13. KAPITEL

S abin trug Gwen zu dem großen Bett, das in seinem Zimmer stand, und kuschelte sich an sie. Keiner von beiden sprach ein Wort, als sie durch das einzige Fenster im Zimmer beobachteten, wie der Nachthimmel der Morgendämmerung wich. Sie lagen einfach nur da, nackt, einander umarmend, unbeweglich, angespannt und jeder in seine Gedanken versunken.

Gwen brach schließlich das Schweigen. „Was ist aus deinem Angebot geworden, auf dem Boden zu schlafen?“

„Ich habe die ganze Zeit nicht richtig geschlafen. Theoretisch habe ich mein Versprechen also nicht gebrochen.“

„Stimmt.“

Die Stille hüllte sie von Neuem ein. Doch wieder schliefen sie nicht.

Er hatte damit gerechnet, dass sie schnell ins Reich der Träume gleiten würde. Ihre Augenringe waren dunkler als je zuvor, und er hatte sie gähnen sehen. Doch sie überraschte ihn mal wieder. Ein-, zweimal gab sie vor einzuschlafen, doch sie tat es nicht.

Warum er nicht einschlafen konnte, wusste er genau: Sein Dämon raste wütend durch seinen Kopf. Sein Verlangen, ihr wehzutun, war größer denn je. Er sehnte sich danach, dafür zu sorgen, dass sie alles, was zwischen ihnen geschehen war, infrage stellte. So wie er es bei all den anderen getan hatte. Bei den Frauen, die ihn entweder verlassen oder sich das Leben genommen hatten.

Ich sollte gehen, bevor so etwas geschieht.

In dem Moment, als der Gedanke in ihm Gestalt annahm, stieg auch schon mit aller Macht die Verweigerung in ihm auf. Mit ihren scharfen Krallen klammerte Gwen sich an ihm fest, und auf einmal drängten sich ihm sämtliche Gründe auf, aus denen er hierbleiben sollte. Erstens könnte Paris herkommen, um nach ihm zu sehen, dabei zufällig über Gwen stolpern und sie verführen. Promiskuität konnte einfach nicht anders. Zweitens könnte ein Jäger aus dem Kerker entkommen, sie sich schnappen und abhauen. Und drittens könnte sie anfangen zu bereuen, was sie getan hatten, und aus eigenen Stücken gehen.

Alles äußerst überzeugende Gründe. Aber keiner davon war der eigentliche Grund dafür, dass er sich noch tiefer in die gepolsterte Matratze sinken ließ. Gwen fühlte sich einfach zu weich und warm an, sie roch einfach zu gut, nach Zitrone, sein Lieblingsduft, und stieß immer wieder laszive kleine Seufzer aus, die er liebend gern verschluckt hätte.

Er wollte sie schon wieder. Diesmal wollte er alles von ihr. Wollte in sie eindringen und sich in ihr bewegen, sie mit sanften Stößen verwöhnen, die schließlich härter und fester wurden, in einem nie enden wollenden Rhythmus, der sie aneinander binden würde. Keine Frau hatte ihn jemals so erregt, hatte so herrlich geschmeckt, hatte so perfekt zu seinem Körper gepasst. Und keine hatte ihn je mit solcher Hingabe umklammert, ihn gebissen, sein Blut getrunken und ihn dazu gebracht, nach mehr zu lechzen.

Obwohl er nicht bis zum Äußersten gegangen war, hatten sie beide Erlösung gefunden. Er hatte vermutet, dass ihnen einmal nicht genügen würde, und er hatte recht behalten.

Ihre Schreie zu hören war süßer gewesen als bei allen anderen Frauen. Und diese Haut … Sie war wie eine Droge für seine Augen. Ein Blick, und man brauchte noch einen und noch einen. Wegzusehen war schmerzhaft, und das Verlangen, noch mal hinzuschauen, allgegenwärtig.

Wahrscheinlich hasst sie dich jetzt; wahrscheinlich will sie nichts mehr mit dir zu tun haben. Ich wäre nicht überrascht, wenn sie an ihren menschlichen Lover gedacht hat, als du sie geküsst hast, und deshalb so leidenschaftlich gewesen ist. Hatte sie dir nicht gesagt, dass er in ihren Gedanken gewesen ist? Der Mensch ist eindeutig alles, was sie in ihrem Leben will. Nicht du.

Sabin spannte den Arm an, den er um Gwen gelegt hatte, drückte zu, und sie stöhnte leise vor Schmerzen auf. Sogleich zwang er sich, den Griff wieder zu lockern, und errichtete gedanklich eine Barrikade, um den Dämon zum Schweigen zu bringen. Sie hatte nicht an ihren Exfreund gedacht, und die Betonung lag auf Ex; Sabin war sich ganz sicher, und weder Zweifel noch Gwens frühere Behauptung konnten ihn vom Gegenteil überzeugen. Immerhin hatte Gwen seinen Namen gerufen. Zweifel war mürrisch, das war alles, und in dem verzweifelten Versuch, sein Ziel zu erreichen, holte er aus. Wenigstens war Gwen in der Lage, zwischen dem Dämon und ihrer eigenen Unsicherheit zu unterscheiden.

„Können wir jetzt aufhören, so zu tun, als würden wir uns wie glücklich Verliebte entspannen?“, fragte Gwen unvermittelt.

Er seufzte, nahm einige von ihren Haarsträhnen und ließ sie über seine Brust tanzen. Das kitzelte. Wenn sie doch nur glücklich verliebt wären! Kein Dämon, keine Harpyie, kein Krieg, nur Mann und Frau, die ihre gemeinsame Zeit genossen.

Sabin blinzelte. Solche Gedanken waren ihm völlig fremd. Niemals, nicht in all den Jahrtausenden, hatte er sich gewünscht, etwas anderes zu sein, als er nun mal war: ein unsterblicher Krieger. Mächtig, außergewöhnlich, ewig lebend. Ja, er hatte einen Fehler gemacht, als er den anderen Herren geholfen hatte, die Büchse der Pandora zu entwenden und zu öffnen. Und ja, er war dafür aus dem Himmel verbannt worden, und der Dämon in ihm fügte ihm permanent Leid zu. Aber es war ein Leid, das er akzeptiert und verdient hatte. Ein Leid, das er willig ertrug, weil es ihn stärker machte. Er wurde stärker, als es der Krieger Sabin, der Zeus gedient hatte, je gewesen war. Warum sich nun also wünschen, anders zu sein?

„Ja, wir können damit aufhören. Wir können sogar reden. Und mit reden meine ich natürlich, dass ich die Fragen stelle und du sie beantwortest. Wollen wir gleich loslegen? Du schläfst nie. Warum?“

„Du herrische Nervensäge“, murmelte sie. „Nur zu deiner Information: Ich brauche keinen Schlaf.“ In einer fließenden Bewegung, die auszuführen sie stundenlang gewartet haben musste, drehte sie sich auf den Rücken, sodass sich nur noch ihre Schultern berührten. Ihm war aufgefallen, dass sie normalerweise so viel Körperkontakt wie möglich wollte. Was hatte sich geändert?

Egal, sagte er sich. Nach Darla hatte er sich geschworen, immer einen gehörigen Sicherheitsabstand zu den Frauen zu halten, die er attraktiv fand. Elf Jahre lang war ihm das allein gelungen. Jetzt half Gwen ihm dabei. Und ihn irritierte, dass sie die Initiative ergriff, um sie zurück in die Normalität zu führen.

„Du hast dich geweigert zu essen, obwohl du hungrig warst. Du wolltest nicht duschen, obwohl du schmutzig warst. Ich glaube keine Sekunde lang, dass dein Körper“, dein köstlicher Körper, „sich nicht auszuruhen braucht.“

Sagt er das, weil du aussiehst wie der Tod auf Beinen? Weil du müde, ausgebrannt und ausgezehrt wirkst?

Sabin hörte, wie der negative Gedanke ihn verließ und zu Gwen trieb, doch er konnte ihn nicht mehr aufhalten.

Im nächsten Augenblick ging ein Ruck durch ihren Körper. „Dein Dämon ist wirklich eine penetrante Nervensäge.“

„Ja.“ Und du hältst jetzt besser die Klappe, du Stück Scheiße. Ich habe dich schon einmal gewarnt. Du hast doch nicht etwa die Büchse vergessen?

Auf eine schwere Pause folgte ein gereiztes Knurren.

„Und?“ Sie atmete hörbar aus. „Ist es so?“

Dass sie aussah wie der Tod auf Beinen? Wohl kaum. „Du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe.“ Das war die Wahrheit. Und es kümmerte ihn noch nicht mal, dass er sich anhörte wie Lucien, wenn er seiner Anya den größten Blödsinn vorsäuselte. Blödsinn, bei dem Sabin immer die Augen verdreht hatte.

„Ich glaube dir nicht.“ Gwen drehte sich auf die Seite, schaute zu ihm herüber und schob sich eine Hand unter die Wange. „Das musstest du jetzt ja sagen.“

„Genau, weil ich ja so ein Gentleman bin“, erwiderte er trocken. Er drehte sich ebenfalls auf die Seite, sodass er ihr in die Augen sehen konnte. Ihre exotischen Locken umrahmten ihr Gesicht und die zierlichen Schultern, der Rotton ihres Haars fand sich in ihrer schillernden Haut wieder und verlieh ihrem Körper Frische und Lebendigkeit. Köstlich. „Du denkst, man kann mich als immer höflich bezeichnen, als jemanden, der niemals die Gefühle anderer verletzen will und süße Lügen ausspricht? Weil ich es mag, wenn die Leute um mich herum fügsam sind? Ach ja, und falls ich versehentlich jemanden beleidige – das würde ich natürlich niemals absichtlich tun –, weigere ich mich, mir das, was ich von ihm will, mit Gewalt zu nehmen.“

Sie verzog die sinnlichen Lippen zu einem halben Lächeln – Lippen, die er geküsst, an denen er gesaugt und geknabbert hatte –, und in ihren Augen schien sich ein hypnotischer Wirbel zu bilden. Augen, in denen er fast ertrunken wäre. Beim Anblick ihres Lächelns schoss Sabin sofort das Blut in die Lenden, und er war dankbar für die Decke, die ihn hüftabwärts bedeckte. Eigentlich bin ich doch der Düstere in unserer Beziehung, dachte er finster.

Keine Beziehung, meldete sich sein Selbsterhaltungstrieb zu Wort. Er würde nicht zulassen, dass aus der Sache mehr wurde als ein Geschäft. Er würde sie davon überzeugen, für ihn zu kämpfen, und sie währenddessen vor seinen Freunden beschützen. Und sobald der Krieg vorüber war, würde er aufhören, an sie zu denken und nach ihr zu gieren.

„Vielleicht kümmern dich die Gefühle anderer nicht, aber du willst meine Hilfe und versuchst mich mit Schmeicheleien einzuwickeln.“

„Du wirst mir beim Kampf gegen die Jäger helfen, ob ich dich einwickle oder nicht“, erwiderte er, um einen zuversichtlichen Tonfall bemüht. Denn auch wenn Sabin diese Zuversicht nicht verspürte, musste er dennoch daran glauben. Mit weniger konnte er sich nicht zufriedengeben. „Muss ich dich daran erinnern, dass du mir deine Hilfe bereits zugesagt hast?“

Gelangweilt vom untätigen Herumliegen murmelte der Dämon: Sie fällt ja schon fast in Ohnmacht, wenn sie Blut nur sieht. Dir beim Kämpfen helfen? Wohl kaum!

„Du wirst“, wiederholte er für den Dämon und für sich.

„Ich habe kein Problem damit, dir bei den organisatorischen Dingen unter die Arme zu greifen. Dir zum Beispiel die Internetrecherche oder lästigen Papierkram abzunehmen. Falls du Buch über deine, äh, Morde führst, könnte ich mich ja darum kümmern. Ich könnte sogar diese Artefakte recherchieren, nach denen du suchst. So etwas habe ich vor meiner Entführung auch gemacht. Ich habe in einem Büro gearbeitet, mir Notizen gemacht, Fakten geprüft – so einen Kram halt. Und ich war verdammt gut darin.“

Noch nie hatte er mehr Stolz in einer Stimme gehört. Aber war sie stolz auf ihre Arbeit oder auf ihre Fähigkeit, sich an die normale Welt anzupassen?

„Und hat dir diese Arbeit gefallen?“, wollte er wissen.

„Natürlich.“

„Du warst nicht gelangweilt?“ Die eigentliche Frage war, wie ihre Harpyie mit der Eintönigkeit zurechtgekommen war. Sabin vermutete, dass ihre dunkle Seite der seinen in weiten Teilen glich. Es war eine treibende Kraft, ein Fluch, eine Krankheit, aber dennoch ein Teil von ihr, der sich nach Spannung und Gefahr sehnte. Ein Teil von ihr, der nervös wurde, wenn man ihn zu lange ignorierte.

„Na ja, ein bisschen vielleicht“, räumte sie ein und spielte mit einer ihrer Haarsträhnen.

Er hätte beinah gelacht. Sabin hätte sogar Geld darauf gewettet, dass sie sich zu Tode gelangweilt hatte. „Ich werde dich für deine Hilfe entlohnen“, sagte er, als er sich Anyas Worte über die Harpyien ins Gedächtnis rief. Sie mussten sich ihr Essen entweder stehlen oder es sich verdienen. In jedem Fall brauchte Sabin sie auf dem Schlachtfeld … Er hätte jedoch nichts dagegen, wenn sie auch ein paar Recherchearbeiten für ihn erledigte. Zumindest am Anfang. „Sag, was du willst, und es gehört dir.“

Einige Minuten des Schweigens verstrichen, dann sagte sie: „Ich habe gerade einen Blackout. Ich muss erst darüber nachdenken.“

„Es gibt nichts, das du haben willst?“

„Nein.“

Da sie wusste, wie sehr er den Sieg wollte, hätte sie ihn um alles bitten können – sogar um den Mond und die Sterne. Dennoch fiel ihr offenbar keine einzige Sache ein. Seltsam. Die meisten Leute würden eine astronomische Summe in den Raum werfen und dann darüber verhandeln. Er fragte sich, welche Dinge bei Geschöpfen wie ihr als wertvoll galten. Geld? Geschmeide? „Wie verdienen sich eigentlich deine Schwestern ihren Lebensunterhalt?“

Sie presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen.

Was sollte das? Wollte sie es ihm nicht verraten, oder missfiel ihr, womit sich ihre Schwestern ihr Leben finanzierten? „Als Nutten?“, riet er, nicht nur um sie zu provozieren, sondern auch um zu testen, wie weit er gehen konnte, ehe die Harpyie seinen Kopf auf einem Silbertablett forderte.

Sie seufzte, verpasste ihm eine Ohrfeige und zog dann schnell die Hand zurück, als könnte sie nicht glauben, dass sie so etwas getan hatte. Hatte sie Angst, dass er sie für so etwas Harmloses bestrafen würde? Da kannte sie ihn schlecht.

„Die Ohrfeige hast du dir verdient, ich werde mich also nicht dafür entschuldigen. Sie sind keine Nutten.“

„Mörderinnen?“

Kein Schnaufen. Keine Ohrfeige. Nur ein Zusammenkneifen der Augen. Volltreffer.

„Sie sind Söldnerinnen.“ Keine Frage. Welch unfassbares Glück.

„Ja“, erwiderte sie gepresst. „Genau das.“

Sabin hätte am liebsten gelacht. Wenn eine Harpyie eine gesamte Armee vernichten konnte, was konnten dann vier von ihnen anrichten? Er könnte sie für ihre Dienste bezahlen. Das Geld dazu hatte er, der Preis spielte keine Rolle.

„Ich kann es in deinem Kopf förmlich rattern hören.“ Mit der freien Hand trommelte sie auf das Kopfkissen unter ihrem Kopf. „Aber du solltest wissen, dass sie mich lieben und keinen Job annehmen werden, wenn ich sie bitte, es zu lassen.“

Nun kniff er die Augen zusammen und sah sie forschend an. Sie strahlte etwas Unschuldiges aus, wenn auch mit wütenden Zügen. „Ist das eine Drohung, mein Schatz?“

„Versteh es, wie du willst. Ich will auf keinen Fall, dass sie gegen diese verachtenswerten Jäger kämpfen.“

„Warum nicht? Wie du selbst sagst: Sie sind verachtenswert. Böse. Sie hätten irgendwann einen Weg gefunden, dich unter Drogen zu setzen, dich zu vergewaltigen und dir dein Baby wegzunehmen, wenn ich dich nicht gerettet hätte. Du solltest deine Schwestern anflehen, gegen sie zu kämpfen.“

„Du hast sie bereits für alles büßen lassen, was sie mir und den anderen Frauen angetan haben.“ Ihre Stimme klang kehlig

„Und damit ist die Sache für dich erledigt? Wenn mir jemand wehtut, will ich ihm auch wehtun. Ich will sichergehen, dass es richtig gemacht wird. Hast du denn nicht eine Spur Befriedigung verspürt, als du die Kehle von …“

„Ja, okay. Ja. Aber jemandem anders zu erlauben, es zu tun, muss einfach reichen. Sonst verbringe ich den Rest meines Lebens damit, sie zu jagen und zu töten, und kann gar nicht mehr richtig leben.“ Ihre Nasenflügel bebten, ihre Brust hob und senkte sich. Mit jedem ihrer Atemzüge rutschte die Decke ein Stückchen weiter runter und enthüllte den Ansatz ihrer rosa Brustwarzen. Sabin musste sich zwingen, wegzusehen, damit er das Gespräch nicht beendete.

Wollte sie damit sagen, dass sein Leben leer war? Also, das war es nun wirklich nicht. Es war verdammt noch mal erfüllt. „Besser ein Leben mit Jagen und Töten verbringen, als sich selbst unter der Angst begraben.“

Sie hob die Hand, als wollte sie ihn noch einmal ohrfeigen. Gwen zitterte, die stumme Verärgerung, die sie zuvor ausgestrahlt hatte, war nun glühend heiße Wut. Er hatte sie endlich soweit. Die Harpyie war da, in ihren Augen.

„Tu es“, forderte er sie auf. Es täte ihr gut. Sie sollte sehen, dass sie auf ihn losgehen konnte, ohne dass er starb. Das hoffte er jedenfalls.

Langsam ließ sie die Hand sinken. Das Zittern wurde schwächer. Gwen atmete tief ein, und ihre Augen waren wieder normal. „Das könnte dir so passen. Wenn ich genauso wäre wie du, meine ich. Aber das wird nicht passieren. Weil es nämlich niemand überleben würde. Sogar meine Schwestern nicht.“

Er verstand die Bedeutung ihrer Worte und zog eine Augenbraue hoch. „Du hast sie angegriffen und verletzt, nicht wahr?“

Ein zögerndes Nicken. „Ich war noch ein Kind, und sie haben bloß mit mir gespielt. Sie haben mich aufgezogen, so wie Schwestern das halt machen. Ich habe die Kontrolle verloren und sie ziemlich übel zugerichtet.“

„Hast du nicht gesagt, sie wären stärker als du?“

„Das sind sie auch. Sie haben im Griff, wen sie töten, sogar auch dann, wenn sie durch und durch Harpyie sind. Das ist wahre Stärke.“

Er dachte einen Augenblick nach und fuhr sich dabei immer wieder mit der Hand durchs Haar. „Ich wette, ich wäre deiner Harpyie gewachsen. Ich meine, genauso wie deine Schwestern bin auch ich unsterblich und erhole mich schnell von Verletzungen.“ Ja, er erinnerte sich daran, was sie mit dem Jäger gemacht hatte, und ja, er erinnerte sich auch noch daran, wie flink sie sich bewegt hatte. Aber warum hatte er nicht schon vorher daran gedacht? Er verfügte über brachiale Kräfte, über viele Tausend Jahre Erfahrung und über eine Entschlossenheit, die ihresgleichen suchte. Solange sie ihm nicht den Kopf abhackte, würde er sich wieder erholen.

„Du bist ein Idiot.“ Anscheinend wurde ihr erst wenige Sekunden später klar, was sie gesagt hatte, denn sie erstarrte, als ihre Worte von den Zimmerwänden widerhallten.

„Nichts, was du sagst, wird mich genügend provozieren, damit ich dir wehtue“, versicherte er ihr. Er war hin und her gerissen zwischen Zärtlichkeit und Erbitterung.

Ganz allmählich entspannte sie sich, doch die Atmosphäre zwischen ihnen blieb angespannt.

„Bereust du, was unter der Dusche passiert ist?“, fragte er, teils um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, teils, nun ja, weil seine Neugier gestillt werden wollte. Sie hatte gerade erst sehr deutlich gemacht, dass ihr weder gefiel, wer er war, noch was er tat.

„Ja“, erwiderte sie, und ihre Wangen wurden rot.

Sie hatte keine Sekunde gezögert, und das erschütterte ihn. „Warum? Du hast doch jeden Augenblick genossen.“

Oder etwa nicht?

Er ballte die Hände zu Fäusten, und seine Knochen kamen ihm plötzlich morsch vor. Dieser verdammte Zweifel. Doch Sabin befürchtete, dass die Unsicherheit ausnahmsweise von ihm ausging und der Dämon gerade mal nicht sein Gift versprühte.

Sie wandte hastig den Blick von ihm ab. „Es war okay, schätze ich.“

Ihm blieb der Mund offen stehen. Es war okay. Schätzte sie. Schätzte sie, zum Teufel noch mal! Bei den Göttern, er würde ihr noch eine Demonstration schenken. Er würde sie küssen, diesmal jeden Zentimeter ihres Körpers, genauso wie er es wollte. Er würde seine Zunge zwischen ihren Beinen tanzen lassen, sie beißen, sie streicheln, sie dazu bringen, ihn anzuflehen, in sie einzudringen, und dann, erst dann, würde er es ihr geben. Er würde sie auf den Bauch drehen, ihre Hüfte packen und …

Mit ihr schlafen, wenn er sich nicht schleunigst auf andere Gedanken brachte. Das war falsch, falsch, falsch. Aber trotzdem die Sache wert, dachte er dann. Nichts würde ihn aufhalten, und sie würde jede Minute davon genießen. Er würde sie hart lieben und seinen Samen tief und warm in sie …

Hör nur, wie sie sagt, es sei okay gewesen. Schätzt sie. Sein Dämon lachte, und in diesem Moment respektierte er Gwen sogar.

„Es war mehr als okay, aber diese Diskussion müssen wir wohl auf später verschieben.“ Sabin sprang vom Bett, ohne sich daran zu stören, dass die Bettdecke herunterfiel und er splitterfasernackt vor Gwen stand. Sie hielt sich schnell die Hand vor ihre Augen. Doch wenn er sich nicht irrte, lugte sie durch die Finger hindurch. Er konnte ihren glühenden Blick spüren, das schwelende Verlangen.

Er ging zum Kleiderschrank. Nachdem er sich wie üblich bewaffnet hatte – wenn fünfzehn Messer, die er sich um Knöchel, Handgelenke, Hüfte und auf den Rücken schnallte zu wenig waren, sollte man ihm den Preis für zu vorsichtiges Handeln verleihen –, schlüpfte er in eine Jeans und in ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Wir sehen uns im Jenseits“.

Er nahm eine Jogginghose und ein weißes T-Shirt und warf beides zu Gwen aufs Bett. „Steh auf und zieh dich an.“

„Wieso?“ Sie setzte sich auf, wobei die roten Haare ihren Körper umspielten, und starrte auf die Kleidung.

„Weil du jetzt deine Schwestern anrufen wirst.“ Es war an der Zeit, diese lästige Angelegenheit hinter sich zu bringen. „Anya hat mir etwas über deine Art erzählt, und falls du Angst hast, dass sie versuchen werden, dir etwas anzutun, weil du dich hast entführen lassen – das brauchst du nicht. Ich werde sie daran hindern.“ Er gab ihr keine Zeit zu antworten. „Sobald du den Anruf erledigt hast, gehen wir runter zum Essen. Und du wirst essen, Gwen. Das ist ein Befehl.“ Er würde bei diesem Ich-esse-nur-wenn-ich-die-Sache-gestohlen-habe-Blödsinn nicht mitspielen. Auch wenn er zuvor erwogen hatte, ein paar Sachen herumliegen zu lassen, damit sie das Gefühl hatte, sie gestohlen zu haben – augenblicklich war er nicht in der Stimmung, sie zu beschwichtigen.

„Danach“, fuhr er fort, „muss ich alle Männer zu einem Treffen zusammenrufen, bei dem ich ihnen sagen werde, was ich über die Jäger erfahren habe. Du wirst auch dabei sein. Weil du von jetzt an dazugehörst.“

Sie hob trotzig das Kinn. „Ich bin keiner von deinen Männern, die du herumkommandieren kannst.“

„Wenn du einer von meinen Männern wärst, würde ich mich jetzt ziemlich für meine Gedanken schämen.“ Sein Blick glitt nach unten und verweilte auf ihren Brüsten, ihrem Bauch … zwischen ihren Beinen. Er machte auf dem Absatz kehrt, bevor er am Ende noch tat, was er am liebsten getan hätte, nämlich zu ihr gehen, sich auf sie legen und in sie eindringen. „Und jetzt beeil dich.“

Lange rührte sie sich nicht. Dann hörte er das Rascheln von Stoff, die Federn des Bettes, einen Seufzer. „Okay. Ich bin fertig.“ Sie klang resigniert.

Sabin drehte sich wieder zu ihr um – und hörte auf zu atmen. Wie vorher hingen auch diese Kleidungsstücke sackartig an ihr herunter. Aber jetzt, da sie gewaschen war, schimmerte ihre Haut gegen den weißen Baumwollstoff wie eine Perle. Vor lauter Lust, davon zu probieren, wurde Sabin der Mund wässrig. Ein einziges Mal lecken würde schon reichen. Muss reichen, dachte er wie in Trance, während er bereits auf sie zuging und die Hand nach ihr ausstreckte.

Was zum Teufel machst du da ? Hör sofort auf damit, du Arschloch! Er blieb abrupt stehen und knirschte mit den Zähnen. Noch ein Moment verstrich, ehe er sich gesammelt und daran erinnert hatte, was er von ihr verlangt hatte. Als es ihm endlich gelang, durchquerte Sabin das Zimmer, ging zu seinem Kleiderschrank und griff nach seinem Handy. Er hatte einen Anruf verpasst und eine Kurznachricht erhalten. Er scrollte im Menü nach unten. Der Anruf war von Kane. Und die SMS … auch von Kane. Der Krieger verbrachte den Tag in der Stadt, hatte ihnen jedoch gesagt, sie sollten sich melden, falls sie ihn brauchten. In dem Fall würde er sofort nach Hause kommen.

Es grenzte an ein Wunder, dass Kane sein Telefon zweimal hintereinander hatte benutzen können, ohne es komplett zu zerstören. Nachdem Sabin die Nachricht weggedrückt hatte, warf er das Gerät zu Gwen hinüber. Sie fing es nicht auf.

„Fang an zu wählen“, befahl er ihr.

Mit zitternder Hand hob Gwen das Telefon hoch. Tränen brannten in ihren Augen. Während des gesamten Jahres, das sie in Gefangenschaft verbracht hatte, hatte sie genau das tun wollen. Sie hatte die Stimmen ihrer Schwestern hören müssen. Aber nach wie vor schämte sie sich für das, was ihr widerfahren war, und sie wollte nicht, dass sie es erfuhren.

„Bei uns ist Morgen, in Alaska ist es also mitten in der Nacht“, wandte sie ein. „Vielleicht sollte ich warten.“

Sabin zeigte keine Gnade. „Wähle!“

„Aber …“

„Ich verstehe nicht, warum du zögerst. Du liebst sie. Du willst sie hier bei dir haben. Das war sogar eine Bedingung von dir, ohne die du nicht bei mir geblieben wärst.“

„Ich weiß.“ Sie fuhr mit den Fingern über die leuchtenden Ziffern auf dem kleinen schwarzen Gerät. Ihre Schuldgefühle kehrten zurück. Schuldgefühle, weil sie ihre geliebten Schwestern auf ein Lebenszeichen von sich warten ließ – oder, falls sie gar nicht wussten, dass man sie entführt hatte, weil sie sie auf einen simplen Anruf warten ließ.

„Werden sie dir die Schuld geben? Werden sie dich bestrafen wollen? Ich habe dir schon mal gesagt, dass ich das verhindern werde.“

„Nein.“ Vielleicht. Was sie hingegen sicher wusste, war, dass sie von Sabin verlangen würden, in seinem Krieg für ihn kämpfen zu dürfen, genauso wie er es wollte. Sie würden wollen, dass man ihnen Jäger auf dem Silbertablett servierte, und zwar roh und frisch. Doch wenn ihnen wegen Gwen etwas zustieß … Dafür würde sie sich für immer und ewig und noch viel länger hassen.

„Ruf an“, forderte Sabin sie auf.

Mach es doch selbst, dachte sie. Schwer seufzend wählte sie Biankas Nummer. Bianka war von den dreien die weichherzigste. Und mit weichherzig meinte Gwen, dass Bianka ein Glas Wasser nach der Person werfen würde, die sie kurz zuvor angezündet hatte.

Nach dreimaligem Klingeln meldete sich ihre Schwester. „Ich habe keine Ahnung, wer mich mit dieser Nummer anruft, aber du bewegst besser sofort deinen Arsch …“

„Hey, Bianka.“ Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als sie die vertraute und über alles geliebte Stimme hörte, und die Tränen, die eben noch in ihren Augen gestanden hatten, liefen ihr die Wangen hinunter. „Ich bin’s.“

Eine Pause, dann atmete jemand hörbar ein. „Gwennie? Gwennie, bist du das?“

Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen, als sie Sabins feurigen Blick spürte, der sie förmlich auffraß. Was dachte er jetzt? Als überzeugter Krieger widerte ihn ihre Schwäche – oder besser gesagt: eine weitere Demonstration ihrer Schwäche – bestimmt an. Und das war gut so. Wirklich. Sie hatten sich unter der Dusche geküsst und berührt. Und Gwen war bereit gewesen, weiter zu gehen, mehr zu nehmen, alles zu nehmen, alles zu geben, obwohl er so war, wie er war, und trotz allem, was er zu ihr gesagt hatte; Ankündigungen, die er letztlich wahrmachen würde.

„Hey, bist du noch da? Gwennie? Geht es dir gut? Was ist los?“

„Ja, ich bin’s. Die Einmalige“, antwortete sie endlich.

„Meine Götter, Mädchen. Weißt du eigentlich, wie lange es her ist?“

Zwölf Monate, acht Tage, siebzehn Minuten und neununddreißig Sekunden. „Ich habe da so eine Ahnung. Und, wie geht es dir?“

„Besser, jetzt, da ich von dir gehört habe. Aber ich bin stinksauer. Taliyah wird dir gehörig den Kopf waschen, wenn sie dich findet. Vor einiger Zeit haben wir deine Nummer gewählt, um Hallo zu sagen und dir zu drohen, dass wir dir einen kräftigen Klaps verpassen, wenn du nicht nach Hause kommst. Keine Antwort. Also haben wir Tyson angerufen. Er sagte, du seist ausgezogen, und er wisse nicht, wie man dich erreichen könne. Wir haben auf der ganzen götterverdammten Welt nach dir gesucht, aber ohne Erfolg. Am Ende haben wir Tyson einen persönlichen Besuch abgestattet, und er erzählte uns, dass du gegen deinen Willen mitgenommen worden seist.“

„Habt ihr ihn gefoltert?“ Sie war nicht böse auf ihn und wollte nicht, dass man ihm wehtat. Er hatte sich nur geschützt, und das verstand sie.

„Na ja … ein bisschen vielleicht. War aber nicht unsere Schuld. Er hat kostbare Zeit verschwendet.“

Sie stöhnte; dann rief sie sich Bianka ins Gedächtnis: das schwarze Haar, das sie um ihren Kopf gewickelt trug, bernsteinfarbene leuchtende Augen, rote Lippen, auf denen ein verrücktes Grinsen lag. Gwen musste unwillkürlich lächeln. „Also lebt er noch. Oder?“

„Ich bitte dich! Als wenn wir uns dazu herablassen würden, dieses mickrige Häufchen Elend zu töten. Ich habe nie verstanden, was dir an ihm gefallen hat.“

„Gut. Er hatte keine Ahnung, wo ich war. Jedenfalls nicht so richtig.“

„Wer hat dich denn überhaupt entführt? Und was hast du getan, um sie zu bestrafen, hm, hm? Sie sind tot, stimmt’s? Sag mir, dass sie tot sind, Kleines.“

„Dazu, äh, komme ich später.“ Die Wahrheit. „Ein andermal.“ Wieder die Wahrheit. „Hör zu“, fügte sie hinzu, ehe Bianka weiterfragen konnte. „Im Augenblick bin ich in Budapest, aber ich würde euch drei gern sehen. Ihr fehlt mir.“ Bei den letzten drei Worten brach ihr die Stimme.

„Dann komm nach Hause.“ Bianka hatte noch nie um etwas gebettelt – soweit Gwen wusste –, aber nun klang sie, als stünde sie kurz davor. „Wir wollen dich in unserer Mitte haben. Nicht zu wissen, wo du bist, hat uns fast umgebracht. Mom ist schon vor Monaten ausgezogen, weil wir nicht aufgehört haben, ihr deinetwegen Löcher in den Bauch zu fragen. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen, dass sie dir die kalte Schulter zeigt.“

Und sie hatte ihre Schwestern länger als nötig warten lassen … Von Neuem meldete sich ihr schlechtes Gewissen, stärker als zuvor, und Gwen stürzte ohne Umwege in eine Spirale aus Schuldgefühlen. So was habe ich getan. So was habe ich meinen starken, stolzen Schwestern angetan. „Mom ist mir egal.“ Das stimmte. Zumindest weitgehend. Sie hatten sich noch nie nahegestanden. „Aber ihr werdet zu mir kommen müssen. Ich bin bei den, äh, Herren der Unterwelt, und sie würden euch gern kennenlernen. Wie soll ich sagen, das sind Typen, die …“

„… von Dämonen besessen sind?“, rief Bianka aufgeregt und wurde dann unvermittelt ernst und düster. „Was machst du da? Sind sie diejenigen, die dich entführt haben?“ Ihr Ton war eiskalt.

„Nein! Nein. Sie sind die Guten.“

„Die Guten?“ Sie lachte. „Na ja, was auch immer sie sind, sie sind nicht gerade der Umgang, den du normalerweise pflegst. Außer, deine Persönlichkeit hat sich in den letzten Monaten drastisch verändert.“

Eigentlich nicht. „Also, kommt ihr?“

Kein Zögern. „Wir sind schon auf dem Weg, Kleines.“