23. KAPITEL

E in Kerker. Sabin hatte sie in einen bescheuerten Kerker gesperrt. Schlimmer noch, er hatte sie in einen Kerker neben den Jägern eingesperrt, die stöhnten und weinten und flehten, freigelassen zu werden. Vorher hatte Sabin ihre Flügel zusammengebunden. Und das, nachdem sie ihm ihre Geheimnisse anvertraut hatte!

„Tut mir leid“, hatte er gesagt, und er hatte aufrichtig geklungen. „Aber das ist nur zu deinem Besten.“

Als wäre das jetzt noch wichtig.

Sie hatte gewusst, dass er alles täte, um seinen Krieg zu gewinnen. Sie hatte es gewusst und gehasst und war dennoch so dumm gewesen zu glauben, dass sich seine Gefühle seit ihrer ersten Begegnung geändert hatten. Er war bei ihr geblieben, anstatt mit seinen Freunden nach Chicago zu gehen. Er hatte ihr beigebracht, wie man kämpft. Er hatte sie sogar nach dem Gemahl einer Harpyie ausgefragt, um Himmels willen! Und dann hatte er beschlossen, sie zurückzulassen. Sie hatte nicht gewusst, ob aus Sorge um sie oder ob er sie nicht mitnehmen wollte, weil er nicht an sie und ihre Fähigkeiten glaubte.

Jetzt wusste sie es. Er hatte sich nicht gesorgt. Er hielt ihren Vater für seinen Feind – und sie gleich mit.

War sie seine Feindin?

Wenn er recht hatte und der Mann auf dem Porträt Galen war, der Anführer der Jäger, dann war Galen tatsächlich ihr Vater. Sie hatte Tage, Monate, Jahre damit verbracht, immer dieselbe Gestalt anzustarren: dasselbe fahle Haar undhimmelfarbene Augenpaar, dieselben breiten Schultern und weißen Flügel. Denselben breiten Rücken, dasselbe kantige Kinn. Sie war mit den Fingerspitzen darübergefahren und hatte sich vorgestellt, echte Haut zu spüren. Wie oft hatte sie davon geträumt, dass er käme, um sie zu holen, sie in die Arme nähme und um Vergebung bäte, weil er so lange gebraucht hatte, um sie zu finden, und dann mit ihr in den Himmel flöge? Unzählige Male. Nun war er in der Nähe … Sie könntenzueinanderfinden …

Nein. Es gäbe keine glückliche Wiedervereinigung. Nicht, nachdem sie erfahren hatte, dass er ein Dämon war … dass er Menschen wehtat … dass er Sabin umbringen wollte – Sabin, nach dem sie sich unentwegt verzehrte, der sie allerdings in einen dreckigen Kerker geworfen hatte, als bedeutete sie ihm nicht das Geringste.

Gwen drehte sich im Kreis und lachte erbittert. Der Fußboden war ekelhaft schmutzig. Drei Wände waren aus Stein. Nicht aus leicht zu bearbeitendem Putz, sondern aus glattem Felsgestein. Die vierte Wand bestand aus dicken Metallstäben. Es gab nicht einmal ein Feldbett, auf dem man schlafen konnte, oder einen Stuhl zum Sitzen.

Was er als Letztes gesagt hatte, bevor er sie in diesem Dreckloch zurückgelassen hatte? „Wir reden darüber, wenn ich zurück bin.“

Bestimmt nicht.

Erstens war sie dann nicht mehr da. Zweitens würde sie ihm den Kiefer mit der Faust zertrümmern, sodass er nie mehr sprechen könnte. Und drittens würde sie ihn umbringen. Dabei war ihre Wut verglichen mit der ihrer Harpyie noch gar nichts. Sie kreischte in ihrem Kopf und forderte Vergeltung. Wie hatte Sabin ihr das nur antun können? Wie hatte er ihr dieses neu erwachte Verlangen nach Rache einfach nehmen können? Wie hatte er sie hier einsperren können, nach dem Wahnsinnssex, den sie miteinander gehabt hatten?

Sabins Verrat traf sie viel stärker als das Wissen um die böse Natur ihres Vaters.

„Hurensohn!“, brüllte Bianka und stampfte von einem Fuß auf den anderen. Rings um ihren gestiefelten Fuß spritzten dunkle Sandkörner auf. „Er hatte unsere Flügel zusammengesteckt, bevor ich überhaupt wusste, was los war. Er hätte gar nicht fähig sein sollen, das zu tun. Niemand hätte fähig sein sollen, das zu tun.“

„Ich werde ihn mit seinen eigenen Eingeweiden erhängen.“ Kaia rammte die Faust gegen einen Metallstab. Das Gitter hielt stand, da Kaias Kraft nun nicht mehr größer war als die eines Menschen. „Ich werde ihm die Gliedmaßen abtrennen, Stück für Stück. Ich werde ihn an meine Schlange verfüttern und in ihrem Bauch verrotten lassen.“

„Er gehört mir. Ich werde mich um ihn kümmern.“ Das Traurige war, dass Gwen nicht wollte, dass ihre Schwestern ihn bestraften. Sie wollte es selbst tun. Ja, das zum einen. Zum anderen wollte sie ihn trotz allem – sogar trotz ihres Verlangens, ihn zu verstümmeln und umzubringen – nicht verletzt sehen. Wie dämlich war das denn? Als er sie eingesperrt hatte, hatte sie nicht nur Reue, sondern auch Erleichterung in seinem Blick gelesen. Also verdiente er, was auch immer sie ihm antäte. Er verdiente alles, außer dass sie weich wurde.

Es hatte eine Weile gedauert, bis sie die Gründe für seine Erleichterung gefunden hatte. Doch am Ende war es ihr gelungen. Er hatte, was er wollte: Sie konnte die Burg nicht verlassen und würde nicht gegen die Jäger kämpfen. Das war ihm wichtiger gewesen, als ihr die Freiheit zu schenken, auch wenn sein Feind ihr einst dasselbe angetan hatte.

Auch Gwen schlug mit der Faust gegen die Gitterstäbe. Das Metall quietschte, als es sich verbog. „Ich werde … He, habt ihr das gesehen?“ Erschrocken sah sie sich ihre Faust an. Eine rote von dem Schlag verursachte Linie verlief quer über ihre Finger, aber die Knochen waren heil. Zögernd schlug sie noch einmal gegen das Metall. Wieder verbog es sich. „Oh ja, ich werde meinen süßen Hintern so schnell wie möglich hier herausbefördern.“

Kaia starrte sie an. „Wie ist das möglich? Bei mir hat sich das Gitter keinen Millimeter bewegt!“

„Er hat unsere Flügel beschädigt und uns sämtliche Kräfte geraubt“, erklärte Taliyah. Diese Einsicht musste sie höllisch schmerzen. „Gwens Flügel hat er nur so lange zusammengedrückt, bis sie in diesem Käfig saß. Sie ist genauso stark wie zuvor. Aber ich frage mich, woher er wusste, dass die Flügel unser Schwachpunkt sind, und warum er zu Gwens so sanft war.“

Die ersten Worte ihrer Schwester dämpften Gwens Begeisterung ein wenig. „Es tut mir leid. Es ist meine Schuld. Ich wollte nicht … ich dachte … Es tut mir unendlich leid. Ich habe es ihm verraten. Ich dachte, er könnte mir helfen, dagegen zu trainieren.“

„Er ist deine erste Liebe“, erwiderte Bianka überraschend sanftmütig. „Da ist das verständlich.“

So dankbar Gwen ihrer Schwester für ihre Nachsicht auch war, ihre Worte machten sie doch wütend. „Erste Liebe“ implizierte, dass es noch viele weitere geben würde. Ihr missfiel der Gedanke, mit einem anderen zusammen zu sein. Ihr missfiel der Gedanke, einen anderen zu berühren und zu küssen. Vor allem, weil sie von Sabin noch nicht annähernd genug bekommen hatte. Aber liebte sie ihn?

Unmöglich. Nicht nach dieser Aktion.

„Ihr macht mir keine Vorwürfe?“

Sie bildeten einen Kreis um sie und umarmten sie, und Gwen spürte ihre Liebe zu ihnen wachsen. Wenn sie ehrlich war, erlebte sie gerade einen der besten Familienmomente ihres Lebens. Ihre Schwestern unterstützen sie, obwohl sie die Regeln gebrochen und riesigen Mist gebaut hatte.

Als sie einander losließen, gab Taliyah ihr einen sanften Schubs und wies mit dem Kinn auf die Stäbe. „Mach es noch mal. Fester.“

„Es wird höchste Zeit, dieses Dreckloch zu verlassen.“ Kaia klatschte in die Hände, während sie sprach.

Gwens Herz klopfte wild, als sie gehorchte und wieder und wieder mit der Faust gegen das Metall schlug. Ein Gitterstab verbog sich und knarrte und verbog sich noch mehr.

„Weiter so“, feuerten Kaia und Bianka sie im Chor an. „Gleich hast du’s!“

Indem sie jedes Gramm Wut und Frust in ihre Schläge warf, erhöhte sie die Geschwindigkeit ihrer Schläge, bis sich ihre Faust so schnell bewegte, dass sie sie nur noch unscharf erkennen konnte. Sabin musste davon ausgegangen sein, dass sie vollkommen die Kraft und den Verstand verlor, denn er hatte keine Wache dagelassen. Vielleicht waren jetzt auch alle mitten in der Schlacht, bis auf die Frauen und Torin. Gwen hatte den zurückgezogenen Krieger während ihres Aufenthalts kaum gesehen. Aber Sabin hatte erwähnt, dass er nie die Burg verließ und die Bildschirme in seinem Zimmer seine einzige Verbindung zur Außenwelt waren.

Ob hier auch eine Kamera hing? Vermutlich.

Gwen ließ nicht zu, dass der Gedanke ihre Geschwindigkeit beeinträchtigte. Bum, bum, bum!

Endlich brach der Stab durch, und es klaffte eine Lücke, durch die sie hindurchschlüpfen konnten. Erfolg – und das fühlte sich verdammt gut an. Nacheinander stiegen die Schwestern hinaus. Als die Jäger sie vor der Zelle sahen, klammerten sie sich wie wahnsinnig an die Gitterstäbe.

„Lasst uns raus.“

„Bitte. Zeigt mehr Gnade als wir.“

„Wir sind nicht böse. Sondern sie. Helft uns!“

Die Stimmen waren ihr vertraut. Sie hatte sie ein ganzes Jahr lang gehört – das schlimmste Jahr ihres Lebens. Jäger. Ganz nah. Verletzen. Gwen fühlte, wie ihre Harpyie die Kontrolle übernahm, denn alle Farben außer Rot und Schwarz wichen aus ihrer Sicht. Verletzen. Vernichten. Unter ihrem Shirt flatterten ihre Flügel wie verrückt.

Diese Männer hatten ihr zwölf Monate ihres Lebens geraubt. Sie hatten vor ihren Augen andere Frauen vergewaltigt. Sie waren böse. Sie waren ihre Feinde. Sabins Feinde. Angeführt von ihrem Vater. Einem Mann, der nicht der wohlwollende Engel war, für den sie ihn immer gehalten katte. Sie sollte auck ikn umbringen. Er katte all ikre Träume zerstört. Dock in dem Augenblick, als sie sick vorstellte, ikm an die Gurgel zu geken, sckrak selbst ikre Harpyie zurück. Den eigenen Vater umbringen? Nein … nein.

Kein Wunder, dass Sabin sie eingesperrt katte.

„Hilfe!“

Der Sckrei koke sie zurück in das Hier und Jetzt, zurück zu ikrer Wut. Warum katte Sabin diese Drecksckweine nock nickt umgebrackt? Sie mussten getötet werden. Sie musste sie töten. Ja, töten … töten …

Wie durck eine Wand nakm sie ikre Sckwestern wakr, die immer wieder ikre Arme packten, jedock zu sckwack waren, um sie aufzukalten. Normalerweise versuckte sie immer, sick zurückzukalten. Aber nickt dieses Mal. Nickt mekr. Sie wollte lernen, ikre Harpyie anzunekmen, oder etwa nickt?

Sie scklug gegen die näcksten Gitterstäbe, wieder kämmerten ikre Fäuste drauflos, und dieses Mal lief ikr dabei das Wasser im Mund zusammen. Die Zäkne wurden sckärfer. Die Nägel länger. Ikr Anblick katte die Männer offenbar zu Tode ersckreckt, denn einige wicken von dem Gitter zurück.

Feind … Feind …

Endlick gaben die Stäbe unter ikrer Spezialbekandlung nack, und Gwen platzte mit einem sckrillen Aufsckrei in die Zelle. In der einen Minute standen die Männer nock undsuckten Sckutz, in der näcksten lagen sie reglos auf dem Boden. Mekr … sie wollte mekr …

Ikre Harpyie gurrte zufrieden, als Gwen keuckte und versuckte, wieder zu Atem zu kommen – da drang eine tiefe Männerstimme in ikr Bewusstsein.

„… Aeron und Paris versckwunden. Sabin, Cameo und Kane sind in der Stadt, William und Maddox verstecken die Frauen und verteidigen sie mit ikrem Leben. Deskalb bin ick der Einzige hier, aber ich darf sie nicht berühren, weil ich Krankheit bin. Also tut mir bitte den Gefallen und beruhigt sie, sonst muss ich es tun, und meine Methoden würden euch nicht zusagen.“

Die tiefe Stimme war ihr unbekannt. Gut. Noch jemand, den sie vernichten konnte. Wo war … Ihr Blick irrte in dem Raum umher. Oder vielmehr: in dem Flur. Oh, sieh an. Drei Körper standen noch aufrecht. Es schienen Frauen zu sein. Das hieß lediglich, dass sie süßer schmecken würden.

Mehr. Wild entschlossen, sie genauso zu Fall zu bringen wie die Jäger, stieg sie aus der Zelle.

„Gwen.“

Diese Stimme kannte sie. Zwar nicht aus ihren Albträumen, aber sie konnte Gwen dennoch nicht aufhalten. Sie rammte der Frau ihre Faust an die Schläfe, hörte ein Keuchen und sah, wie die Gestalt nach hinten flog und gegen eine Felswand knallte. Offenbar hatte sich eine Staubwolke gebildet, denn die Partikel stiegen Gwen in die Nase.

„Gwen, Süße, du musst aufhören“, sagte eine andere Stimme. „Du hast das schon einmal gemacht. Erinnerst du dich?“

„Also, eigentlich sogar schon zweimal, aber bei dem Mal, von dem wir gerade sprechen, hast du uns fast umgebracht, und wir mussten dir die Flügel vom Rücken rupfen.“ Eine dritte vertraute Stimme. „Wir haben dich hypnotisiert, um die Erinnerung zu vergraben, aber sie ist immer noch da. Denk zurück, Gwennie. Bianka, wie lautet der verdammte Codesatz, durch den sie sich erinnern kann?“

„Butter-Karamell-Bonbon? Toffee-Schokoladen-Rum? Irgendetwas ähnlich Beklopptes.“

Die Erinnerung kehrte zurück … wurde deutlicher … und deutlicher … Und plötzlich verzogen sich die Schatten, und die Bilder begannen in einem hellen Licht zu leuchten. Sie war acht Jahre alt gewesen. Irgendetwas hatte sie geärgert … eine Cousine hatte ihren Geburtstagskuchen gegessen. Ja. Genau. Sie hatte dabei gelacht und Gwen dafür verspottet, dass sie um ein Haar geschnappt worden wäre, als sie ihn gestohlen hatte.

Die Leine, an der ihre Harpyie gelegen hatte, war gerissen, und das Nächste, an das Gwen sich erinnerte, war, dass die Cousine und ihre Schwestern mit dem Tod gerungen hatten. Sie hatten nur überlebt, weil es Taliyah irgendwie gelungen war, ihr in dem Gerangel die Flügel auszureißen.

Es hatte Wochen gedauert, bis sie nachgewachsen waren. Wochen, die sie ebenfalls aus ihrem Gedächtnis gelöscht hatten. Aus meinem Gedächtnis, kreischte die Harpyie. Aus meinem.

Besitzergreifende Hexe. Der Gedächtnisverlust war besser als die Alternative, sagte ein rationaler Teil ihrer selbst. Die Schuldgefühle hätten mich zerstört.

Sie sind schwach. Dieses Mal können sie dich nicht verletzen. Du kannst…

„Götter, wer hätte gedacht, dass ich mir je diesen dämlichen Dämon herbeiwünschen würde?“

„Torin, alter Kumpel, kannst du Sabin herholen? Er ist der Einzige, der sie beruhigen kann, ohne sie zu verletzen.“

Sabin. Sabin. Ihr Blutrausch nahm an Intensität ab und wurde von Gwens Gewissen verdrängt. Du willst deine Schwestern nicht töten. Du liebst sie doch. Langsam und konzentriert atmete sie ein und aus. Allmählich begannen wieder die Farben in ihrem Verstand zu funkeln, während Schwarz und Rot sich auflösten. Graue Wände, brauner Fußboden. Taliyahs weißes Haar, Kaias rotes und Biankas schwarzes. Ihre Schwestern waren verschrammt, aber lebendig, dem Himmel sei Dank.

Dann wurde es ihr schlagartig bewusst. Du hast es geschafft. Du hast dich beruhigt, ohne jemanden in diesem Raum zu töten. Sie riss die Augen auf, und trotz des Chaos, das sie umgab, platzte Gwen fast vor Freude. Das war ja noch nie passiert. Jedes Mal, wenn sie hier in der Burg die Kontrolle verloren hatte, war Sabin da gewesen und hatte sie beruhigt. Vielleicht brauchte sie vor der Harpyie keine Angst mehr zu haben. Vielleicht könnten sie endlich ein harmonisches Dasein fristen. Auch ohne Sabin.

Der Gedanke brachte sie beinah zu Fall. Sie wollte nicht ohne ihn leben. Sie hatte vorgehabt zu gehen, ja. Aber wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie von ihm erwartet hatte, sie zurückzuholen – oder von sich erwartet hatte, zurückzukehren.

„Alles okay mit dir?“, fragte Bianka, die offensichtlich genauso überrascht war wie sie.

„Ja.“ Sie wirbelte herum, vermied bewusst, in die Zelle der Jäger zu schauen, und fand keine Spur von dem Mann, dessen Stimme sie vernommen hatte. „Wo ist Torin?“

„Er ist nicht hier“, erklärte Kaia. „Er hat über einen Lautsprecher mit uns gesprochen.“

„Dann weiß er, dass wir uns befreit haben“, stellte sie fest, hielt sich den Magen und machte ein paar Schritte zurück. Was, wenn er sie holen kam? Was, wenn sie ihn umbrachte, damit er sie nicht wieder einsperren konnte? Das würde Sabin ihr niemals verzeihen. Ohne jeden Zweifel – und das wollte für jemanden wie ihn schon etwas heißen – würde er denken, dass sie den Jägern half. Moment, du hast doch keine Angst mehr vor deiner Harpyie! Alte Gewohnheiten sind wohl nur schwer abzulegen, dachte Gwen.

„Ja, das weiß er“, sagte Taliyah, als auch schon Torins Echo ertönte: „Ja, das weiß ich.“

Kaia packte Gwen bei den Schultern und zwang sie, stehen zu bleiben. „Er kann nichts machen, weil er uns nicht berühren kann.“

„Na ja, ich könnte euch erschießen“, entgegnete die körperlose Stimme.

Gwen schauderte. Pistolenkugeln waren kein Spaß.

„Kommt, wir holen Ashlyn und Danika“, schlug Kaia vor, die sich weder von ihrem Publikum noch von Torins Drohung beeindrucken ließ.

„Torin hat gesagt, Maddox und William passen auf sie auf“, erinnerte Bianka sie. „Also nehmen wir sie auch mit.“

Obwohl noch immer nervöse Energie durch Gwens Körper rauschte, gefror ihr bei diesen Worten das Blut in den Adern. „Wieso sollten wir das tun?“ Die Mädchen waren niedlich und nett und verdienten es nicht, dass man ihnen wehtat.

„Rache. Und jetzt komm.“ Bianka machte auf dem Absatz kehrt und stapfte die Stufen in Richtung Haupthaus hoch.

„Das verstehe ich nicht“, rief Gwen mit zitternder Stimme. „Rache wofür?“

Kaia ließ sie los und wandte sich ebenfalls zum Gehen. „Sabin hat unsere Flügel beschädigt, deshalb werden wir jetzt seine kostbare Armee beschädigen. Wenn die anderen Krieger zurückkehren und feststellen, dass die Frauen und ihre zwei Freunde verschwunden sind, werden sie ausflippen.“

Nein, dachte sie. Nein. „Ich habe es euch schon einmal gesagt. Sabin gehört mir. Ich werde mich um ihn kümmern.“

Sowohl Kaia als auch Taliyah ignorierten sie und folgten Bianka.

„Keine Sorge. Wir mögen zwar geschwächt sein, aber wofür gibt es denn Pistolen?“, entgegnete Kaia und grinste über die Schulter in die Richtung, in der sie Torins Kamera vermutete. „Stimmt’s Tor-Tor?“

„Das werde ich nicht zulassen“, erwiderte er mit eisenharter Stimme.

„Pass bloß auf.“ Taliyahs Stimme war eiskalt. In diesem Moment gaben die beiden ein gutes Paar ab. Keiner von ihnen war bereit nachzugeben.

Gwen sah ihren Schwestern nach, als sie über die oberen Stufen verschwanden. Um die unschuldigen Frauen zu fangen und sich an ihrem Mann zu rächen. Na ja, eigentlich war Sabin ja gar nicht ihr Mann. Nicht mehr. Aber Gwen war klar, dass sie eine Entscheidung treffen musste. Sie konnte entweder zulassen, dass die Dinge ihren Lauf nahmen, oder ihre Schwestern aufhalten – wobei sie riskierte, sie zu verletzen – und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.

„Gwen“, meldete sich Torin zu Wort und riss sie aus den Gedanken. „Du darfst nicht zulassen, dass sie das tun.“

„Aber ich liebe sie.“ Sie waren immer für sie da gewesen. Sie hatten ihr so einfach vergeben, dass sie ihre Geheimnisse ausgeplaudert hatte. Sie hatten sogar versucht, sie vor ihren eigenen Erinnerungen zu beschützen. Das zu tun …

„Die Männer werden diese Frauen bis aufs Blut verteidigen. Und falls deine Schwestern es schaffen sollten, sie zu besiegen – und das ist wirklich ein großes ‚Falls‘, denn immerhin sind sie nicht im Vollbesitz ihrer körperlichen Fähigkeiten –, würde das Krieg zwischen den Herren und den Harpyien bedeuten.“

Ja, das würde es.

„Es würde die Krieger spalten, denn ich vermute, dass Sabin sich für dich entscheiden würde. Und das wiederum würde uns zur leichten Beute für die Jäger machen. Dann hätten sie einen großen Vorteil. Falls sie den nicht ohnehin schon längst haben. Ich versuche schon den ganzen Tag vergeblich, Lucien zu erreichen. Und Anya, Strider oder irgendeinen der anderen, die nach Chicago gereist sind, kann ich auch nicht kontaktieren. Das passt so gar nicht zu ihnen, und ich fürchte, ihnen ist irgendetwas zugestoßen. Sabin muss unbedingt nach ihnen sehen, aber er sitzt hier fest, weil er kämpfen muss.“

Was ihr erster Gedanke war? Sie hoffte, dass es den Herren in Chicago gut ging. Und ihr zweiter? Dass Sabin sie auswählte? Unwahrscheinlich. „Er hätte meine Hilfe haben können, aber er vertraut mir nicht.“

„Doch, das tut er. Er hat es nur als Ausrede benutzt, um dich zu beschützen. Das weiß sogar ich, obwohl ich nicht besonders eng mit ihm befreundet bin.“ Eine schwere Pause, knisternder Atem. „Also, du solltest dich auf jeden Fall schnell entscheiden, denn deine Schwestern haben sich tatsächlich Schusswaffen geschnappt und nähern sich ihren Zielobjekten.

Sabin duckte sich im Schatten. Kane war links von ihm, Cameo rechts; sie waren mit genügend Waffen beladen, um ein kleines Land zu vernichten. Nur traurigerweise war das für die bevorstehende Schlacht wahrscheinlich noch immer nicht genug.

Die Jäger waren überall. Sie kamen aus Geschäften, schlenderten die Gehwege entlang, saßen vor den Cafes und aßen. Wie ein Schwärm Fliegen summten sie durch die Gegend und ärgerten Sabin unsäglich.

Er sah harmlos wirkende Frauen, die sich allein durch ihre weite Kleidung verrieten und Messer und Pistolen bei sich trugen. Große, muskulöse Männer, die aussahen, als kämen sie direkt aus einer Schlacht und wären scharf auf die nächste, standen auf den Dächern der Gebäude und blickten auf das Treiben in der Stadt hinab. Außerdem musste Sabin bestürzt feststellen, dass neben ihnen auch Kinder zwischen acht und achtzehn Jahren durch die Straßen schlenderten. Einen der Teenager hatte Sabin bereits durch eine Wand gehen sehen. Er war einfach hindurchgegangen, als wäre sie gar nicht da.

Was hatten die anderen wohl für Fähigkeiten?

Er war ihnen zahlenmäßig weit unterlegen. Und so verdorben er auch war, er wusste, dass er die Kinder nicht verletzen würde. Wahrscheinlich hatten die Jäger genau darauf gesetzt. Jetzt könnte ich gut eine Harpyie gebrauchen.

Er umklammerte seine Pistolen so fest, dass beinah seine Knochen brachen. Hör auf, darüber nachzudenken. Er beobachtete die Szene nun schon seit einer Weile und versuchte sich einen Plan zurechtzulegen. Doch statt mächtig, fühlte er sich hilfloser denn je. Er wusste einfach nicht, was sie tun sollten.

Am schlimmsten war, dass er Gwen in der Burg eingesperrt hatte – er dachte also doch darüber nach. Zu Hause erwartete ihn also eine weitere Schlacht. Wie dumm. Er hatte zugelassen, dass seine Sorge um Gwen seinen gesunden Menschenverstand außer Kraft gesetzt hatte. Das war halt die Gefahr, wenn man einer Frau gegenüber weich wurde. Gefühle und Gedankengänge rangen miteinander und ließen einen dumm handeln. Aber er konnte nicht zu ihr zurückgehen, sich entschuldigen und sie um ihre Unterstützung bitten. Er hatte ihren Schwestern wehgetan. So loyal und liebevoll, wie sie miteinander umgingen, wäre Gwen niemals fähig, ihm zu vergeben.

Wieder und wieder versuchte er sich einzureden, dass es so besser war. Dass er die Jäger auch schon vor ihr bekämpft und besiegt hatte und dass er sie auch nach ihr bekämpfen und besiegen konnte. Außerdem war sie ja mit Galen verwandt. Sabin konnte nicht mehr auf Gwens Beweggründe setzen. Er konnte nicht glauben, dass sie ihm half und ihrer Familie nicht.

Gwen könnte deine Familie sein. Bei dem unerwarteten Gedanken verfinsterte sich sein Blick, und er wurde noch finsterer, als Zweifel das Wort ergriff.

Du verdienst sie nicht. Jetzt nicht mehr. Vielleicht nicht mal vorher. Außerdem würde sie dich sowieso nicht wollen, also steht sie überhaupt nicht zur Debatte.

„Klappe“, murmelte er.

Kane warf ihm einen kurzen Blick zu. „Macht dein Dämon Probleme?“

„Andauernd.“

„Und, wie gehen wir mit der aktuellen Situation um? Wir sind nur zu dritt.“

„Die Vorzeichen standen schon schlechter für uns“, meinte Cameo, und Sabin zuckte zusammen. Das tat er immer, wenn er ihre Stimme hörte. Auch wenn es ihn dieses Mal aus irgendwelchen Gründen nicht so mitnahm wie sonst. Vielleicht, weil es ihm ohnehin schlecht ging. Wie hatte er Gwen das nur antun können?

Ich wollte sie nur beschützen.

Tja, du hast versagt.

„Nein, standen sie nicht“, erwiderte er. „Denn dieses Mal müssen wir dafür sorgen, dass während des Kampfes keine Kinder zu Schaden kommen.“

Ihre Finger krümmten sich um den Abzug ihrer Pistole. „Aber wir müssen irgendetwas unternehmen. Wir können sie nicht frei herumlaufen lassen.“

Sabin konzentrierte sich wieder auf den Tumult. Genauso wuselig wie gefährlich. Diese Kinder … Mist. Sie machten alles komplizierter. Zeit für eine Entscheidung. „Okay. Der Plan ist folgender: Wir teilen uns auf, gehen in verschiedene Richtungen, bleiben im Schatten, verflucht noch mal, und knöpfen uns einen Erwachsenen nach dem anderen vor. Wir töten sie, sobald wir einen sehen. Passt nur auf, dass … sie euch nicht töten. Tut mir einen Gefallen und …“ Er brach mitten im Satz ab und starrte auf einige Jäger in Tarnkleidung, die zwei bewusstlose Männer in einen Van hievten, der am Ende der Straße stand. Mehrere Kinder umringten sie und bildeten damit eine Schutzmauer.

Cameos Blick folgte seinem, und sie keuchte. „Sind das …“

Der Erdklumpen unter Kane spaltete sich, und er fiel in das breiter werdende Loch. „Aeron und Paris? Verdammt. Ja. Das sind sie.“

Sabin fluchte leise. „Planänderung: Ihr tötet so viele von den Männern in ihrer Nähe wie möglich, und ich kümmere mich um die Kinder. Bringt Aeron und Paris zurück zur Burg, wenn irgend möglich. Wir treffen uns dann da.“