26. KAPITEL
G ideon stand am Rande des Wahnsinns. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren und wusste nicht, wie lange sie schon gefangen waren. Einen Tag? Zwei? Ein Jahr? Es gab keinen einzigen Lichtstrahl, an den er sich klammern konnte, nichts, das ihn irgendwie daran erinnerte, dass es da draußen eine Welt gab – eine Welt, in die er schon bald zurückkehren würde, mit fairen Mitteln oder mit unfairen.
Doch zuerst brauchte er etwas Ruhe und Frieden, um sich einen Fluchtplan auszudenken.
Sein Dämon, der normalerweise eher zurückgezogen in seinem Geist lebte, musste erst aufhören, laut in seinem Kopf zu schreien. „Rein, rein, rein“, schrie er und meinte „Raus, raus, raus.“
„Ich brauche Dunkelheit, brauche Dunkelheit“, schluchzte er, was hieß: „Ich brauche Licht, brauche Licht.“ Lüge dachte, er wäre wieder in der Büchse der Pandora eingesperrt – ohne Chance auf ein Entkommen, vergessen und verlassen.
Offenbar dachten die anderen dasselbe. Lucien stöhnte in regelmäßigen Abständen, obwohl Anya die ganze Zeit da war, um ihn zu beruhigen. Reyes war überraschend ruhig. Hin und wieder murmelte er Danikas Namen, um dann über Stunden zu schweigen. Amun knurrte und brummte tief, als bekämpfte er eine Horde Dämonen, die größer war, als Gideon es sich vorstellen konnte. Die Geheimnisse, die wahrscheinlich durch seinen Geist zogen …
Strider, der überlistet worden war und somit ein Psychospiel verloren hatte, schlug kontinuierlich den Kopf gegen eine Wand. Vermutlich kreischte sein Dämon. Und auf jeden Fall durchlitt er Höllenqualen. Gideon hatte erst einmal erlebt, dass der Krieger die Kontrolle verloren hatte. Aber dieses eine Mal hatte sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt. Noch nie hatte er einen erwachsenen Mann erlebt, der sich mit solcher Gewalt krümmte, dem so viele Tränen über das aschfahle Gesicht liefen, in dessen Augen nicht der gewöhnliche Stolz leuchtete, sondern der pure Schmerz. Einen Mann, der die Zähne so fest aufeinanderbiss, dass es zu bluten begann.
Konzentrier dich, Dummkopf. Schon mehrfach hatten sie versucht, die Rollläden aufzudrücken oder die Ziegelwände einzuschlagen. Anya, die Einzige, die noch über ihre Fähigkeiten verfügte – wenn auch nur in abgeschwächter Form –, hatte Wirbelstürme durch das Zimmer geschickt, womit sie jedoch nur die Männer verletzt hatte, das Gebäude jedoch nicht hatte beschädigen können. Alles war bewehrt und nochmals bewehrt worden – durch Zaubersprüche? –, bis ihr Gefängnis anscheinend ausbruchsicher geworden war.
„Ich werde noch mal nach einem Weg nach draußen suchen“, sagte Anya. Sie war die Ruhigste von allen – eine Ironie des Schicksals, da sie im Chaos doch erst richtig aufblühte. Man hörte Kleidung rascheln, Lucien stöhnen, ein Gurren von Anya und dann Schritte.
Gideon hatte sich immer dagegen gesträubt, sich fest an eine Frau zu binden. Er bevorzugte die Abwechslung. Im Augenblick erschien ihm das allerdings dumm. Er hatte niemanden, an den er denken, den er sich herbeiwünschen oder von dem er träumen konnte. Niemanden, der ihm half, sich so zu konzentrieren, wie Reyes es tat. Niemanden, der ihn so beruhigte, wie es bei Lucien funktionierte.
Welche Frau würde schon länger bei dir bleiben?
Wie? War er jetzt von Zweifel besessen?
Rums.
„Tut mir leid“, murmelte Anya. „Wen habe ich getroffen?“
„Ich muss …“ Striders Atem ging flach und rasselnd. „Hilfe. Helft mir. Bitte.“
„Gleich“, versprach Anya und beruhigte ihn ein paar Minuten lang. Noch mehr Schritte.
Peng. Kratz.
„Sieh an, sieh an. Was haben wir denn da?“, erklang eine Stimme aus einem versteckten Lautsprecher, wie Gideon annahm. Eine Stimme, die ihm gänzlich unbekannt war. „Ist heute etwa mein Geburtstag?“
In dem Zimmer wurde es unheimlich still, bis Anya sich hastig einen Weg zurück zu Lucien bahnte, wobei ihre Absätze auf dem gefliesten Boden klapperten.
Licht ging an und vertrieb die Dunkelheit blitzartig. In diesem Augenblick wurde Gideon von einem süßen Frieden erfüllt. Die hellen Scheinwerfer blendeten ihn, und er blinzelte. Dann sah er seine Freunde – zum ersten Mal seit einer Ewigkeit. Lucien lag auf dem Boden. Sein Kopf ruhte im Schoß der Göttin, die ihn beschützend festhielt. Reyes saß gegen die Wand gelehnt da und grinste unheimlich. Strider lag auf der Seite, hielt sich den Bauch und hatte die Knie an die Brust gezogen. Amun war an seiner Seite und streichelte ihm den Kopf, während er selbst wie versteinert wirkte.
Aber keine Spur von den Jägern. Die Fenster waren immer noch verrammelt, die Tür war verriegelt.
„Ich habe mich schon gefragt, wer meinen stillen Alarm ausgelöst hat. Aber ich musste mich erst um eure Freunde in Buda kümmern, bevor ich zurückkommen konnte.“ Ein grausames Lachen ertönte. „Seit Veröffentlichung des Artikels haben wir sehnsüchtig auf euren Besuch gewartet. Dass wir die Existenz dieser Einrichtung geleugnet haben, hatte den erwünschten Effekt, wie ich sehe. Ihr habt keinen Moment lang in Erwägung gezogen, dass das hier vielleicht eine Falle ist.“
Nun, da in seinem Kopf plötzlich Ruhe herrschte, konnte Gideon die Stimme mit seinen Erinnerungen abgleichen, und – Halloo – er kannte sie sehr wohl. Sie gehörte zu Dean Stefano, dem stellvertretenden Kommandeur der Jäger, der sich allein gegenüber dem kranken Wichser Galen verantworten musste. Stefano hasste Sabin, weil er ihm seine Ehefrau Darla gestohlen hatte. Jene Darla wäre noch am Leben, wenn die Herren und das Böse, das in ihnen wohnte, dort wären, wo sie hingehörten: in der Hölle.
Stefanos Boshaftigkeit kannte keine Grenzen. Er hatte Danika, eine Unschuldige, zu ihnen geschickt, um sie auszuspionieren. Er hatte sie dazu benutzen wollen, die Herren einen nach dem anderen einzufangen – und zu foltern. Dass sein Plan letztlich gescheitert war, änderte nichts daran, dass er sie zu ihnen geschickt und dann versucht hatte, die Burg in die Luft zu sprengen – und zwar mit Danika.
Als Gideon die Bedeutung von Stefanos Worten begriff, stieg Angst in ihm auf, dann Wut und Sorge. Ich musste mich um eure Freunde kümmern. Allmählich verstand er. Die Jäger waren in Budapest gewesen. Sie hatten gekämpft – und gewonnen. Sonst wären sie jetzt nicht hier. Sabin hätte sie nie und nimmer entkommen lassen.
Wo war Sabin jetzt? Solange sie die Büchse nicht gefunden hatten, würden die Jäger die Herren nicht töten, weil sie glaubten, ihre Dämonen würden fliehen und ihnen noch mehr Schwierigkeiten bereiten. Hatten sie ihn eingesperrt? Gefoltert? Ihm fiel es schwer aufzustehen, doch Gideon schaffte es. Er wankte zwar, hielt sich jedoch aufrecht. Alle außer Strider taten es ihm gleich, nahmen ihre Waffen und bereiteten sich darauf vor, trotz ihrer Schwäche alles Erforderliche zu tun.
„Komm rein zu uns.“ Reyes winkte herausfordernd. „Aber das traust du dich ja nicht.“
Stefano lachte noch einmal, diesmal offensichtlich amüsiert. „Warum sollte ich auch? Ich kann euch hungern lassen und dabei zusehen, wie ihr dahinsiecht. Ich kann die Luft vergiften und euch beim Leiden zusehen. Und all diese Dinge kann ich tun, ohne eure dreckigen Körper berühren zu müssen.“ Bei den letzten Worten wurde seine Stimme hart, die Silben troffen von seiner Ungeduld.
„Lass die Frau gehen“, rief Lucien. „Sie hat dir nichts getan.“
„Nein, verdammt.“ Anya schüttelte den Kopf, und ihr helles Haar flog wild durch die Luft. „Ich bleibe hier.“
„Wie niedlich“, spöttelte Stefano. „Sie will bei ihrem Dämon bleiben. Tja, ich denke, ich werde sie beseitigen. Nur für dich, Tod. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass dir gefällt, was ich mit ihr vorhabe.“
Knurrend hockte Lucien sich auf den Boden und bereitete sich auf einen Angriff vor. Die halb automatische Waffe hielt er im Anschlag. Er sah brutal und wild aus, jeder Zentimeter seines Körpers war der Tod. „Versuch’s nur.“
In genau dem Moment kam ein ungefähr elfjähriger Junge durch die Wand gelaufen, als wäre er ein Geist. Gideon riss die Augen auf und konnte einfach nicht glauben, was er sah.
„Komm mit“, forderte der Junge Anya auf. „Bitte.“
„Netter Trick.“ Langsam und mit ausgebreiteten Armen drehte sie sich um. „Du hast ein Kind in die Höhle des Löwen geschickt? Feige, findest du nicht auch? Und denkst du wirklich, dein kleines Haustier kann mich zu irgendetwas zwingen, das ich nicht will?“
„Ja, das kann ich“, erwiderte der Junge ernst. „Aber es gibt keinen Grund, Gewalt anzuwenden.“
Lucien schob Anya hinter seinen Rücken. Seine Augen leuchteten rot, und er fletschte die Zähne. Den ansonsten so gelassenen Krieger am Rande des Wahnsinns zu sehen tat beinah weh. Der Mann liebte seine Frau und würde für sie sterben. Er würde eher sterben als zulassen, dass man ihr wehtat.
Mit staksigen Bewegungen stellte Gideon sich neben Tod. Zwar wusste er nicht genau, was er tun sollte, aber eines wusste er definitiv: Er konnte nicht einfach tatenlos zusehen. Aber mal ehrlich: Wer stank hier eigentlich nach dem Bösen? Die Männer in der Falle oder die Männer, die ein Kind in den Krieg geschickt hatten?
Reyes, Strider und Amun stellten sich neben Gideon und bildeten einen Schutzwall vor Anya.
„Komm“, wiederholte der Junge und zog dabei die Augenbrauen hoch. „Bitte. Ich möchte dir nicht wehtun.“
„Ist er nicht wunderbar?“, fragte Stefano lachend. „Ich hoffe wirklich, dass ihr ihn mögt – meine neueste Waffe gegen euch. Eigentlich wollte ich ihn jetzt noch gar nicht einsetzen. Aber dann musstet ihr ja nach Ägypten kommen und meine Brutapparate stehlen. Tja, die werde ich schon wiederfinden und auch wieder benutzen. Vor allem den Brutapparat, den unser Freund Sabin so gernhat.“
„Ich freue mich ja so, von dir zu hören, Stefano“, sagte Gideon und ignorierte die höhnischen Sticheleien. „Das ist erstaunlich …“, krank, „selbst für dich.“
Kurz schwieg Stefano. Dann sagte er: „Ahh, Lüge. Es ist mir eine Freude, wie immer. Wie lästig dein Dämon doch sein muss. Aber ich habe gute Nachrichten für dich: Wir haben einen Weg gefunden, die Dämonen aus euren Körpern zu ziehen und in jemanden anders zu sperren. In jemanden Schwächeres, der ihn zum Wohle der Menschheit gern in sich aufnimmt. Wir haben sogar schon mal den Ernstfall geprobt, bei Sabin. Natürlich, nachdem wir ihn besiegt haben. Er hat wirklich bis aufs Blut gekämpft, der gute Sabin, aber am Ende ist er gefallen. Genau. Wie. Ihr.“
Zum Teufel, nein. Sabin war nicht tot. Sabin konnte nicht tot sein. Er war viel zu kräftig, viel zu entschlossen. Außerdem war es unmöglich, die Dämonen aus ihren Körpern zu ziehen und in andere Körper zu setzen. Das konnte einfach nicht möglich sein.
„Du glaubst mir nicht.“ Wieder lachte Stefano. „Das macht nichts. Du wirst mir spätestens glauben, wenn wir es mit dir machen. Aber erklär mir mal eines: Warum, meinst du, ist dein Freund nicht hier, um euch zu retten?“
Das hatte Gideon sich auch schon gefragt. Lass dich von Stefano nicht provozieren. Erlügt. Später kannst du …
Er rammte eine Faust gegen die Wand zu seiner Rechten. Staubwölkchen stiegen auf. Dann schlug er noch mal zu, und noch mal. Ihm traten die Tränen in die Augen. Er schlug so oft zu, bis seine Knochen brachen und seine Muskeln rissen. Er hatte abertausende Jahre mit Sabin verbracht und war davon ausgegangen, dass noch viele weitere Tausend kämen.
„Arme Lüge. Tz, tz, tz …“, machte Stefano. „Ganz ohne Anführer. Was wirst du jetzt nur machen?“
„Fick dich!“, brüllte Gideon. „Ich werde dich umbringen. Ich werde dich verdammt noch mal umbringen.“ Und diesmal meinte er, was er sagte. Es war die Wahrheit. Etwas, das er wirklich vorhatte; etwas, das er auf Teufel komm raus in die Tat umsetzen würde. „Du wirst durch meine Hand sterben, du Hurensohn!“
Als die hitzigen Worte im Zimmer widerhallten, schrie sein Dämon erst vor Schreck auf – und dann vor Schmerz. Der Schmerz bahnte sich seinen Weg in Gideons Körper und riss ihn Zelle für Zelle auseinander. Es fühlte sich an, als würde jedes einzelne seiner Organe platzen und die Knochen aus den Gelenken springen. In seinem Kopf schlug Lüge wild um sich, warf sich hin, suchte vergebens nach Halt und biss sich in die Zehen, als der Schmerz ihn in den Wahnsinn trieb. Doch das war noch immer nicht genug. Der Dämon rauschte durch seinen restlichen Körper, schrie, zerriss Venen und hinterließ nichts als Säure.
Gideons Knie gaben nach, und er sank zu Boden. Der Dolch, den er in seiner gesunden Hand gehalten hatte, fiel und rutschte außer Reichweite. Er hatte es doch bessergewusst. Wenn er seine wahren Emotionen zeigte, bedeutete das zwangsläufig seinen Untergang. Deshalb hatte er gelernt, sämtliche Gefühle hinter einer dicken Wand aus Sarkasmus zu verstecken. Idiot! Jetzt hat Stefano dich besiegt. Dein Feind ist im Vorteil. Er kann hereinkommen, dich packen, dich schlagen, dir Arme und Beine abschneiden, und es gibt absolut nichts, was du dagegen tun kannst.
„Hasse … dich …“, stieß er hervor. Zum Teufel, er hatte bereits die Wahrheit gesagt. Warum nicht gleich noch mal? Sagen, was er schon so lange hatte sagen wollen. „Ich hasse dich aus tiefstem Herzen.“
Wieder schrie der Dämon. Schrie und schrie und schrie. Wieder zerriss ihn der Schmerz.
Er öffnete den Mund, um noch eine Wahrheit auszusprechen.
„Lü…ügt“, stammelte Amun. „Er … lügt … Sabin lebt.“
Das waren die ersten Worte, die der Hüter der Geheimnisse seit Jahrhunderten sprach. Seine Stimme war rau, als hätte man seine Stimmbänder mit Schmirgelpapier bearbeitet und durch einen Schredder gejagt. Jedes Wort war wie Salz in einer Wunde.
„Das weißt du doch gar nicht“, polterte Stefano. „Du warst ja gar nicht da. Er ist tot, das schwöre ich euch.“
Gideon beruhigte sich. Trotz der Qualen und seines elenden Zustandes beruhigte er sich. Stefano hatte ihn angelogen. Er hatte ihn verdammt noch mal angelogen, und er hatte ihm geglaubt. Gideon, der eine Lüge auf zehn Meilen gegen den Wind riechen konnte. Er hatte im Laufe seines Lebens schon so viele Lügen erzählt, dass ihre Enthüllung für ihn so natürlich war wie das Atmen.
Amun brüllte und fiel neben Gideon auf die Knie. Es schien, als hätten sich bei ihm die Schleusen geöffnet – zuerst war es nur ein Wort, dann ein Satz, und dann rauschte eine Geschichte nach der anderen über die Lippen des Kriegers, und jede wurde mit der Stimme ihres ursprünglichen Erzählers wiedergegeben. Er sprach von Mord, Vergewaltigung und Missbrauch jeglicher Art. Er sprach von Eifersucht, Habgier und Untreue. Von Inzest, Selbstmord und Depression.
Keines der Verbrechen hatte er selbst begangen. Sie stammten von den Menschen, denen er über die Jahre begegnet war, von den Jägern, aus denen er die Erinnerungen gesaugt hatte. Doch die Bilder waren so deutlich, als hätte er es selbst erlebt.
Amun kniff fest die Augen zusammen, rieb sich die Schläfen, krümmte sich, verzog das Gesicht und spie noch mehr von seinem Gift. „Er hat mich nicht mehr geliebt, obwohl ich alles für ihn getan habe.“ Seine Stimme war hoch, wie die einer Frau. Gideon meinte, ein Keuchen über die Lautsprecher zu vernehmen, doch er war sich nicht sicher. „Ich habe für ihn gekocht und geputzt und mit ihm geschlafen, auch wenn ich zu müde war. Und alles, was ihn interessiert hat, war sein heißgeliebter Krieg. Aber Zeit, über unsere Nachbarshure drüberzusteigen, hat er noch gefunden. Er hat mich wie Dreck behandelt!“
„Wie machst du das mit der Stimme? Das ist Darlas Stimme. Wie machst du das, verdammt noch mal?“, rief Stefano. Er erhielt keine Antwort, sondern nur noch mehr von Darlas Geheimnissen. Gideon hatte keine Ahnung, wie Amun davon erfahren hatte. „Bring ihn zum Schweigen. Bring ihn sofort zum Schweigen!“
Der kleine Junge sprang erschrocken auf, bevor er losstürmte. Als Lucien und Reyes ihn packen wollten, rauschten ihre Arme durch ihn hindurch, und beide Krieger schrien vor Schmerzen auf. Ihre Schreie vermischten sich mit denen von Gideon und Amun. Die zwei Männer sanken zu Boden wie Gewichte auf den Meeresgrund, und ihre Körper zuckten, als richtete jemand eine Elektroschockpistole auf sie. Anya hockte sich hinter sie, bereit, nach vorn zu springen, falls der Junge noch einmal versuchen sollte, sie zu berühren.
Ich kann nicht zulassen, dass dieses Kind Amun so verletzt, dachte Gideon und zwang sich aufzustehen. Er war wackelig auf den Beinen, ihm war schwindelig, und die Schmerzen trieben ihm die Tränen in die Augen. Er musste sich vorbeugen und den Magen halten, um sich nicht zu übergeben. Mit der freien Hand schnappte er sich seinen Dolch und hielt ihn ohne Warnung hoch. Nur – wie sollte er jemanden aufhalten, den er nicht ergreifen konnte?
Anya streckte einen Arm in Richtung des Jungen aus, der jetzt neben Amun kniete und kurz davor war, ihm an die Kehle zu fassen. Um was zu tun? Kurz bevor sie ihn berührte, hielt sie inne.
„Fass ihn nicht an!“, schrie sie. Kleine goldene Flammen züngelten von ihren Fingern, doch sie waren matt und kraftlos. „Ich habe sowohl in diesem Reich Macht als auch in dem anderen. Wenn du ihn berührst, wirst du verbrennen. Glaub mir. Ich werde keine Sekunde zögern. Ich habe schon Schlimmeres getan.“
Braune Welpenaugen flehten sie an, ihm zu erlauben, das zu tun, was man ihm befohlen hatte. Das arme Kind. Sein Arm zitterte, und sein Körper schien Reue zu versprühen.
„Wie ich sehe, befinden sich zwei Lügner im Zimmer“, sagte Stefano. „Mir ist egal, über welche Kräfte du verfügst. Dieser Junge ist der Sohn eines Geisterbeschwörers und in der Lage, zwischen den Toten zu leben und zu wandeln. Er kann nach Belieben beide Welten betreten, und nichts und niemand kann ihn berühren, solange er in der anderen Welt ist.“
„Ich schlafe mit einem Geisterbeschwörer, du Idiot. Luden kann selbst zwischen den Toten wandeln.“ Anya hob das Kinn. Ihre blauen Augen tränten und funkelten gleichzeitig. „Außerdem bin ich Anarchie, und ich kenne keine Gnade. Wenn dein Haustier auch nur einen Zentimeter näher kommt, wirst du mich in Aktion erleben.“
Gideon kannte sie gut genug, um zu wissen, wann sie bluffte. Die Frau spielte dem Jäger was vor. Sie wäre nie und nimmer fähig, einem Kind etwas anzutun. Zu Hause streichelte sie ständig Ashlyns dicken Bauch und sprach sanft auf das Baby ein. Tante Anya wird dir beibringen, alles zu stehlen, was dein kleines Herz begehrt, das sagte sie am liebsten.
Gideon streckte einen zitternden Arm aus, sah sie mit glasigen Augen an und legte ihr die Finger ums Handgelenk. „Ich hätte keinen Spaß daran, mich um diese Sache zu kümmern“, brachte er trotz des dicken Kloßes in seinem Hals heraus.
„Ich … Ich … Ja.“ Langsam erstarben die Flammen, und Anya nickte. In ihrem Blick lag Erleichterung. Sie bückte sich, packte Lucien bei den Schultern und zog ihn von dem Jungen weg. Amun plapperte noch immer vor sich hin, und Stefano verlangte immer noch von dem Kind, ihn irgendwie zum Schweigen zu bringen.
Als Gideon auf schwachen Beinen weiterging, kreuzte sein Blick den grimmig entschlossenen des Jungen. „Ich werde nicht dafür sorgen, dass der Krieger den Mund hält.“
Obwohl er eine Lüge aussprach, schien der Junge zu verstehen, was er meinte, und nickte. Während er gegen die Schwäche und den Schmerz kämpfte, die seinen Körper ermatteten, beugte Gideon sich zu Amun hinunter und legte seine Lippen an sein Ohr. Und zum ersten Mal seit Jahrhunderten war er in der Lage, jemanden zu beruhigen, ohne von der Wahrheit Gebrauch zu machen. „Alles ist gut. Wir werden alle lebend hier rauskommen. Shhh, schon gut. Alles wird wieder gut.“
Allmählich wurde Amuns Stimme leiser, bis er nur noch unverständliches Zeug in sich hinein nuschelte. Er hielt sich immer noch den Kopf, hatte die Augen geschlossen und sich wie ein Kind zusammengekauert. In dieser Position schaukelte er vor und zurück.
Jemand schlang den Arm um Gideons Taille, und er drehte sich um. Bei der leichten Bewegung drehte sich ihm der Magen um, und ihm wurde vorübergehend schwarz vor Augen. Erst dann sah er, wer ihn berührte. Anya. Wie lange würde er noch aufrecht stehen können? Wie lange würde er noch so tun können, als ob er in Startposition stünde?
Ihr Erdbeerduft stieg ihm in die Nase, als sie Gideon hochzog und er fast gestürzt wäre. „Ich habe nachgedacht. Ich werde freiwillig mit dem Blag mitgehen“, flüsterte sie. Damit Lucien sie nicht hörte?
„Ja“, erwiderte Gideon, obwohl er den Kopf schüttelte. Wieder verkrampfte sich sein Magen, und von Neuem trübten schwarze Punkte seine Sicht.
Sie umfasste sein Gesicht, zog ihn zu sich, als wollte sie ihn küssen, küsste ihn tatsächlich flüchtig, setzte dann die Lippen an sein Ohr und schnurrte: „Außerhalb dieses Zimmers kehren meine Kräfte womöglich ganz zurück. Dann könnte ich Stefano endlich außer Gefecht setzen.“
Wenn Lucien aufwachte und feststellte, dass Anya nicht da war … Nein, Gideon konnte unmöglich zulassen, dass sein Freund solche Qualen erlitt.
Was Lucien betraf, hatte Gideon seine Schuldgefühle noch nicht ganz abgeschüttelt. Seit dem Tag, an dem die Dämonen in sie gefahren waren, war Lucien für ihn wie ein Bruder gewesen. Er hatte Gideon unter seine Fittiche genommen und ihn beruhigt, wenn er zu wild geworden war. Und trotzdem – als die Zeit gekommen war, sich zwischen Lucien und Sabin zu entscheiden, hatte Gideon Sabin gewählt, weil er davon überzeugt gewesen war, dass die Jäger es verdienten, für das zu sterben, was sie Baden, dem Hüter des Misstrauens, angetan hatten. Lucien aber hatte sich nach Frieden gesehnt. Obwohl Gideon immer noch so dachte wie damals, wusste er, dass Lucien seine Untreue nicht verdient hatte.
„Es ist an der Zeit, deinen Mann zu verlassen“, verkündete Stefano. „Keine Sorge, wenn ich mit dir fertig bin, darfst du zu ihm zurückkehren und ihm alles brühwarm erzählen.“
„Komm“, sagte der Junge und stand auf. Er winkte Anya zu sich herüber. „Wenn es sein muss, werde ich dich zwingen.“
Gideon musste sie aufhalten. Aber wie? Er verlor immer mehr an Kraft, und gleichzeitig nahmen die Schmerzen zu. Es würde nicht mehr lange dauern, und er wäre unfähig, auch nur allein aufzustehen – für ein paar Stunden, vielleicht sogar für mehrere Tage.
Die anderen konnten auch nicht viel mehr ertragen. Ob Stefano seine Truppen reinschicken, die Krieger überwältigen und voneinander trennen würde? Oder musste er sie auch weiterhin gefangen halten, um zu verhindern, dass ihre Kräfte zurückkehrten, so wie Anya vermutete? Es spielte wohl keine Rolle. Es gab nur einen Weg, Zeit zu schinden und einen Fluchtplan zu entwickeln.
„Ich will nicht, dass du mich an ihrer Stelle nimmst. Ich will nicht, dass du mich verhörst“, sagte Gideon. „Stefano, sag dem Jungen, dass er Anya mitnehmen und mich hierlassen soll.“
Es dauerte eine Weile, bis Stefano seine Lüge entlarvte.
„Nein“, brachte Anya keuchend hervor. Und dann, als wäre der Widerspruch nicht genug, packte sie Gideon am Arm und schubste ihn zu Boden. Ein Tritt, zwei, direkt in seinen Magen. Er erbrach sich und hörte erst auf, als sein Magen leer war. „Siehst du? Er ist gar nicht in der Verfassung zu reden. Entweder nimmst du mich mit“, sagte sie entschlossen, „oder niemanden.“
„Bring sie mir beide“, sagte Stefano fröhlich, als hätte er das schon die ganze Zeit vorgehabt.
Nach kurzem Zögern verschwand der Junge in Anyas Körper. Hatte er Besitz von ihr ergriffen? Zumindest verließ sie das Zimmer ohne Widerworte. Heilige Scheiße.
Als der Junge kurze Zeit später zurückkam, hob Gideon abwehrend die Hände. „Ich will nicht allein gehen.“
Das brachte ihm ein erleichtertes Nicken ein.
Gideon rappelte sich auf, warf einen letzten Blick auf seine Freunde und ging hinaus.