15. KAPITEL

D ie Versammlung mit Sabin sollte jeden Moment beginnen, auch wenn Aeron Paris noch nicht gesehen hatte. Die anderen hatten ihn auch weder gehört noch gesehen, obwohl die verschiedenen Turteltaubenpärchen zu unterschiedlichen Zeiten aus ihren Zimmern gestolpert waren, die alle in unterschiedlichen Richtungen lagen.

Die gesamte Nacht über hatte Aeron sich um ihn gesorgt. Noch nie hatte er den normalerweise so optimistischen Mann derart freudlos erlebt. Das war falsch und würde nicht toleriert werden. Deshalb stand Aeron nun vor Paris’ Zimmertür und klopfte energisch an.

Keine Antwort. Nicht mal das Geräusch von Schritten ertönte.

Er hob die Faust, um noch einmal zu klopfen. Diesmal lauter und fester.

„Mein Aeron, mein sssüssser Aeron.“

Als er die vertraute kindliche Stimme vernahm, ergriff Hoffnung von ihm Besitz, und er wirbelte herum. Und da war sie. Sein Baby. Legion. Er kannte sie erst seit Kurzem, und doch war sie schon zum liebsten Teil seiner selbst geworden; hatte sich mit ihrer unbeirrbaren Loyalität für ihn in sein Herz geschlichen. Sie war die Tochter, die er sich insgeheim immer gewünscht hatte.

Als sein Blick die hüfthohe, grün geschuppte, kahlköpfige, rotäugige kleine Dämonin mit den Klauen und der zweigeteilten Zunge erfasste, lösten sich alle seine Sorgen in Luft auf. Selbst Paris vergaß er für den Augenblick.

„Komm zu mir rüber, du“, befahl er schroff.

Mehr Ermutigung brauchte sie nicht. Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen – das ihre scharfen kleinen Zähne enthüllte – sprang sie zu ihm hinüber, landete auf seinen Schultern und schlängelte sich um seinen Hals. Sie drückte fest zu und schnürte ihm dabei die Luft ab, doch das störte ihn nicht. Die Boaähnliche Umarmung war ihre Art, ihn in die Arme zu nehmen.

„Legion hat Euch ssso vermissst“, säuselte sie. „Sssosssehr.“

Er langte nach oben und kratzte sie genau so hinter den Ohren, wie sie es gernhatte. Schon bald schnurrte sie: „Wo warst du?“ Er hatte sie gern in seiner Nähe, weil er dann wusste, dass sie in Sicherheit war.

„Hölle. Ihr wissst doch. Legion erzählte esss Euch.“

Ja, das wusste er, aber er hatte gehofft, sie hätte vielleicht ihre Meinung geändert und wäre woandershin gegangen. Die Hölle war ein Ort, den sie verschmähte, an den zurückzukehren Sabin sie jedoch immer wieder ermutigte, um … um ihm bei der Aufklärungsarbeit zu helfen, wie er immer sagte. Mistkerl. Ihre Brüder dort spürten das Gute in ihr und hatten Spaß daran, sie zu verletzen, und so verhöhnten sie sie, als wäre sie eine verdammte Seele und keine von ihnen.

„Hat dir jemand wehgetan?“, wollte Aeron wissen.

„Versssucht. Legion lief weg.“

„Gut.“ Wenn sie ihr nämlich auch nur eine Schuppe gekrümmt hätten, hätte er irgendeinen Weg in diese Feuerhöhle gefunden.

Sie glitschte höher, stützte die Ellbogen auf seine Schultern und lehnte ihre Wange gegen seine. Ihre Haut war heiß und verbrannte ihn fast, doch er stieß sie nicht von sich. Er zuckte auch nicht zurück, als sie mit der Spitze eines ihrer Giftzähne über die Bartstoppeln an seinem Kinn fuhr. Aus irgendeinem Grund bewunderte Legion ihn. Sie wäre lieber gestorben, als dass sie ihm etwas angetan hätte, und er wäre lieber gestorben, als dass er ihre Gefühle verletzt hätte.

Legion war nur ein einziges Mal wütend auf ihn gewesen, und zwar, als er an den Stadtrand gefahren war, um die Einwohner zu beobachten. Das war eine Angewohnheit von ihm. Ihre Schwächen und ihre Zerbrechlichkeit ekelten und faszinierten ihn gleichermaßen. Sie schienen sich der Tatsache, dass sie irgendwann sterben mussten – einige sogar noch am selben Tag –, nicht bewusst zu sein, und er wünschte sich sehnlichst, ihre gedanklichen Prozesse zu verstehen.

Legion hatte angenommen, er wäre auf der Suche nach einer potenziellen Liebhaberin gewesen, und war ausgeflippt. Ihr gehört mir. Mir!, hatte sie geschrien. Erst nachdem er ihr versichert hatte, dass er sich solch schwächlichen Geschöpfen niemals anbieten würde, hatte sie sich beruhigt.

„Eure Augen sssind fort.“ Sie klang erleichtert.

Seine Augen – sein Stalker. Und ja, seine „Augen“ waren fort. Aber für wie lange? Dieser Blick bohrte sich willkürlich in seinen Körper, nie zur selben Tages-oder Nachtzeit. Als er ihn das letzte Mal gespürt hatte, war er gerade dabei gewesen, sich fürs Duschen auszuziehen. Kurz bevor er die Boxershorts ausgezogen hatte, war er wieder allein gewesen.

„Keine Sorge. Ich werde noch herausfinden, wer oder was das ist.“ Irgendwie, irgendwann. „Und ich werde ihn oder sie aufhalten.“ Egal, was dafür notwendig wäre.

„Oh, oh. Legion hat Neuigkeiten für Euch!“ Sie klatschte glücklich in die Hände, zog dann aber einen Schmollmund. „Sssie ist ein Mädchen. Ein Engel.“ Ein leichtes Würgen, ein Schaudern.

Er blinzelte. Bestimmt hatte er sich verhört. „Was meinst du mit ‚ein Engel‘?“

„Ausss dem …“ Noch ein Würgen. „Himmel.“ Noch ein Schaudern.

Warum sollte ihn ein Engel aus dem Himmel beobachten? Dazu noch ein weiblicher? Seine äußere Erscheinung dürfte alles verkörpern, was so ein Wesen missbilligte. Seine Tätowierungen, die Piercings … grobe Züge. „Woher weißt du das?“

„In der Hölle reden alle. Dessshalb issst Legion zurückgekehrt, um Euch zu warnen. Sssie sssagen, Engel steckt in Schwierigkeiten, weil sssie Herrn der Unterwelt folgt. Sssie sssagen, sssie wird bald abstürzen.“

„Aber … warum?“ Und was passierte mit Engeln, wenn sie abstürzten?

„Legion weisss nicht. Aber sssie steckt in grosssen Schwierigkeiten. Grossse, grossse Schwierigkeiten.“

„Sie müssen sich irren.“ Er könnte es verstehen, wenn ein Gott oder eine Göttin jeden seiner Schritte beobachtete. Sie wollten die Artefakte; sie wollten die Büchse. Cronus, König der Titanen, täte nichts lieber, als die Krieger noch einmal für seine Zwecke einzuspannen, indem er sie aufforderte, seine Feinde zu töten, und drohte, dass sie litten, wenn sie nicht gehorchten.

Das wusste Aeron nur zu gut.

„Legion hassst sssie“, zischelte die Dämonin.

Wenn sein Schatten tatsächlich ein Engel war, erklärte das, warum Legion nicht in seiner Nähe bleiben konnte. Wie er von Danika gelernt hatte, waren Engel Dämonenmörder. Zwar wurden sie nicht von den Göttern kontrolliert, aber von einem einzelnen Wesen, das bisher noch niemand gesehen, sondern nur … gespürt hatte.

„Vielleicht ist sie ja hier, um mich umzubringen“, sinnierte er. In Anbetracht dessen, was er war, ergab das durchaus einen Sinn. Aber warum ihn und keinen anderen der dämonenbesessenen Herren? Und warum jetzt? Er und die anderen Krieger lebten schon seit Jahrtausenden auf der Erde. Die Engel hatten sie immer in Ruhe gelassen.

„Nein! Nein, nein, nein. Legion wird sssie töten!“, kam die inbrünstige Antwort.

„Ich will nicht, dass du sie herausforderst, meine Süße.“ Aeron tätschelte Legion den Kopf. „Ich werde mir etwas einfallen lassen. Das verspreche ich dir. Und ich bin dir sehr dankbar für die Information.“ Er würde ein Todesurteil nicht einfach so hinnehmen; er musste doch Legion beschützen. Er würde auch nicht zulassen, dass seinen Freunden die Artefakte genommen wurden, falls der Engel das bezweckte. Es standen zu viele Leben auf dem Spiel.

Er würde erst mal mit Danika sprechen, um so viel wie möglich über seinen neuen Schatten in Erfahrung zu bringen. Unter anderem, wie man ihn vernichten konnte.

Allmählich entspannte Legion sich. Er war erfreut zu spüren, dass er sie genauso beruhigen konnte wie sie ihn. „Aber wasss macht Ihr hier eigentlich? Legion möchte Fangen und Kratzen spielen.“

„Ich kann nicht. Nicht jetzt. Ich muss Paris helfen.“

„Oh, oh.“ Wieder klatschte sie aufgeregt, wobei die langen Nägel klapperten. „Lassst unsss mit ihm spielen!“

„Nein.“ Es widerstrebte ihm zutiefst, ihr einen Wunsch abzuschlagen, aber er mochte seine Freunde nun mal am liebsten, wenn sie lebendig waren. Und wenn es um Legion und ihre Spiele ging, spielte der Tod normalerweise mit. „Ich brauche ihn.“

Einen Moment lang schwiegen sie. Dann seufzte sie. „Gut. Legion wird sssich Euretwegen langweilen.“

Als Aeron sich wieder der Tür zuwandte, lachte er in sich hinein. Als Paris auch auf sein neuerliches Klopfen nicht reagierte, drehte er den Türknauf. Das Schloss war abgesperrt. „Geh dort rüber, meine Süße. Ich trete jetzt die Tür ein.“

„Nein, nein. Legion weisss wasss Bessseresss.“ Sie glitt an seiner Brust hinab, wobei sie sich mit ihrer unteren Körperhälfte weiterhin an seinem Hals festhielt, streckte die Arme aus und knackte das Schloss mithilfe ihrer Krallen. Klick. Scharniere quietschten, als das Holz zur Seite glitt. Legion kicherte.

„Gut gemacht.“

Während sie sich putzte, betrat er das Schlafzimmer. Früher war das hier der Himmel der Sinnlichkeit gewesen. Gummipuppen, Sexspielzeuge und Seidenbettwäsche hatten den Raum dominiert. Nun hatten die Puppen Löcher – und zwar mehr als normalerweise. Sie waren erstochen worden. Die Spielzeuge stapelten sich im Mülleimer, und vom Bett war jegliche Schönheit abgezogen worden.

Nach einer kurzen Suche fand er Paris im Badezimmer. Er hing über der Toilette und stöhnte. Sein Haar, ein hübscher Mix aus Schwarz und Goldbraun, hatte er sich im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden. Er war normalerweise schon blass, doch nun schien er fast durchsichtig zu sein, und seine Adern schimmerten blau und dick unter seiner Haut. Unter den Augen waren dunkle Halbmonde zu sehen, und seine Iris war von einem matten Blau.

Aeron kauerte sich neben ihn und erspähte die Flaschen und Beutel, die den Onyxboden bedeckten. Alkohol und Ambrosia, beides in großen Mengen. „Paris?“

„Ruhe.“ Wieder stöhnte er, dann richtete Paris sich auf und erbrach den restlichen Mageninhalt kurz darauf in die Toilette.

Als er fertig war, sagte Aeron: „Kann ich irgendwas für dich tun?“

„Ja.“ Er war kaum zu hören. „Verschwinde.“

„Nicht in diesssem Ton …“

Aeron gab Legion mit einer Geste zu verstehen, dass sie still sein sollte, und überraschenderweise gehorchte sie ihm. Sie glitt sogar von ihm hinunter und setzte sich mit vor der Brust verschränkten Armen und zitternder Unterlippe in eine Ecke des Bads. Sein Schuldgefühl überkam ihn dermaßen unerwartet und heftig, dass er den starken Drang verspürte, sie in den Arm zu nehmen. Kümmere dich zuerst um Paris.

„Wie lange keinen Sex mehr gehabt?“, fragte Aeron seinen Freund.

Noch ein Stöhnen. „Zwei … drei Tage.“ Paris wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab.

Das bedeutete, dass Paris vor ihrer Rückkehr das letzte Mal eine Frau gehabt hatte. Doch Aeron wusste, dass Lucien seinen Freund jeden Abend, den sie in der Wüste kampiert hatten, nur aus diesem Grund in die Stadt gebeamt hatte. Hatte Paris Schwierigkeiten gehabt, eine willige Partnerin zu finden?

„Komm, ich bringe dich in die Stadt. Du kannst …“

„Nein. Ich will nur Sienna. Meine Frau. Meine.“

Hm, und jetzt? Soweit Aeron wusste, war Paris wie eh und je Single und pflügte sich durch die weibliche Bevölkerung, wobei er es meistens nur mit einer Frau trieb – manchmal aber auch mit zwei oder drei. Wahrscheinlich ist das nur das wirre Gerede, das so oft auf den übermäßigen Genuss von Ambrosia folgt, entschied Aeron. Dennoch konnte es nicht schaden, den Mann aufzuheitern. „Sag mir, wo sie ist, und ich hole sie.“

Ein bitteres Lachen. „Geht nicht. Sie ist tot. Die Jäger haben sie umgebracht.“

Okay, das war dann doch ein wenig zu speziell, um es allein auf die Ambrosia zu schieben. Aber Aeron hatte Sienna nie kennengelernt, er hatte noch nicht mal von ihr gehört.

„Cronus war kurz davor, sie mir zurückzugeben, aber ich habe dir den Vortritt gelassen. Ich wusste, wie sehr du deinen Blutrausch gehasst hast. Ich wusste, dass Reyes ohne die Blondine sterben würde. Also habe ich Sienna aufgegeben. Ich werde sie niemals wiedersehen.“

Plötzlich setzte sich das Puzzle wie von selbst zusammen. Der Grund für Paris’ verändertes Verhalten, der Grund dafür, dass der Blutrausch Aeron so unvermittelt verlassen hatte! Paris musste das Mädchen in Griechenland getroffen haben, als sie den Tempel aller Götter nach der Büchse durchforstet hatten. Gütige Götter. Er hatte seine Geliebte für Aeron aufgegeben.

Aeron hatte keine Frau, hatte auch nie eine gewollt, aber er hatte Maddox mit Ashlyn gesehen, Lucien mit Anya und Reyes mit Danika. Sie würden füreinander sterben. Ashlyn hatte es sogar getan. Jeder von ihnen dachte permanent an seinen Partner, sehnte sich nach ihm und wurde verrückt, wenn er allein war.

Nach und nach gaben Aeron die Knie nach, bis er auf die kalten Fliesen fiel. Die Größe von Paris’ Taten lastete schwer auf seinen Schultern. „Warum hast du das getan?“

„Weil ich euch liebe.“

So einfach war das.

„Paris …“

„Nicht.“ Er stemmte sich auf die zitternden Beine und schwankte.

Im Nu war auch Aeron aufgestanden, schlang seinem Freund einen Arm um die Taille und hielt ihn fest. Als er versuchte, einen Schritt nach vorn zu machen, um Paris zu seinem Bett zu führen, stöhnte der Krieger und hielt sich den Magen. Da nahm Aeron ihn auf die Arme und hielt ihn fest an seine Brust gedrückt.

Statt ihn zum Bett zu tragen, setzte Aeron ihn in die Badewanne. Kurz darauf prasselte warmes Wasser auf ihn hinab und spülte jegliche Beweise seiner Übelkeit weg. Nachdem Paris sich mühsam aus seiner Kleidung geschält hatte, reichte Aeron ihm einen Lappen und Seife und wartete, bis sich Paris von Kopf bis Fuß gewaschen hatte. Während der gesamten Prozedur starrte Paris durch den Duschstrahl und das Badezimmer, als befände sich sein Geist an einem vollkommen anderen Ort.

„Es tut mir weh, dass du dir das angetan hast“, sagte Aeron sanft. „Und was mich angeht: Ich verdiene es nicht.“

„Ich fange mich schon wieder“, erwiderte Paris, aber Aeron war überzeugt davon, dass keiner von ihnen beiden daran glaubte.

Nachdem er das Wasser abgestellt hatte, reichte er seinem Freund ein Handtuch. Er hätte Paris auch eigenhändig abgetrocknet, allerdings bezweifelte er, dass der Stolz des großen Mannes das zuließ.

„Geh einfach“, bat Paris, während er aus der Wanne kroch.

„Entweder du gehst jetzt zu deinem Bett, oder ich trage dich“, erwiderte Aeron.

Paris gab ein tiefes Knurren von sich, stand jedoch ohne Kommentar auf. Er stolperte zum Bett hinüber und fiel auf die Matratze, die ihn einmal hochhüpfen ließ. Aeron blieb ihm dicht auf den Fersen und blickte dann, unschlüssig, was er als Nächstes tun sollte, auf ihn hinab. Noch nie hatte Paris zerbrechlicher oder verlorener ausgesehen, und dieser Anblick trieb Aeron die Tränen in die Augen. Letzten Endes verdankte er diesem Mann sein Leben. Nicht nur weil Paris so viel für ihn aufgegeben hatte, sondern weil sie Freunde waren, weil sie nebeneinander kämpften, weil Paris schon Kugeln und Messerstiche für ihn hingenommen und ihm zugehört hatte, wenn er über das Leben geschimpft hatte – über das jetzige und das vorherige, als sie noch die Krieger der Götter gewesen waren, und er, nun ja, mehr gewollt hatte.

Er konnte ihn in diesem Zustand unmöglich zurücklassen. Was bedeutete, dass er allein in die Stadt gehen und eine Frau für Paris finden musste.

Er beugte sich hinunter und strich ihm eine Strähne aus der Stirn. „Ich werde dafür sorgen, dass es dir wieder besser geht. Versprochen.“

„Besorg mir noch einen Beutel Ambrosia“, war die schwache Antwort. „Das ist alles, was ich brauche.“

„Oh, oh“, sagte Legion fröhlich. Ganz plötzlich war sie nicht mehr beleidigt. Sie kam ins Zimmer geeilt und hüpfte aufs Bett. „Legion weisss, wo man welche bekommt!“

Paris stöhnte auf, als unter ihrer Bewegung die Matratze bebte. „Beeil dich.“

Aeron sah Legion mit hochgezogenen Augenbrauen an, und ihr Lächeln verblasste. Traurig kletterte sie zurück auf seine Schultern. „Wasss hat Legion falsch gemacht?“

„Ermutige ihn bloß nicht noch. Es soll ihm nicht immer schlechter gehen, sondern besser.“

„Tut mir leid.“

Er kratzte sie hinter den Ohren. „Bin bald zurück“, sagte er zu Paris, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Zum Glück waren die anderen im Gemeinschaftsraum und warteten darauf, dass das Treffen begann. Wenn es nicht schon begonnen hatte. Er erreichte sein Zimmer, ohneirgendwem über den Weg zu laufen, und umarmte Legion fest, ehe er sie auf dem Sofa absetzte, das Maddox für sie gebaut hatte.

„Warte hier“, sagte er und ging zu seinem Schrank. Binnen Sekunden war er von Kopf bis Fuß mit Messern ausgestattet. Er hätte auch eine Schusswaffe eingesteckt, aber er wollte nicht, dass die noch unbekannte Frau, die er gleich auswählen würde, sie ihm entwenden konnte, während er sich aufs Fliegen konzentrieren musste.

„Aber … aber … Legion issst eben erssst angekommen. Legion hat Euch vermissst.“

„Ich weiß. Und ich habe dich auch vermisst. Aber die Stadtmenschen haben schon vor mir allein Angst. Ich befürchte, wenn sie uns zusammen sehen, fangen sie zu randalieren an.“ Er hatte recht. Sie waren Aeron wegen seines tätowierten Gesichts noch nie mit derselben Ehrfurcht begegnet, die sie den anderen Kriegern entgegenbrachten. „Ich muss eine Frau für Paris suchen und mit ihr hierherfliegen.“

„Aber Ihr könnt doch zwei tragen. Sssie und Legion.“

„Nein. Tut mir leid.“

„Nein!“ Sie stampfte mit dem Fuß auf, und ihren roten Augen leuchteten hell. „Keine Frauen mit Euch alleine.“

Er wusste, dass ihre Eifersucht nicht romantischer Natur war, sondern eher der eines Kindes glich, dessen Mutter oder Vater zum zweiten Mal heiratete. „Wir haben doch schon darüber gesprochen, Legion. Ich mag keine Menschenfrauen.“ Wenn er sich je einer Frau hingab, musste es eine starke Unsterbliche sein, die hart, belastbar und nicht leicht zu zerstören war.

Aeron verstand einfach nicht, wie Paris und die anderen mit Menschen ins Bett steigen konnten, obwohl sie wussten, dass sie mit Dingen wie Krankheit, Dummheit, Leichtsinn oder anderen Grausamkeiten geschlagen waren, die ihre Artgenossen ihnen zugefügt hatten. Sie würden sterben. Es war immer dasselbe. Selbst Ashlyn und Danika, denen die Götter Unsterblichkeit versprochen hatten, hatten ihre Schwächen.

„Es wird nicht lange dauern“, versicherte er Legion. „Ich habe vor, mir die erste Frau zu schnappen, die mir über den Weg läuft. Jemanden, den ich vollkommen unattraktiv finde.“

Sie fuhr mit einer Kralle über den smaragdfarbenen Samt. „Versssprochen?“

„Versprochen.“

Das besänftigte sie ein Stück weit, und sie seufzte. „Aissso gut. Legion wartet hier. Legion …“ Ihre dünnen Lippen verzogen sich missbilligend.

Im nächsten Augenblick spürte Aeron, wie sich ein unsichtbares Augenpaar auf ihn richtete. Heiß, neugierig und eindringlich.

Legion zitterte, wurde blass, und die Angst legte sich wie ein Schleier auf ihr Gesicht. „Nein. Neeeeeiiiin!“

„Geh“, befahl er, und sie tat es, ohne zu zögern. Im Nu war sie verschwunden.

Langsam drehte er sich im Kreis und suchte nach einem Hinweis auf den … Engel? Aber er sah und roch nichts – keine schimmernde Silhouette, keinen himmlischen Duft. Alles war wie immer. Er biss fest die Zähne aufeinander. Wie gern hätte er das Wesen doch beschimpft und aufgefordert, sich zu zeigen und ihm zu verraten, was es von ihm wollte. Doch er hielt sich zurück. Das war nicht der richtige Zeitpunkt. Aber später …

Er zog sich das Hemd aus, warf es auf den Boden und blickte auf seine tätowierte Brust. Kampfszenen, Gesichter. Er wollte nie vergessen, was er getan hatte. Auch nicht die Mensehen, die er beobachtet hatte, als sie zur Schlachtbank geführt worden waren. Denn er befürchtete, dass er sonst zu der bösen Kreatur wurde, gegen die er immer gekämpft hatte. Dass er zu seinem Dämon wurde, zu Zorn.

Keine Zeit für trübe Gedanken. Auf einen mentalen Befehl hin sprangen seine Flügel aus den versteckten Schlitzen auf seinem Rücken. Sie waren schwarz, hauchdünn und sahen trügerisch zerbrechlich aus, waren in Wahrheit jedoch unglaublich kräftig. In genau diesem Moment meinte er, das kurze, heftige Einatmen einer Frau zu vernehmen. Dann streichelten warme Hände seine Flügel, erkundeten jede Erhebung und jedes Tal. Ohne Vorwarnung bekam er eine Erektion, die seine Entschlossenheit in einem zweifelhaften Licht erscheinen ließ.

Teufel. Nein. Eine Dämonenmörderin begehren? Im Leben nicht. „Nicht anfassen“, presste er hervor.

Das Phantom zog seine Hände schnell zurück.

Wenn dieses Wesen ihm doch in allen Dingen so gehorchen würde. „Wenn du meinen Freunden etwas antust oder vorhast, mich zu bestehlen, werde ich dich in kleine Stücke reißen. Es wäre besser für dich, wenn du verschwinden und nie zurückkommen würdest.“

Keine Antwort. Der weißglühende Blick verweilte auf ihm.

Mit aufeinandergebissenen Zähnen ging er auf die Doppeltür zu, die auf seinen Balkon führte.

Draußen hüllte ihn warme Luft ein, die die Düfte der Natur verströmte. Rund um die Burg ragten Bäume bis hoch in den Himmel empor. In der Ferne konnte er die roten Dächer der Geschäfte und Kirchen der Stadt sehen. Die sanften, warmen Hände hielten sich von ihm fern, und er war dankbar dafür. Ich bin auf keinen Fall enttäuscht, versicherte er sich.

Dann machte er einen entschlossenen Satz von der Balkonbrüstung und fiel tief nach unten. Nach einem Flügelschlag stieg er wieder auf. Ein weiterer Schlag, und er flog noch höher. Er flog gen Norden. In dem Augenblick trat der Vorplatz der Burg in sein Blickfeld, und er sah Sabin, der mit einer blutüberströmten, bewusstlosen Gwen in den Armen aus dem Auto sprang.

Aeron war kurz davor, umzukehren, um zu helfen, doch stattdessen bewegte er die Flügel schneller, kräftiger. Paris kam zuerst. Jetzt und für alle Zeit kam Paris zuerst.