17. KAPITEL
N och nie war Gwen nervöser gewesen. Weder in ihrer Gefängniszelle noch als sie und Sabin den Jägern gegenübergestanden hatten.
Nachdem Kaia ihm dabei zugesehen hatte, wie er die Harpyie besänftigt hatte, hatte sie Bianka und Taliyah mit einem scharfen Pfiff gerufen. Offensichtlich hatten sie im Flur Wache gehalten, damit Kaia Gwen ungestört retten konnte. Dann hatten sich die drei Schwestern in Sabins Schlafzimmer für einen kleinen „Plausch“ verbarrikadiert.
„Niemand weiß, dass wir hier sind“, sagte Bianka. „Niemand außer uns fünf.“
Gwen wollte gegen das bevorstehende Gespräch protestieren, gegen die Isolation – dieses Szenario endete für die Skyhawks immer mit Blutvergießen –, aber mehrere Dinge hielten sie davon ab. Erstens hielt Sabin sie mit einem Eisengriff an seiner Seite. Warum nur? Dachte er, sie würde zu ihren Schwestern rennen und sie auffordern, ihn zu töten? Zweitens war sie so schwach wie ein neugeborenes Kätzchen und kaum fähig, ihre Augen offenzuhalten. Wenn Sabin sie losgelassen hätte, wäre sie kraftlos gegen das Kopfende gefallen. Und drittens hatte sie vor, noch mal mutig zu sein und Sabin zu beschützen. Wenn ihre Schwestern, die verärgert darüber waren, wie sie behandelt worden war, und praktischerweise anscheinend vergessen hatten, dass sie die Herren einmal verehrt hatten, wenn sie also auf ihn losgingen …
Warum sie sich um ihn sorgte, wusste sie nicht. Noch vor wenigen Minuten hatte er Kaia umarmt. Oder? Die Erinnerung war verschwommen, als hätte sie das Paar nicht im wahren Leben gesehen, sondern nur in einem Film. Aber ob echt oder nicht, es hatte sie fuchsteufelswild gemacht. Sabin gehörte zu ihr. Jedenfalls im Moment. Und das nicht etwa, weil sie zusammen geduscht hatten und er ihr den besten Orgasmus ihres Lebens beschert hatte. Sondern weil … Tja, sie wusste es nicht. Es war einfach so.
„Bevor wir zu reden anfangen, wollen wir uns um unser kleines Mädchen kümmern.“ Kaia schlenderte zu ihr hinüber, schnitt sich auf dem Weg das Handgelenk auf und hielt es Gwen an den Mund. „Trink.“
Während ihrer Kindheit hatte sie oft von ihren Schwestern getrunken. „Um dich vor jeglichen Verletzungen zu schützen, die du dir zuziehen könntest“, hatten sie ihr immer gesagt. Sie selbst tranken von jedem Liebhaber, der gerade verfügbar war, bevor sie in eine Schlacht zogen oder zu einem anderen Job aufbrachen. Der Befehl kam ihr also nicht merkwürdig vor. Schließlich waren Vampire nicht die einzigen Wesen, die Blut brauchten, auch wenn Harpyien es nur benötigten, um sich von Verletzungen zu erholen oder ihnen vorzubeugen. Doch als Gwen gerade die Lippen über die tröpfelnde Wunde legte, packte Sabin sie am Hals und wirbelte sie zu sich herum.
„Hey“, knurrte Kaia.
An seinem Hals prangte eine lange, breite Wunde, eine Wunde, die er jetzt mit einem Schnitt seines rasierklingenscharfen Fingernagels wieder öffnete. „Wenn sie trinken muss, dann von mir.“
Er gab niemandem die Gelegenheit zu protestieren, sondern zog Gwen nach vorn und hielt ihren Kopf dabei so fest, dass sie ihn unmöglich wegdrehen konnte. Als ob sie das getan hätte … Sie nahm schon seinen süßen Duft wahr. Zitronen und Blut. Köstlich. Er füllte ihre Nase, floss in ihre Lungen und verteilte sich in ihrem ganzen Körper, wobei er eine kribbelnde Wärme hinterließ.
Unfähig, sich zurückzuhalten, ließ sie die Zunge über die Wunde gleiten. Ekstase. Ein fruchtiger Nachtisch. Sie schloss die Augen und presste sich an seinen Körper, schlang die Arme um ihn, hielt ihn gefangen, presste die Knie an seine Beine. Der Engel in ihr wusste, dass es falsch war. Dass sie es nicht tun und es ihr auf keinen Fall gefallen sollte. Doch die Harpyie in ihr tirilierte vergnügt und wollte unbedingt mehr, weil sie so etwas noch nie gekostet hatte. Wie Himmel und Hölle, perfekt und böse und mit Sicherheit ihr Untergang.
Sie saugte und saugte, sog die flüssige Dekadenz in ihren Mund und ließ sie die Kehle hinunterrinnen. Mit jedem Schluck kehrte etwas mehr Kraft in ihren geschundenen Körper zurück. Der Schmerz in den Wunden ebbte langsam ab, und das Gewebe wuchs wieder zusammen. Wie hatte sie nur ohne das hier leben können? Zum Glück musste man Blut nicht stehlen, um es genießen zu können. Es war Medizin und keine Nahrung. Sie hätte viel früher auf die Idee kommen sollen, von Sabin zu trinken.
Während der gesamten Prozedur hielt Sabin vollkommen still. Allerdings spürte sie seine harte Erektion zwischen den Beinen. Seine Hand war auf ihre Hüfte gerutscht, und er bohrte die Fingernägel tief in ihr Fleisch, sodass sie sich nicht bewegen konnte.
Sie konnte seinen schweren Atem in ihren Ohren hören, konnte sogar ein paar seiner Gedanken hören: Ja, ja, mehr, hör nicht auf, so gut, muss … Bett… mein. Oder vielleicht waren es auch ihre.
„Saug ihn nicht aus, Kleines“, sagte Bianka und bahnte sich energisch einen Weg durch Gwens neue Abhängigkeit. „Wir wollen ihm zuerst noch ein paar Fragen stellen.“
Nägel bohrten sich in ihre Kopfhaut, und ihr Kopf wurde unsanft von Sabins Hals gerissen. Sie schrie auf, und das Blut tropfte ihr aus dem geöffneten Mund.
Sabin knurrte, während er zu Bianka sah und Gwen noch fester hielt. „Wenn du sie noch einmal so anfasst, kannst du deinen Händen Adieu sagen.“
Grinsend wickelte sich Bianka eine ihrer dunklen Haarsträhnen um den Finger. „Da ist also der Herr der Unterwelt, von dem ich schon so viel gehört habe. Ich glaube fast, dass du es tatsächlich tun würdest, Dämon. Na ja, versuch es doch mal.“
„Ich habe noch nie eine leere Drohung ausgesprochen“, entgegnete er. Dann zog er Gwen abermals fest an sich.
Fast hätte sie aufgestöhnt. Ihre Schwestern wichen nie – niemals – vor einer Herausforderung zurück. „Ich bin so glücklich, dass ihr hier seid“, sagte sie in der Hoffnung, sie dadurch abzulenken.
„Hat der große Junge nicht auf dich aufgepasst?“ Kaia schlenderte durch das Zimmer, hob Ziergegenstände hoch, öffnete Schränke und Schubladen. „Ach wie süß. Schwarze Boxershorts gefallen mir am besten.“ Sie hockte sich sogar vor Sabins Waffentruhe, brach das Schloss mit einer flinken Bewegung ihres Handgelenks auf und öffnete den Deckel. „Mmmh, was haben wir denn da?“
„Er passt sehr wohl auf mich auf“, sagte Gwen, die den seltsamen Drang verspürte, ihn zu verteidigen. Er hatte sie aus der Gefangenschaft befreit und beschützt, und er hatte vor, sie in Selbstverteidigung zu unterrichten. Diese Sache mit den Jägern war ihre Schuld. Sie hätte eben im Auto bleiben sollen. Dennoch bereute sie nicht, dass sie ausgestiegen war, um ihm zu helfen. Er lebte. Und er war in Sicherheit.
Bist du auch ehrlich zu deinen Schwestern? Ich erinnere mich nämlich an unzählige Situationen, in denen Sabin …
„Entschuldige“, murmelte Sabin.
Gut, dass er dem Dämon das Wort abschnitt, denn in dem Moment, als seine Stimme in ihren Kopf eingedrungen war, hatte die Harpyie in ihr zu kreischen angefangen.
Bianka gesellte sich zu Kaia vor die Truhe, und gemeinsam brachen sie beim Anblick der Pistolen und Messer in Ooohs und Aaahs aus. Waffen waren ihr Kryptonit. Taliyah trat an die Ecke des Bettes und starrte mit leerem Blick auf Gwen und Sabin hinab. Niemand war schöner als Taliyah. Sie hatte weißes Haar, weiße Haut und blassblaue Augen. Sie sah aus wie eine Schneekönigin – und so mancher hatte ihr schon vorgeworfen, durch ihre Adern flösse Eis. Nicht dass irgendjemand diese Beschuldigung überlebt hätte …
„Ich weiß um eure Situation mit den Jägern“, sagte sie zu Sabin. „Ich habe die Geschichten von eurer Boshaftigkeit gehört und euch dafür bewundert. Ich habe sogar gehofft, euch irgendwann einmal zu begegnen. Aber jetzt will ich dich nur noch töten, weil du meine Schwester in diesen Schlamassel hineingezogen hast. Sie ist keine Kriegerin.“
„Könnte sie aber sein.“ Mehrere Sekunden verstrichen, doch Sabin fügte seinen Worten nichts hinzu. Er versuchte nicht, sich zu verteidigen.
Gwens Gedanken rasten. Würde er es dabei belassen? Würde er sie in dem Glauben lassen, dass ihre Schwester mit ihm in wilder Ehe lebte und er sie völlig grundlos in Gefahr gebracht hatte? Oder würde er ihnen reinen Wein einschenken und erzählen, dass sie so dumm gewesen war, sich entführen und einsperren zu lassen? Dass er sie gerettet hatte. Wenn er ihnen die Wahrheit sagte, wäre ihm ihre Beteiligung an seinem Krieg garantiert. An einem Krieg, den er über alles andere in seinem Leben stellte, sogar über die Liebe. Warum also sollte er es nicht tun? Etwa ihretwegen?
Plötzlich brannten Tränen in ihren Augen. „In Wahrheit waren es die Jäger, die mich hergebracht haben“, sagte Gwen und knetete nervös die Bettdecke.
„Gwen“, brachte Sabin warnend hervor.
„Sie müssen alles wissen.“ Um seinetwillen und um ihrer selbst willen. Sie nahm all ihre Kraft zusammen und erzählte ihren Schwestern von ihrer Gefangenschaft, ohne auch nur ein Detail auszulassen. Während sie sprach, ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Es vergingen nur wenige Minuten, aber es waren die demütigendsten Minuten ihres Lebens. Genau wie ihre Schwestern bewunderte Sabin Stärke und Bösartigkeit. Doch sie stand hier und stellte ihre Schwäche ausgerechnet vor den einzigen Menschen zur Schau, die ihr etwas bedeuteten.
Er überraschte sie, als er ihr mit dem Daumen zärtlich die salzigen Tränen von den Wangen strich. Das brachte Gwen jedoch nur noch mehr zum Weinen.
Als sie fertig war, erfüllte Stille den Raum. Vor angespannter Erwartung schien die Luft anzuschwellen und die Zeit stehen zu bleiben.
Taliyah war die Erste, die etwas sagte. „Wie haben sie dich erwischt?“
Der kalte Ton ihrer Stimme ließ Gwen erzittern. „Als Tyson eines Morgens zur Arbeit gegangen ist, hat er sein Handy vergessen, und ich wusste, dass er es brauchen würde. Aber er war schon zu weit die Straße hinunter, als dass ich ihn mit Menschengeschwindigkeit hätte einholen können. Deshalb habe ich …“ Sie schluckte. So ein dämlicher Fehler. Sie hatte ihn seither jeden Tag bereut. „Ich habe meine Flügel benutzt und ihn vor dem Büro abgefangen. Die Jäger haben mich gesehen. Sie dachten, ich wäre einfach aus dem Nichts aufgetaucht, aber das wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Ich vermute, sie sind mir nach Hause gefolgt und haben dann bis zum späteren Abend gewartet, bis Tyson und ich …“, wieder schluckte sie, „… eingeschlafen waren.“
„Du hast mit Tyson in einem Bett geschlafen?“, fragten drei Frauenstimmen unisono.
„Was ist das mit euch Harpyien und dem Schlafen?“Sabin spannte die Muskeln an und versteifte sich. „Nicht dass wir uns missverstehen: Ich finde, man kann durchaus angewidert sein, wenn jemand mit einem Hühnermann im Bett liegt. Tyson, dieser Mistkerl, muss sterben. Er hat sie nicht beschützt.“
„Genauso wenig wie du“, entgegnete Taliyah trocken.
„Ich bin nur dank Sabin noch am Leben.“ Gwen schenkte ihm ein zittriges Lächeln. „Und Tyson ist kein schlechter Kerl. Er hat versucht, mich zu retten, bevor sie ihn k.o. geschlagen haben.“ Obwohl er wütend auf sie gewesen war.
Als er an jenem Abend von der Arbeit nach Hause gekommen war, hatte er nicht mit ihr über die morgendlichen Geschehnisse sprechen wollen. Sie hatte ihn zu Tode erschreckt, als sie vor ihm am Büro angekommen war. Außerdem hatte er bereits andere merkwürdige Dinge an ihr festgestellt.
Sie hatte ihre dunkle Seite so gut es ging versteckt, aber manchmal schimmerte sie eben trotzdem durch. Und so war Tyson zu Hause nicht selten von Löchern in der Wand, zerrissenen Laken und zerbrochenem Geschirr empfangen worden. Einmal, während eines albernen Streits darüber, wer die DVD aussuchen durfte, die sie sich ansehen wollten, hatte sie ihn sogar so fest gegen eine Wand gestoßen, dass der Putz auf ihn gefallen war. Sie hatten sich geküsst und aufgeräumt, doch das war der Anfang vom Ende gewesen.
„Jedenfalls“, fuhr sie fort, „fand ich mich gefesselt, bewegungsunfähig und kaum in der Lage zu atmen wieder, als mich die Jäger nach Ägypten gebracht hatten. Sie sperrten mich ein, und zwölf Monate später haben Sabin und die anderen Herren mich befreit und hierhergebracht.“
„Du hast die Männer, die für ihre Qualen verantwortlich waren, natürlich getötet, nehme ich an?“, wollte Taliyah von Sabin wissen.
Er nickte. „Gwen hat einen getötet. Und ich ein paar andere.“
Ihre blassblauen Augen flackerten wütend. „Warum nicht alle? Und, gut gemacht, Gwen“, fügte sie mit einem anerkennenden Nicken hinzu.
Bevor Gwen gestehen konnte, dass es ein Unfall gewesen war, sagte Sabin: „Wir halten die Überlebenden in unserem Kerker gefangen und foltern sie, um an Informationen zu kommen.“
Taliyahs Schultern entspannten sich leicht. „Das geht in Ordnung.“ Dann wandte sie sich wieder an Gwen. „Hast du etwas gegessen?“
Gwen warf Sabin einen flüchtigen Seitenblick zu. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie sich sein Sandwich in den Mund gestopft hatte. „Ja.“
Zum Glück zeigte er keine Reaktion. In ihrer Zeit mit Tyson hatte sie ihr Essen immer aus einem Restaurant um die Ecke gestohlen und es als selbst gekocht ausgegeben. Er war nie misstrauisch geworden. Sonst hätte es Streit gegeben. Würde Sabin sich in einer ähnlichen Situation auch aufregen? Eher nicht. Er hatte sie angelächelt, als sie im Geschäft das eine oder andere stibitzt hatte.
„Dann bist du also bereit für die Heimreise?“ Kaia sprang seitlich aufs Bett, wobei die Matratze kräftig schaukelte. „Ich bin nämlich mehr als bereit, aus dieser Bude hier zu verschwinden. Ich weiß, dass du deinen Dämon magst, also nimm ihn von mir aus mit. Egal ob er will oder nicht. Wir bringen dich sicher zurück und kommen dann wieder, um uns die Jäger vorzuknöpfen. Sie werden für das bezahlen, was sie dir angetan haben. Keine Sorge.“
„Ich … also …“ Wollte sie nach Hause? Versteckt, in Sicherheit, die anderen kümmerten sich um alles? War sie zum Teil nicht auch nach Georgia gegangen, um genau dem zu entfliehen? Und auch wenn sie Sabin mochte, sie wusste, dass er in Alaska, wo er gegen niemanden kämpfen könnte, kreuzunglücklich wäre. Irgendwann würde er sie hassen.
Wenn sie also nach Hause ging, musste sie allein gehen. Bei dem Gedanken verspürte sie einen hohlen Schmerz in der Brust. Was sie und Sabin unter der Dusche getan hatten … wollte sie wieder tun. Ich dachte, davon dürfte es keine Wiederholung geben. Ich dachte, es wäre zu gefährlich. Doch nun, da sie mit der Möglichkeit konfrontiert war, ohne ihn zu gehen – ohne ihn! –, ohne jemals zu erfahren, wie es wäre, wenn er von ihr Besitz ergriff, und zwar voll und ganz, erschien ihr keiner der Gründe mehr wichtig, aus denen sie sich von ihm fernhalten sollte.
„Sie geht nirgendwohin“, sagte Sabin.
Oh, ich liebe dominante Männer. Manchmal jedenfalls. „Er hat recht. Ich bleibe.“ Gwen schielte zu ihren Schwestern hinüber und flehte sie wortlos an, ihre Entscheidung zu verstehen und zu akzeptieren. Sie sahen sie lange Zeit einfach nur an.
Bianka ergriff als Erste das Wort. „Na gut. Aber wo sollen wir unsere Ausrüstung lagern?“, fragte sie und seufzte.
Gwen hatte gewusst, dass sie ebenfalls bleiben würden, und das erfreute und besorgte sie gleichermaßen. Wenigstens zuckte Sabin nicht mit der Wimper. „Das Zimmer nebenan steht leer. Was dagegen, es euch zu teilen?“
Er gab ihnen ein eigenes Zimmer, nachdem er Gwen dieses Privileg verweigert hatte?
„Nein, ist okay“, antwortete Taliyah. „Aber sag mir noch, was ihr mit den Jägern vorhabt.“
„Wir wollen sie töten. Und zwar alle. Solange sie leben, finden wir keinen Frieden.“
Sie nickte. „Tja, du Glückspilz hast soeben drei neue Soldaten rekrutiert.“
„Vier“, platzte es aus Gwen heraus, ehe sie nachdenken konnte. Aber sie stellte fest, dass sie es ernst meinte. Sie wollte die Jäger tatsächlich aufhalten. Sie wollte ihre Schwestern und Sabin vor ihnen beschützen. Und ausnahmsweise wollte sie sich dieser Aufgabe als würdig erweisen.
Einmal mehr stand sie im Zentrum der Aufmerksamkeit. Alle starrten sie an. Sabin mit Wut im Blick – aber warum? Er wollte doch, dass sie es tat, oder? Bianka und Kaia mit Nachsicht. Und Taliyah mit Entschlossenheit.
„Dann lieg nicht nur faul herum“, sagte Kaia, hob die Arme und ließ sie in einer Geste der Verzweiflung wieder fallen. „Steh auf. Wir haben einen Krieg zu gewinnen.“
Sabin fuhr sich mit der Hand über sein plötzlich abgespannt wirkendes Gesicht. „Willkommen in meiner Armee, Mädels.“
Er war Gwens Gemahl, hatten ihre Schwestern gesagt. Sabin schloss daraus, dass sie dachten, Gwen gehöre zu ihm. Er war sich zwar nicht sicher, ob er das genauso sah, aber, zum Teufel, der Gedanke gefiel ihm. Doch er konnte Gwen trotzdem nicht bei sich behalten, nicht ohne sie zu zerstören. Jedenfalls nicht so wie die Dinge standen.
Gwen verbrachte den restlichen Tag und die nächste Nacht im Bett, allerdings ohne noch mal einzuschlafen. Fest entschlossen, den Grund dafür herauszufinden, ließ er sie am nächsten Morgen allein und machte sich auf die Suche nach Anya. Er fand sie im Gemeinschaftszimmer, wo sie gerade eine weitere Videospielpartie mit Gilly beendete. Als er ihr von der Ankunft der neuen Gäste berichtete, klatschte Anya vergnügt in die Hände.
„Luden hat mir erzählt, dass du ihm per SMS von den Gästen erzählt hast, aber ich hatte ja keine Ahnung, dass es noch mehr Harpyien sind!“
„Jetzt weißt du es ja. Sie sind im Fitnessraum. Und jetzt erzähl mir mal, was es mit Harpyien und dem Schlafen auf sich hat.“
Sie lachte ihm direkt ins Gesicht. „Finde es selbst heraus“, sagte sie, während sie zur Tür schlenderte. „Ich muss mich erst mal um eine Wiedervereinigung mit den Skyhawks kümmern.“
Neugierig zu sehen, wie eine solche Wiedervereinigung wohl vonstattenging, folgte er ihr in den Fitnessraum.
Als das Trio – das sich bereits mit allem vertraut gemacht hatte und sich wie zu Hause fühlte – die Göttin erblickte, hörten die Frauen auf, einander Hanteln zuzuwerfen, als wären sie winzige Steinchen, rannten auf Anya zu und umarmten sie stürmisch.
„Anya! Du hast dich ohne ein Wort aus dem Staub gemacht, du Miststück!“
„Wo warst du?“
„Was machst du hier?“
Sie fragten alle gleichzeitig, doch Anya wirkte gänzlich unbeeindruckt. „Tut mir leid, Mädels. Ich bin in der ganzen Welt unterwegs gewesen. Ihr wisst schon, die Sehenswürdigkeiten anschauen, für Ärger sorgen und sich in den Tod persönlich verlieben. Ich bin hier, weil das hier mein Zuhause ist. Gefällt euch, was ich daraus gemacht habe?“
Sie umarmten einander und redeten und lachten noch ein bisschen weiter. Sabin versuchte ein paarmal, sie zu unterbrechen, wurde jedoch ignoriert. Schließlich gab er auf und überließ sie sich selbst. Er wollte später noch einmal zu Anya gehen und sie zu den Schlafgewohnheiten der Harpyien befragen. Die Schwestern zu fragen war keine Option für ihn. Harpyien – so viel hatte er schon gelernt – lebten nach ihren ganz eigenen Regeln, und er wollte Gwen mit seiner Ignoranz nicht versehentlich erniedrigen.
Gwen.
Jede Minute mit ihr war gefährlich. Vergangene Nacht war es besonders schlimm gewesen. Er war ihr nicht von der Seite gewichen, hatte ihren Duft gerochen und den Baumwollstoff über ihre Haut gleiten hören. Doch sie waren auf Distanz geblieben, und niemand hatte seine Hälfte des Bettes verlassen. Er hätte sie genommen – er war schwach, wenn es um sie, um diesen köstlichen Körper und um diese anbetungswürdige Haut ging; es war so weit: Er hatte sich eine Schwäche eingestehen müssen – aber jedes Mal, wenn er die Hand nach ihr ausgestreckt hatte, hatte Zweifel angefangen, sein Gift zu versprühen.
Wird sie sterben, wenn du sie hierbehältst? Wird sie mehr wollen, als du geben kannst, und dich verlassen, wenn du es ihr nicht gibst?
Nun hasste er seinen Dämon wieder.
Nur in Gegenwart ihrer Schwestern war er still, und Sabin wusste nicht, warum. Doch das würde er schon noch herausfinden. Dazu war er fest entschlossen. Denn wenn es ihm irgendwie gelang, den Dämon in Gwens Gegenwart auf Dauer zum Schweigen zu bringen, konnte er sie haben. Vielleicht für immer.
Nachdem er nach den Gefangenen gesehen hatte – die immer noch zu schwach waren, um weitere Folterungen zu überleben –, ging er in die Küche, um Gwen etwas zu essen zu machen. Das gesamte Essen war weg. So viel zum Thema Déjà-vu. Nichts war mehr da, nicht mal eine Tüte Chips. Vermutlich sind die Harpyien hier gewesen, dachte er.
Seufzend schlenderte er in sein Schlafzimmer. Gwen lag nicht mehr im Bett. Stirnrunzelnd begann er sie zu suchen. Er fand sie auf dem Dach mit Anya und ihren Schwestern – Letztere spielten gerade „Wir können vom Dach fallen und uns auch die letzten Knochen brechen“.
„Ich habe dich nicht mal eine Stunde allein gelassen“, sagte er zu Gwen. „Wag es ja nicht zu springen.“
„Ich sehe nur zu“, versicherte sie ihm und lächelte. Es war ein Lächeln, bei dem seine Brust zu schmerzen begann.
Eine Handvoll Krieger stand unten und sah ebenfalls zu. Auf ihren Gesichtern spiegelten sich Resignation und große Ehrfurcht. Sie berauschten sich am Anblick der Haut der Harpyien, als wäre sie Wein.
„Schluss jetzt“, befahl Sabin, bevor auch nur eine Harpyie noch mal springen konnte. „Auf uns wartet ein hartes Training.“
Sie stimmten ihm nicht wohlwollend zu, aber immerhin stimmten sie ihm zu. Und schon bald befand sich fast jeder Burgbewohner auf dem Boden, Grunzlaute und Ächzer erfüllten die Luft, und der Geruch von Blut und Schweiß verjagte die Tiere in der näheren Umgebung.
Sabin stand an den Seitenlinien und beobachtete das Geschehen lediglich. Torin hatte ihm gerade eine Nachricht aufs Handy geschickt und war auf dem Weg nach unten.
Schließlich traf der Krieger ein. In gehörigem Sicherheitsabstand blieb er neben Sabin stehen. „Alle waren so beschäftigt, dass es sinnlos gewesen wäre, ein neues Treffen einzuberufen. Deshalb habe ich versucht, jeden einzeln abzufangen.“
„Was herausgefunden?“
„Allerdings.“ Er wackelte mit den schwarzen Augenbrauen, die einen faszinierenden Kontrast zu seinen weißen Haaren bildeten. „Ich habe einen obskuren Artikel in einem Boulevardblatt auf getan, in dem es um begabte Kinder in Chicago geht. Kinder, die Autos hochheben können. Kinder, die Menschen allein durch Reden dazu bringen können, das zu tun, was sie wollen. Kinder, die sich so schnell bewegen, dass das Auge es nicht wahrnehmen kann. Und jetzt kommt’s: Die ganze Sache wurde vom Internationalen Institut für Parapsychologie geleugnet.“
Sabin riss die Augen auf. „Eine Jäger-Highschool. Genau wie unser Gefangener uns gesagt hat.“
„Jawohl. Das kann kein Zufall sein.“
„Wir müssen das Gebäude durchsuchen.“
„Sehe ich auch so. Deshalb treffe ich bereits Vorbereitungen für die Abreise. In zwei Tagen geht es los. Einige von euch müssen mitkommen, aber die anderen sollten lieber hierbleiben und nach den Leuten suchen, die auf den Schriftrollen stehen. Ich muss einfach wissen, wer was macht.“
Er wollte schon sagen, dass er mitfahren würde – die Jäger töten, die Kinder retten und vielleicht endlich Galen aus seinem Versteck zerren –, als er über Torins letzte Worte nachdachte. „Moment. Schriftrollen?“
Eine milde Brise erhob sich und zerzauste Torins Haar. Er strich sich die Strähnen mit einer behandschuhten Hand aus dem Gesicht. „Cronus hat mir einen Besuch abgestattet.“
Sabins Magen verkrampfte sich. „Ich habe versucht, ihn zu rufen, aber er hat mich ignoriert.“
„Sei froh.“
„Was hat er gesagt?“
„Du kennst ja den Drill: ‚Tu, was ich dir befehle, sonst foltere ich jeden, den du liebst‘“, erwiderte Torin in einem erhabenen, arroganten Tonfall.
Seine Imitation des Gottes war bühnenreif. „Ja, aber was hat er dir aufgetragen? Leute zu finden, hast du gesagt?“
„Dazu komme ich jetzt. Du weißt ja, dass er genauso wie wir darauf brennt, Galen tot zu sehen, seit Danika vorhergesagt hat, dass Galen derjenige ist, der ihn umbringen wird, nicht wahr? Also, auf den Schriftrollen, die er mir gegeben hat, ist eine Namensliste. Die Namen gehören zu anderen von Dämonen besessenen Unsterblichen. Du glaubst ja nicht, wie viele es sind. Aber es gibt auch leere Zeilen, so als wären mehrere Namen ausradiert worden. Seltsam, was? Denkst du, das bedeutet, dass sie irgendwie gestorben sind?“
„Vielleicht.“ Erst vor Kurzem hatten er und die anderen – durch Danika – erfahren, dass sie nicht die einzigen von Dämonen besessenen Unsterblichen waren, die es gab. Offenbar waren in der Büchse der Pandora mehr Dämonen gefangen gewesen, als es Krieger gegeben hatte, die bestraft werden mussten. Und so waren die verbliebenen Geister auf die Gefangenen im Tartaros verteilt worden. Gefangene, die jetzt verschwunden waren.
„Wie dem auch sei. Cronus ist der Meinung, wir sollen unsere Brüder finden und sie benutzen, um Galen ein für alle Mal das Handwerk zu legen. Er meint, sie könnten uns helfen, ihn einzusperren und ihn somit davon abzuhalten, noch mehr Unruhe zu stiften.“
Sabin schüttelte den Kopf. „Sie waren Gefangene, was bedeutet, dass selbst die Götter nicht in der Lage waren, sie zu kontrollieren. Wir können ihnen nicht genug vertrauen, um sie zu benutzen. Außerdem, sosehr wir Galen auch tot sehen wollen: Wir wissen alle ganz genau, wie gefährlich es wäre, seinen Dämon in die Welt zu entlassen. Aber wie sollten wir diese Fremden daran hindern, genau das zu tun?“
„Punkt für dich. Und ja, wir sind so gnädig, dass er seinen Kopf vorerst behalten darf, aber Galen würde sich wohl kaum erkenntlich zeigen. Diese Männer gehören genau zu der Art Kreatur, die er für seine Armee rekrutieren würde. Was bedeutet, dass wir sie trotzdem finden müssen – und zwar, bevor er es tut.“
Sabin wusste, dass sie außerdem Cronus glücklich machen mussten. Wenn der Götterkönig seinen Willen nicht bekam, geschahen jedes Mal schlimme Dinge. „Aber wir müssen auch die übrigen Artefakte finden, und das erscheint mir im Augenblick etwas wichtiger.“
„Wir können sie nicht finden, wenn wir von einer Schar unsterblicher Kinder überrannt werden, die fest entschlossen sind, uns zu vernichten“, entgegnete Torin. „Also, zuallererst müssen wir diese Schule finden und die Gefahr neutralisieren. Bleibst du hier, oder gehst du mit?“
„Ich …“ Sabins Blick schweifte zu Gwen, die gerade auf den Po fiel, um dem – mit Sicherheit absichtlich – schlecht gezielten Schwerthieb ihrer Schwester auszuweichen. Er ballte die Hände zu Fäusten. Tu ihr nur ein einziges Mal weh, und du stirbst, projizierte er in den Kopf der Harpyie, obwohl er wusste, dass die Frau den Großteil ihrer Kraft im Zaum hielt. Mehr noch: Er war ein elender Heuchler, wenn er so etwas überhaupt dachte, nachdem er geschworen hatte, Gwen hart ranzunehmen.
Wenn er nach Chicago ging, musste er Gwen hier zurücklassen. Sie war noch nicht bereit für einen Kampf. Er könnte ihre Schwestern mitnehmen, die dann gefahrlos die Kinder einsammeln konnten. Kinder, die ihn und die anderen Herren höchstwahrscheinlich angreifen würden, da ihnen der Hass gegen sie vermutlich von Geburt an eingeimpft worden war. Oder er könnte die Harpyien hierlassen, damit sie Gwen beschützten. Keine der beiden Optionen stellte ihn zufrieden. Der Gedanke, dass Gwen allein war, missfiel ihm. Oder besser: nicht allein, sondern ohne ihn. Und die Vorstellung, diese Kinder unnötigerweise zu verängstigen, missfiel ihm ebenfalls.
Klong. Klick.
Das Scheppern von Metall auf Metall riss ihn aus der Grübelei. Gideon und Taliyah befanden sich mitten im Zweikampf, ihre Mienen waren finster und ernst. Bisher stand es remis. Strider und Bianka teilten Fausthiebe gegeneinander aus, und Bianka lachte. Zuerst hatte Strider sich gegen ein ernsthaftes Duell mit ihr gesträubt. Er hatte sich zurückgehalten und nur leicht zugeschlagen, obwohl eine Niederlage gegen sie bedeutet hätte, einige Tage im Bett zu verbringen, sich vor Schmerzen zu winden und nach einer Mutter zu rufen, die er nicht hatte. Dann hatte Bianka ihm die Nase gebrochen und ihm so fest in die Eier getreten, dass sie ihm fast in die Kehle gerutscht wären. Und urplötzlich war der Kampf in vollem Gange.
Amun war endlich auf; er saß etwas abseits am Rand, polierte eine Axt und beobachtete … irgendwen. Sabin war sich nicht sicher, wen. Noch nicht. Er vermutete, dass es eine der Harpyien war.
„Wen hast du denn bisher aufgestellt?“ Sabin sah Torin nicht an.
„Du bist der Erste, den ich frage.“
Bevor er sich herausreden konnte, erklärte Sabin: „Ich gehe mit.“ Der Krieg kam zuerst. „Besorg mir fünf weitere Krieger. Ich will versuchen, eine der Harpyien zu überreden.“ So blieben zwei Schwestern hier, die Gwen beschützen konnten, und zugleich hatte er einen kleinen Vorteil.
Torin nickte und ging.
Die Entscheidung war gefallen, und Sabin ging mit schneilen Schritten auf Kaia zu. „Du verhätschelst sie ja“, herrschte er sie an.
Das war vielleicht nicht gerade der richtige Weg, um sich die Frau zur Freundin zu machen, aber das war ihm egal. Gwens Zukunft und Gesundheit waren viel zu wichtig. Und Sabin war sogar heilfroh, dass er der Harpyie für ihre Güte nicht noch dankte.
Die rothaarige Harpyie wirbelte herum und warf einen Dolch, der auf sein Herz gezielt war. „Was weißt du denn schon? Ich habe sie sechsmal zu Boden geworfen.“
Ja, und jedes einzelne Mal hätte er am liebsten Kaia umgeworfen. Ein tiefer Laut drang aus seiner Kehle. Er umfasste den Dolchgriff, kurz bevor ihn die Klinge traf. „Kurz bevor du zuschlägst, knickst du mit den Ellbogen ein. Du bringst ihr weder die richtige Technik bei, noch erlaubst du ihr, deine Stärken kennenzulernen und ihnen entsprechend zu begegnen. Verflucht noch mal, du zeigst ihr, dass es falsch ist, unfair zu kämpfen und um jeden Preis gewinnen zu wollen. Und jetzt … hau einfach ab und such dir jemand anderes zum Spielen. Ich übernehme Gwens Unterricht. Du hast schon genug Schaden angerichtet. Und falls du es wagen solltest einzuschreiten, wirst du es bitter bereuen. Ganz egal, was du siehst, womit du nicht einverstanden bist oder was dir nicht gefällt – du hältst dich zurück. Das hier ist nur zu ihrem Besten.“
Kaia stand der Mund offen, so als könnte sie nicht glauben, dass jemand so mit ihr sprach. Dann trat sie dicht an ihn heran, Mordlust schimmerte in ihrem Blick, sie hatte die Krallen weit ausgefahren, und er sah ihre spitzen Zähne, die im Sonnenlicht blitzten. „Ich werde deinen Hals knicken, als wäre er ein Zweig, Dämon.“
„Versuch’s nur“, erwiderte er und winkte ihr spöttisch zu.
Auf einmal brach ein ohrenbetäubender Schrei aus Gwen hervor.
Er und Kaia waren wie erstarrt. Selbst Taliyah und Bianka unterbrachen ihr Sparring, um ihre jüngste Schwester anzusehen. Gwen war in Hockstellung gegangen und ließ ihre rothaarige Schwester keine Sekunde aus den – mittlerweile kohlrabenschwarzen – Augen.
„Willst du mich verarschen, verdammt noch mal?“ Kaia keuchte. „Ich glaube, sie will mich angreifen. Was habe ich denn getan?“
„Ihren Mann bedroht“, antwortete Taliyah kühl. „Selbst schuld. Ich hoffe, sie schlägt dir ihre Krallen bis in die Wirbelsäule.“
Ihren Mann. Allein die Worte erregten Sabin sichtlich, was ihm ziemlich peinlich war. Er konnte nicht zulassen, dass sie ihrer Schwester etwas antat. Das würde Gwen sich niemals verzeihen. Sabin ging mit langsamen, gleichmäßigen Schritten zu ihr. „Gwen, beruhig dich jetzt. Hörst du mich?“
Sie schnappte nach ihm, und um ein Haar hätten ihre messerscharfen Zähne sein Kinn perforiert. Allein seine schnellen Reflexe hatten ihn vor einer schweren Bisswunde bewahrt. „Gwendolyn. Das war nicht gerade nett. Soll ich dich auch mal beißen?“
„Ja.“
Okay, jetzt war er härter als steinhart. „Ich werde nur leider nichts mehr haben, womit ich zubeißen kann, wenn du dich nicht sofort beruhigst.“
Diese Worte erreichten sie irgendwie. Sie leckte sich über die Lippen, ihre Augen nahmen wieder ihre normale Farbe an. Dann richtete Gwen sich auf. Ein kräftiges Schütteln packte sie, und sie begann zu schwanken. Sabin berührte sie nicht, noch nicht. Dann hätte er nämlich nicht mehr aufhören wollen, und sie hatten ja Zeugen.
Sie atmete tief und stockend durch die Nase ein. „Es tut mir leid“, sagte sie zerknirscht, was ihn an den Zwischenfall in der Pyramide erinnerte. „Es tut mir leid. Ich wollte nicht … ich hätte nicht… Habe ich jemanden verletzt?“ Aus wässrigen Augen sah sie ihn an – sie schimmerten golden wie die Sonne und zugleich grau wie Sturmwolken.
„Nein.“
„Ich … ich gehe zurück in unser Zimmer. Ich …“
„Du bleibst hier und kämpfst gegen mich.“
„Was?“ Mit einem schockierten Gesichtsausdruck stolperte sie zurück. „Wovon redest du denn da? Ich dachte, ich soll mich beruhigen?“
„Sollst du ja auch. Vorerst.“ Er packte sein Hemd und zog es sich über den Kopf. Dann warf er den Stoff neben seinen Füßen zu Boden. Sofort glitt ihr Blick tiefer, bis zu seinen Rippen, wo die rauen Flügelspitzen seines Schmetterlingstattoos endeten. „Wir werden kämpfen. Du darfst niemanden verletzen außer mir.“
„Ich würde mir lieber deine Tätowierung genauer ansehen“, erwiderte sie heiser. „Unter der Dusche hatte ich keine Gelegenheit, die Linien zu verfolgen, dabei habe ich davon geträumt.“
Gütiger Herr. Wenn das keine formvollendete Anmache war … Statt sie – wie er es jetzt am liebsten getan hätte – fest zu stoßen, zwang er sich, ihre Knöchel mit einem gezielten Tritt gegeneinanderzuschlagen und Gwen zu Fall zu bringen. „Lektion eins: Ablenkung ist dein Todesurteil.“
Sie keuchte und sah ungläubig zu ihm hinauf. Oder fühlte sie sich sogar … verraten?
Oh Götter. Hatte er das wirklich getan? Stähl dein Herz, Arschloch. Behandle sie wie Cameo. Wie ihre Schwestern. Wie jede andere Frau.
Sie wird dich hassen. Sie wird…
Kein Wort mehr.
Aber…
Ruhe!
„Du hast mir die Füße weggetreten“, sagte sie ungläubig.
„Genau.“ Und er würde noch viel, viel mehr tun, ehe sie fertig waren. Es ging nicht anders. Er durfte keine Gnade walten lassen. Sonst würde sie es nie lernen. Sonst war sie niemals sicher.
Zum Glück wahrten ihre Schwestern Abstand und versuchten nicht, ihn aufzuhalten.
„Steh auf.“ Er hielt ihr eine Hand hin, und sie ergriff sie. Doch statt ihr auf die Füße zu helfen, riss Sabin Gwen an sich und fixierte ihre Arme seitlich an ihrem Körper. Verwirrt sah sie ihn an. „Lektion zwei: Dein Gegner will dir niemals helfen. Vielleicht täuscht er Hilfsbereitschaft vor, aber du darfst ihm nie und nimmer glauben.“
„Schon klar. Und jetzt lass mich los.“ Sie zappelte, und er ließ sie los, wodurch sie wieder auf den Boden fiel. Sogleich sprang sie auf und warf ihm einen wilden Blick zu. „Du wirst mich umbringen!“
„Nicht so dramatisch, bitte. Nimm dich mal zusammen. Du bist doch kein Mensch. Egal, was ich dir vorgebe, du wirst damit fertig. Und das weißt du tief in deinem Innern ganz genau.“
„Das werden wir ja noch sehen“, murmelte sie.
Die nächste Stunde lang nahm er sie in die Mangel. Nahkampf ohne Waffen und mit Dolchen. Er musste Gwen zugutehalten, dass sie sich weder beschwerte, noch ihn anflehte, aufzuhören. Sie zuckte mehrmals zusammen, wimmerte einmal, und zweimal dachte er, sie bräche gleich in Tränen aus. Seine Brust hatte sich jedes Mal schmerzhaft zusammengezogen, und er hatte sich dabei ertappt, wie er sich zurückgehalten und nicht seine ganze Kraft eingesetzt hatte.
Genauso wie Kaia.
Weichet. Genau das war er. Eine Schande für sich und seine Männer. Er war bereit aufzuhören, etwas, das ihm zuvor noch nie geschehen war. Etwas, dessentwegen man ihn für den Rest seines ewigen Lebens aufziehen würde.
Alle Herren, alle Harpyien, William, Ashlyn, Anya und Danika sahen nun gebannt zu. Einige bewarfen sie mit Popcorn. Andere gaben Wetten ab, wer wohl gewinnen würde. William flirtete hemmungslos mit Gwens Schwestern. Gwen zitterte, jeder ihrer Schläge kam zögerlich. In einem echten Kampf würde sie keine fünf Minuten überleben.
„Du bist meilenweit davon entfernt, mir wehzutun“, brüllte er. „Komm schon. Mach mir das Leben zur Hölle. Ich greife dich an, und du nimmst es einfach hin. Du lässt mich einfach machen. Du begrüßt es geradezu.“
„Halt die Klappe!“ Ihr rann der Schweiß über das Gesicht, und das Hemd klebte an ihrer Brust. „Ich begrüße dich keineswegs. Ich hasse dich.“
Jeder seiner Schützlinge hatte diesen Satz früher oder später gesagt, doch dieses Mal spürte er die Worte zum ersten Mal in seiner Seele – wie einen giftigen Stachel. „Warum hast du dann noch nicht aufgegeben? Warum tust du dir das an? Warum versuchst du, kämpfen zu lernen?“, wollte er von ihr wissen, während er sie wieder leicht schubste. Er wollte, dass sie laut aussprach, warum sie sich so sehr anstrengte. Vielleicht würde es sie motivieren. „Du könntest verletzt werden. Von mir. Von den Jägern.“
Sie ging zu Boden, sprang jedoch schnell wieder auf und spuckte Dreck aus. Ihr Körper war von Kopf bis Fuß mit Schnitten und Blutergüssen übersät. Nach unzähligen Stürzen hing ihr die Jeans in Fetzen von den Beinen.
„Die Jäger verdienen den Tod.“ Sie rührte sich nicht vom Fleck und atmete schwer. „Außerdem bin ich schon verletzt worden. Und ich habe es überlebt. Die Wunden sind verheilt.“
Dank seines Blutes. Etwas Aufregenderes als einer Frau seinen Lebenssaft zu geben, hatte er noch nie getan. Er wollte ihr mehr geben, jeden Tropfen. Mit jeder Stunde, die verstrich, wuchs sein Verlangen danach.
Sabin fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und wischte sich den Schmutz ab. „So funktioniert das nicht.“ Sie würde nicht mehr lange durchhalten, und er war sich nicht sicher, wie viel er ihr noch zumuten könnte. „Wir müssen was anderes ausprobieren.“
„Das Einzige, was wir noch nicht probiert haben, ist, meine Harpyie freizulassen. Und das würdest du bereuen. Sie ist nämlich ganz wild darauf, dich in die Finger zu kriegen.“ Sie klang, als würde sie es genießen, die Worte auszusprechen.
Seine Augen wurden größer. Natürlich! „Du hast recht. Wenn du vorhast, die Jäger zu bekämpfen …“ Er war sich gar nicht mehr so sicher, ob er ihr das erlauben wollte – stopp, woher kam dieser Gedanke? „… musst du lernen, deine Harpyie schnell auf den Plan zu rufen. Und das bedeutet, dass du sie jetzt rufen und mit ihr trainieren musst.“
Jedes bisschen Farbe wich aus Gwens wunderschönem Gesicht. Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe doch nur gestichelt und versucht, dir Angst einzujagen. Das war doch nicht mein Ernst.“
„Vielleicht möchtest du dir die Sache lieber noch mal überlegen, Dämon“, rief Bianka von der Seitenlinie und warf sich ihr schwarzes Haar über die Schulter. „Sie hat noch nicht gelernt, ihre Harpyie zu kontrollieren. Wenn du sie wütend machst, frisst sie womöglich sogar dich auf.“
Er drehte sich zur Seite, sodass Gwen sein Profil sah. Er hoffte, sie würde ihn angreifen und damit beweisen, dass sie ihm zugehört hatte und in dem Moment zuschlagen würde, in dem ihr Gegner abgelenkt war. Aber sie tat es nicht. Zu weichherzig, dachte er. „Und du schon? Du hast gelernt, sie zu kontrollieren?“
Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Ja. Hat nur zwanzig Jahre gedauert. Aber im Gegensatz zu Gwen mag ich diesen Teil von mir.“
Na toll. In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass er Gwen nicht zurücklassen konnte, wenn er nach Chicago reiste, auch nicht mit zwei ihrer Schwestern als Leibwächterinnen. Falls sie versehentlich die Kontrolle über ihre Harpyie verlor, würde Gwen womöglich die Krieger verletzen, die in der Burg blieben. Anscheinend war er der Einzige, der sie beruhigen konnte. Aber konnte er sie mitnehmen und irgendwo in Sicherheit lassen, während er in die Schlacht zog? Allein? Ohne Schutz?
Mist. Er musste mit ihr hierbleiben.
Überraschenderweise ärgerte diese Einsicht ihn nicht, sondern erleichterte ihn.
„Und wie hast du es am Ende gelernt?“, wollte er von Bianka wissen.
„Übung. Reue.“ Das letzte Wort sprach sie mit einem Hauch von Traurigkeit aus. Wahrscheinlich hatte sie Leute getötet, die ihr etwas bedeutet hatten. Also genau das, wovor Gwen sich so fürchtete.
Er konzentrierte sich voll und ganz auf Gwen. „Wir müssen wohl oder übel einen Schnellkurs durchführen. Also lass die Harpyie raus, damit ich ein bisschen mit ihr spielen kann.“
„Nein.“ Sie schüttelte vehement den Kopf, ging sogar ein paar Schritte zurück und streckte dabei abwehrend die Arme aus, um ihn auf Abstand zu halten. „Auf keinen Fall.“
Also gut. Er knackte mit dem Kiefer. Das ist zu ihrem Wohl. Tu es. Du musst es tun. Tiefes Luftholen, und dann: Zweifel, schnapp sie dir!
Glücklich, endlich ohne Einschränkung an die Arbeit gehen zu dürfen, ergriff der Dämon von ihren Gedanken Besitz. Gestern hat er deine Schwester auf ein Bett gedrückt. Sie ist so hübsch und so stark. Ob er sich wohl wünscht, du wärst niemals wieder aufgewacht? Ob er sich wohl wünscht, er hätte dir nie sein Blut zu trinken gegeben, um dich wieder aufzupäppeln? Vielleicht stellt er sich ja sogar in diesem Augenblick vor, mit Kaia im Bett zu sein – ihre Haare auf seinen Oberschenkeln, während sie ihn aussaugt. Vielleicht nimmt er dich deshalb so hart ran – damit du ihn aus Wut verlässt und deiner Schwester das Feld überlässt. Oder vielleicht ist er darauf aus, dir solche Schmerzen zu bereiten, dass du nicht protestieren wirst, wenn er sich entschließt, einen neuen Versuch bei ihr zu starten. Heute Abend. Die ganze Nacht.
Eben noch hatte Gwen vor ihm gestanden. Jetzt packte sie ihn und flog mit ihm durch die Luft. Der Wald zischte unscharf an ihm vorbei. Nach einer Ewigkeit knallte sein Rücken gegen einen Baumstamm, und Sabin konnte nur noch davon träumen, regelmäßig zu atmen.
Sie fletschte die Zähne und zerriss ihm mit den Krallen die Hose. Er packte Gwen bei den Schultern, unsicher, ob er sie wegstoßen oder an sich ziehen sollte. Sie war durch und durch Harpyie, ihre Augen glichen einem Sternenlosen Nachthimmel und ihr Haar einer Löwenmähne, die den wilden Ausdruck auf ihrem Gesicht einrahmte.
„Gwen. Wir müssen zurück aufs Feld.“
„Beweg dich nicht“, sagte sie mit hoher Stimme. Und dann schlug sie ihm auch schon die Zähne tief in den Hals, und es gab nichts, was er tun konnte, um sein Leben zu retten. „Du gehörst mir. Mir!“