen wir es ihm einfach. Ich meine, du hast immerhin eine Harpyie und die Göttin der Anarchie an deiner Seite. Die Vorzeichen stehen also günstig für dich.“
Er lachte leise. „Vielleicht können du und ich den Tempel des Unausgesprochenen besuchen. Danika, das Allsehende Auge, hat uns davon erzählt. Vielleicht wird uns was oder wer auch immer es war dabei helfen, weitere Teile zu finden.“
Gwen fuhr mit dem Finger über seine Brust. Sie liebte den Farbkontrast von ihrer und seiner Haut. „Und wenn wir die Leute von der Liste finden, können wir auch sie davon überzeugen, uns zu helfen. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass Zweifel uns Schwierigkeiten bereitet. Er weiß genau, dass ich ihm sonst den Hals umdrehe.“
„Allerdings.“ Er küsste sie auf die Schläfe. „Ich werde jedenfalls alles tun – innerhalb bestimmter Grenzen –, um diesen Krieg zu gewinnen. Sogar Kriminelle, die einzusperren ich geholfen habe, werde ich davon überzeugen, dass sie mir helfen. Das sollte im Übrigen nicht allzu schwer sein. Schließlich habe ich die wildeste Harpyie von allen davon überzeugt, mir ihr Herz zu schenken.“
„Und würdest du auch alles tun – innerhalb bestimmter Grenzen, natürlich –, damit diese Harpyie glücklich bleibt?“
„Weißt du das denn nicht?“
„Weiß ich das?“ Sie grinste ihn an. „Beweis es mir.“
„Mit Vergnügen.“
Im nächsten Moment lag sie auf dem Rücken und kicherte wie ein Schulmädchen. Ihr Körper und ihre Seele gehörten allein Sabin – genau so, wie es ihr gefiel.
– ENDE –
Die Herren der Unterwelt Glossar und Personenregister
Aeron Hüter des Zorns
Allsehendes Auge göttliches Artefakt, das sowohl in den Himmel als auch in die Hölle zu sehen vermag
Amun Hüter der Geheimnisse
Anya (Halb)Göttin der Anarchie
Ashlyn Darrow Menschenfrau mit übernatürlichen Fähigkeiten
Baden Hüter des Misstrauens (verstorben)
Bianka Skyhawk Harpyie, Schwester von Gwen
Cameo Hüterin des Elends und einzige Kriegerin
Cronus König der Titanen
Danika Ford Menschenfrau
Darla Stefano Ehefrau von Dean Stefano, Sabins Geliebte (verstorben)
Dean Stefano Jäger, rechte Hand von Galen
dim Ouniak die Büchse der Pandora
Galen Hüter der Hoffnung
Gideon Hüter der Lügen
Gilly Menschenfrau, Freundin von Danika
Ginger Ford Danikas Schwester
Griechen ehemalige Herrscher des Olymps, jetzt im Tartaros gefangen
Gwen Skyhawk zur Hälfte Harpyie, zur Hälfte Engel
Herren der Unterwelt die ehemaligen Elitekrieger der griechischen Götter, die jetzt im Exil leben und in ihren Körpern Dämonen beherbergen
Hydra mehrköpfige Schlange mit Giftzähnen
Jäger die sterblichen Erzfeinde der Herren der Unterwelt
Kaia Skyhawk Harpyie, Schwester von Gwen
Kane Hüter der Katastrophe
Köder Menschenfrauen, Komplizinnen der Jäger
Kronos König der Titanen
Legion Lakaiin der Dämonen, Freundin von Aeron
Lucien Hüter des Todes, Anführer der Krieger von Budapest
Maddox Hüter der Gewalt
Pandora Kriegerin, einst Hüterin der dim Ouniak (verstorben)
Paris Hüter der Promiskuität
Reyes Hüter des Schmerzes
Rute Artefakt der Götter, deren Macht unbekannt ist
Sabin Hüter des Zweifels, Anführer der griechischen Krieger
Sienna Blackstone Jägerin
Strider Hüter der Niederlage
Tabitha Skyhawk Harpyie, Mutter von Gwen
Taliyah Skyhawk Harpyie, Schwester von Gwen
Tarnumhang göttliches Artefakt, das seinen Träger unsichtbar zu machen vermag
Tartaros griechischer Gott der Gefangenschaft, außerdem das Gefängnis der Unsterblichen im Olymp
Titanen derzeitige Herrscher über den Olymp
Torin Hüter der Krankheit
Tyson Mensch, Exfreund von Gwen
William Unsterblicher, Freund von Anya
Zeus griechischer Göttervater
Zwangskäfig göttliches Artefakt, das jeden, der in ihm eingesperrt ist, in einen gefügigen Sklaven verwandelt