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Moonlicht Flicht

Es war noch zu früh für den Tee, doch die Sonne hing schon dicht über den nackten Rotbuchen; die Dunkelheit kam mit jedem Tag früher. Jamie war auf dem Rückweg von der etwas entfernt liegenden Scheune, in der die Pferde standen, die zur Feldarbeit eingesetzt wurden. Sie wurden von drei jungen Männern aus dem Dorf versorgt, die sie fütterten, putzten und ihre Ställe ausmisteten; Jamie schaute täglich vorbei, wenn sie vom Feld hereinkamen, um sie auf Verletzungen, Lahmheiten, auf Husten oder auf andere Erkrankungen zu untersuchen, denn die Pferde der Farm waren auf ihre eigene Weise fast genauso wertvoll wie die Zucht- und Reitpferde.

Joe Gore, einer der Farmarbeiter, stand draußen vor der Scheune und hielt nervös nach ihm Ausschau. Sobald er Jamie sah, lief er unbeholfen auf ihn zu und wedelte mit den Armen.

»Fanny ist weg!«, entfuhr es ihm aufgeregt.

»Wie?«, fragte Jamie verblüfft. Fanny war ein belgisches Kaltblut, eine Falbstute, die fast einen Meter achtzig maß. Nicht so leicht zu verlieren, selbst im Dämmerlicht.

»Woher soll ich das wissen?« Joe hatte Angst und fühlte sich angegriffen. »Ike ist gegen einen Stein gefahren, und dabei hat sich ein Rad verbogen. Also hat er sie ausgespannt und sie dagelassen und ist mit dem Rad zur Schmiede. Ich will sie dann holen, und sie ist einfach nicht mehr da.«

»Und die Mauern und Hecken habt Ihr abgesucht, aye?« Jamie war bereits in Richtung des Kornfelds unterwegs, dicht gefolgt von Joe. Das Feld war nicht eingezäunt, sondern an drei Seiten von Steinmauern begrenzt und an der Nordseite von einem Windbrecher aus Büschen. Die Vorstellung, dass Fanny über die Mäuerchen sprang, grenzte ans Absurde, aber es war möglich, dass sie die Hecke durchbrochen hatte; sie war nun einmal ein kräftiges Pferd.

»Bin ich etwa ein blutiger Anfänger? Natürlich habe ich das.«

»Nun, dann versuchen wir es auf der Straße.« Jamie wies mit dem Kinn auf die Straße, die an der Ostseite des Anwesens entlanglief. Sie bildete die Grenze von Helwater und verlief in einiger Höhe, so dass man von dort eine gute Aussicht auf die weiter entfernten Felder hatte.

Doch kaum hatten sie die Straße erreicht, als Joe einen Ausruf der Erleichterung ausstieß und die Hand ausstreckte. »Da ist sie ja! Wer zum Teufel sitzt denn da auf ihr?«

Jamie blinzelte kurz in die Glut der untergehenden Sonne und erschrak – denn die kleine Gestalt, die auf Fannys Rücken saß und dem gemütlichen Kaltblut frustriert in die gewaltigen Flanken trat, war Betty Mitchell.

Als sie sie erspähten, war Fanny noch friedlich vor sich hin getrabt, doch jetzt fuhr sie mit dem Kopf auf, blähte die Nüstern und fiel in donnernden Galopp. Betty schrie auf und fiel herunter.

Jamie überließ Joe das Pferd, und der Mann packte der Stute kräftig in die Mähne und wurde halb zur Scheune geschleift, weil Fanny schnurstracks auf ihre Futterkrippe zuhielt. Jamie hockte sich neben Betty auf den Boden, sah aber mit Erleichterung, dass sie bereits aufzustehen versuchte. Dabei stieß sie die undamenhaftesten Flüche aus, die ihm zu Ohren gekommen waren, seit Claire nicht mehr da war.

»Was …«, begann er und griff ihr unter die Arme, doch sie wartete nicht ab, bis er fertig war.

»Isobel!«, keuchte sie. »Der verfluchte Anwalt hat sie! Ihr … Du musst ihnen nach!«

»Wohin denn?« Er stellte sie fest auf den Boden, doch sie schwankte alarmierend, und er packte ihre Arme, um sie zu stützen. »Du meinst Mr Wilberforce?«

»Wen denn sonst?«, fuhr sie ihn an. »Er wollte sie gerade mit dem Gig mitnehmen, als ich sie vom Fenster aus gesehen habe. Ich bin nach unten gerannt und habe sie gefragt, was sie sich wohl denkt? Auf keinen Fall würde sie allein mit ihm wegfahren – Lady D würde mir den Kopf abreißen!«

Sie hielt inne, um keuchend Luft zu holen und sich zu sammeln.

»Sie hat versucht, mich zum Bleiben zu überreden, aber er hat gelacht und gesagt, ich hätte ja recht; es ginge nicht an, dass eine unverheiratete junge Frau ohne Anstandsdame mit einem Mann unterwegs ist. Sie hat zwar eine Grimasse geschnitten, aber dann hat sie ihn angekichert und gesagt, na ja, dann könnte ich wohl mitkommen.«

Bettys Haar hing ihr in dicken Strähnen ins Gesicht. Sie strich eine davon mit einem gereizten »Tsch!« beiseite, dann drehte sie sich um und zeigte auf die Straße.

»Wir kamen zur Grenze von Helwater, und er hält an, um sich die Aussicht zu betrachten. Wir sind alle ausgestiegen, und ich stehe noch da und denke, es ist so kalt, und ich habe nur mein Schultertuch dabei, und ich ärgere mich über Isobel, weil sie so etwas Idiotisches tut. Und plötzlich packt mich Mr Wilberforce an den Schultern und schubst mich in den Graben, der verfluchte Mistkerl! Sieh dir das nur an. Da!« Sie packte eine Handvoll ihres verdreckten Rockes und zeigte Jamie einen langen Riss.

»Wohin ist er denn gefahren, weißt du das?«

»Nein, aber ich kann es mir denken! Nach Gretna Green, verdammt, da sind sie hin!«

»Grundgütiger!« Er holte tief Luft und versuchte zu überlegen. »Das schafft er heute Abend aber nicht mehr – nicht mit einem Gig.«

Sie zuckte ungeduldig mit den Achseln. »Was stehst du hier herum? Du musst sofort hinterher!«

»Ich? Aber warum denn ich?«

»Weil du schnell reiten kannst! Und weil du stark genug bist, um sie wieder mitzubringen! Und weil du es für dich behalten kannst!«

Als er sich immer noch nicht in Bewegung setzte, stampfte sie mit dem Fuß auf. »Bist du taub? Du musst sofort los! Wenn er sie entjungfert, ist sie geliefert. Der Kerl ist schon verheiratet.«

»Was? Verheiratet?«

»Willst du wohl aufhören, was zu sagen wie ein verflixter Papagei?«, fuhr sie ihn an. »Ja! Vor fünf oder sechs Jahren hat er ein Mädchen in Perthshire geheiratet. Sie hat ihn verlassen und ist wieder zu ihren Eltern gezogen, und er ist nach Derwentwater gekommen. Ich weiß es von … ach, ist ja auch egal! Geh doch bitte einfach!«

»Aber du …«

»Ich komme schon zurecht! LOS!«, brüllte sie, und ihr Gesicht leuchtete scharlachrot im Funkeln der untergehenden Sonne.

Also ging er los.

SEIN ERSTER IMPULS WAR ES, zum Haus zurückzukehren, in den Reitpferdestall. Aber das hätte zu lange gedauert – und ihn zu umständlichen Erklärungen gezwungen, die nicht nur seinen Aufbruch verzögert hätten, sondern den ganzen Haushalt geweckt hätten.

»Und du kannst es für dich behalten«, hatte Betty gesagt.

»Aye, bestimmt«, murmelte er und hielt im Laufschritt auf die Scheune zu. Doch wenn es überhaupt möglich war, einen offenen Skandal zu verhindern, musste er zugeben, dass wohl nur er es konnte, so wenig ihm der Gedanke auch gefiel.

Es war undenkbar, Wilberforce auf einem der Arbeitspferde zu verfolgen, selbst wenn sie nicht von ihrem Tagewerk geschafft gewesen wären. Doch die Farm hatte zwei ordentliche Maultiere, Whitey und Mike, die den Heuwagen zogen. Sie waren zumindest an den Sattel gewöhnt und hatten den Tag auf der Weide verbracht. Vielleicht war es ja möglich …

Bis sein Kopf an diesem Punkt anlangte, suchten seine Finger längst das Zaumzeug nach einer Trense ab, und zehn Minuten später saß er auf dem Rücken des ebenso verblüfften wie beleidigten Whitey und trabte auf die Straße zu, während ihnen die drei Stallknechte mit offenem Mund hinterherstarrten. Er sah Betty in der Ferne auf das Haus zuhumpeln. Ihre ganze Gestalt strahlte pure Entrüstung aus.

Er selbst empfand nichts anderes. Sein erster Impuls war der Gedanke, dass sich Isobel diese Grube selbst gegraben hatte – doch sie war schließlich noch furchtbar jung und verstand nichts von Männern, schon gar nicht von einem Schurken wie Wilberforce.

Und sie würde in der Tat geliefert sein, wie Betty es so wenig elegant formuliert hatte, wenn Wilberforce sie erst entjungfert hatte. Ihr Leben würde schlicht und ergreifend ruiniert sein. Und es würde ihrer Familie Schaden zufügen – schweren Schaden. Die Dunsanys hatten doch schon zwei ihrer drei Kinder verloren.

Er presste die Lippen fest aufeinander. Er war es Geneva Dunsany und ihren Eltern schuldig, ihre kleine Schwester zu retten.

Er wünschte, er hätte daran gedacht, Betty aufzutragen, dass sie Lord John aufsuchte und ihn wissen ließ, was zu tun war – doch dazu war es jetzt zu spät, und er hätte ohnehin nicht auf Grey warten können. Die Sonne war hinter den Bäumen versunken, obwohl es noch hell am Himmel war; ihm blieb etwa noch eine Stunde, bis es vollständig dunkel war. Vielleicht erreichte er bis dahin ja die Kutschenroute.

Wenn Wilberforce nach Gretna Green wollte, just jenseits der schottischen Grenze, wo er Isobel ohne die Zustimmung ihrer Eltern heiraten konnte – und ohne dass ihm jemand Fragen stellte –, dann musste er die Route nehmen, die die Kutschen von London nach Edinburgh nahmen. Sie verlief einige Meilen von Helwater entfernt. Und sie war von Wirtshäusern gesäumt.

Nicht einmal ein Heiratsschwindler auf der Flucht würde versuchen, bei Nacht bis nach Gretna zu fahren. Sie würden irgendwo übernachten und am Morgen weiterfahren müssen.

Möglicherweise erwischte er sie ja noch rechtzeitig.

IM DUNKELN EIN MAULTIER ZU REITEN war zwar um einiges sicherer als einen Gig zu fahren, doch auch das war nichts, was ein vernünftiger Mensch mit Begeisterung tat. Er zitterte – und das nicht nur vor Kälte, auch wenn er nichts als eine Lederweste über dem Hemd trug – und fluchte auf eine Weise, bei der selbst Betty nicht mithalten konnte, als er schließlich die Lichter der ersten Poststation sah.

Er übergab das Maultier an einen Stallknecht, damit er es tränkte, und fragte unterdessen, ob hier vielleicht ein Gig mit einem gut gekleideten Mann und einer jungen Frau gehalten hatte?

Nein, doch der Stallknecht hatte ein solches Fahrzeug vorbeifahren gesehen, kurz bevor es dunkel wurde, und den Fahrer noch für einen Idioten gehalten.

»Aye«, sagte Jamie knapp. »Wie weit ist es bis zum nächsten Wirtshaus?«

»Zwei Meilen«, erwiderte der Mann und sah ihn neugierig an. »Ihr seid hinter ihm her, nicht wahr? Was hat er denn getan?«

»Nichts«, versicherte ihm Jamie. »Er ist Anwalt, unterwegs ans Sterbebett eines Klienten, der sein Testament noch ändern möchte. Er hat einige Papiere vergessen, die er braucht, also hat man mich hinterhergeschickt, um sie ihm zu bringen.«

»Oh.« Wie jeder andere Mensch interessierte sich auch der Stallknecht nicht für Rechtsangelegenheiten.

Jamie hatte kein Geld, also teilte er sich das Wasser mit dem Maultier, indem er etwas mit der Hand aus der Tränke schöpfte. Der Stallknecht nahm es ihm übel, dass er kein Geld hatte, doch Jamie baute sich nur bedrohlich vor ihm auf, und der Stallknecht ging auf Abstand und beschimpfte ihn lediglich murmelnd aus der sicheren Ferne.

Weiter ging’s, nach einem kurzen Kräftemessen zwischen Jamie und dem Maultier, und ab in die Nacht. Der Halbmond war gerade aufgegangen, und als er nun höher stieg, konnte Jamie zumindest den Straßenrand sehen und brauchte daher nicht zu befürchten, sich im Dunklen zu verlaufen.

Biddle war keine Poststation, sondern eine kleine Ansiedlung mit einem Wirtshaus – vor dem der Gig aus Helwater mit losen Leinen stand. Jamie sprach ein rasches »Ave Maria« zum Dank, bat mit einem »Vaterunser« um Kraft und schwang sich grimmig aus dem Sattel.

Er band Whitey an ein Geländer und hielt inne, um sich das stoppelige Kinn zu reiben und zu überlegen, wie er vorgehen sollte. Auf die eine Weise, wenn sie sich in getrennten Zimmern befanden – jedoch anders, wenn sie zusammen waren. Und wenn Anwalt Wilberforce der Mann war, für den ihn Betty hielt, hätte Jamie auf zusammen gewettet. Der Mann würde es nicht riskieren erwischt zu werden, bevor er nicht Tatsachen geschaffen hatte; er würde die Eheschließung nicht abwarten, bevor er das Mädchen deflorierte, denn wenn er sie erst entjungfert hatte, gab es kein Zurück mehr.

Am einfachsten würde es sein, wenn er einfach hineinspazierte und zu erfahren verlangte, wo sich Wilberforce und Isobel aufhielten. Doch wenn es nicht nur darum ging, die sturköpfige Kleine vor dem Verderben zu retten, sondern auch darum, einen Skandal zu verhindern, war es besser, wenn er das nicht tat. Stattdessen begab er sich lautlos zur Rückseite des Wirtshauses und betrachtete die Fenster.

Es war ein kleines Haus: nur zwei Zimmer in der ersten Etage, und nur in einem davon brannte Licht. Die Fensterläden waren geschlossen, doch er sah einen Schatten an dem Spalt in der Mitte vorbeigehen, und während er in der scharf riechenden Dunkelheit stand und wartete, hörte er Isobel kichern, schrill und nervös, und Wilberforce antwortete brummend.

Also war es noch nicht zu spät. Er holte tief Luft und spreizte die Hände, die steif vor Kälte und vom langen Reiten waren.

Ein alter Liedtext aus den Highlands ging ihm durch den Kopf, während er den baufälligen Schuppen hinter dem Wirtshaus durchsuchte. Die Melodie kannte er zwar nicht, doch es war eine Ballade, und er erinnerte sich an die Geschichte, in der es um eine entführte Braut ging.

in einem Bett, da lagen sie, sie lagen in einem Bett.

Die junge Frau in dem Lied wollte nicht entführt werden und hatte sich heftig gegen die Versuche des Möchtegernbräutigams gewehrt, die Ehe zu vollziehen.

Bevor du mich entjungfern kannst, wehr’ ich mich bis zum Morgen, wehr’ ich mich bis zum Morgen, murmelte er geistesabwesend, während er die Wände abtastete. Ein ordentliches Bierfass würde ihm reichen; er war groß genug, um von dort an die Fensterbank zu kommen, dachte er.

Die tapfere Maid hatte gewonnen – was sie, so dachte Jamie, genauso sehr der Unentschlossenheit ihres Möchtegerngatten verdankte wie ihren eigenen Bemühungen – und bei Tagesanbruch hatte sie die Schlafkammer triumphierend verlassen und darauf bestanden, dass ihre Entführer sie wieder heimbrachten, … als Jungfrau, wie ich kam, ich kam – als Jungfrau, wie ich kam.

Nun, noch hatte er niemanden kreischen gehört; noch bestand also die Chance, dass Isobel im selben Zustand heimkehren würde. Er fand zwar kein geeignetes Fass, stieß aber noch auf etwas Besseres – eine Dachdeckerleiter, die auf der Seite lag. Diese trug er hinaus, so leise er konnte, und lehnte sie vorsichtig an die Wand.

Aus dem Wirtshaus drangen Geräusche – das übliche Klappern und Klirren und Stimmengewirr, und ein Bratengeruch, der ihm trotz seiner Anspannung das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Er schluckte und setzte den Fuß auf die Leiter.

Isobel schrie.

Der Schrei wurde abrupt abgeschnitten, als hätte ihr jemand die Hand über den Mund gelegt, und drei Sekunden später trat Jamie den Fensterladen ein und stürzte sich kopfüber in das Zimmer.

Anwalt Wilberforce jaulte erschrocken auf. Isobel folgte seinem Beispiel. Der Mann hatte sie auf das Bett gedrückt und sich im Hemd auf sie gelegt, so dass sein haariger Arsch obszön zwischen ihren weißen Oberschenkel hervorragte, die im Kerzenschein schimmerten.

Jamie war mit zwei Schritten am Bett, packte Wilberforce bei den Schultern, zog ihn von Isobel herunter, versetzte ihm einen Hieb ins Gesicht und schleuderte ihn gegen die Wand. Er griff nach dem Kerzenständer und bückte sich, um hastig einen Blick zwischen Isobels Beine zu werfen, doch es waren weder Blut noch sonstige Anzeichen eines unmittelbar zurückliegenden Eindringens zu sehen; also stellte er den Kerzenständer zurück, zog ihr das Nachthemd über die Beine, hob sie vom Bett und hielt auf das Fenster zu. Dann überlegte er es sich und kehrte noch einmal um, um eine Decke zu holen.

Jemand rief die Treppe hinauf und wollte wissen, ob etwas nicht stimmte.

Jamie sah Wilberforce mit entblößten Zähnen an und fuhr sich mit der Handkante über die Kehle, um ihn zum Schweigen aufzufordern. Der Anwalt lag mit dem Rücken zur Tür auf dem Boden, doch bei dieser Geste versuchte er sogar noch, rückwärts durch die Tür zu kriechen.

»Ich kann nicht, ich kann nicht«, wiederholte Isobel atemlos. Er wusste nicht, ob sie damit sagen wollte, dass sie die Leiter im Dunklen nicht hinuntersteigen konnte oder ob sie einfach nur hysterisch war. Doch er hatte keine Zeit, sie zu fragen. Er warf sich das Mädchen über die Schulter, warf ihr die Decke über den Rücken, trat auf die Fensterbank und kletterte rückwärts in die Nacht hinaus.

Die Leiter war zwar stabil genug für ihren eigentlichen Zweck, doch für flüchtende Paare war sie nicht gebaut. Die Sprosse zerbrach ihm unter dem Fuß, und er schlitterte den Großteil des Weges bis zum Boden, voll Schrecken an die Leiterstangen geklammert, während die Leiter seitwärtsrutschte. Er landete im Stehen und ließ sowohl die Leiter als auch Isobel los. Die Leiter fiel krachend zu Boden, Isobel mit einem dumpfen Aufprall und einem erstickten Schrei.

Er hob die Kleine auf und rannte auf das Maultier zu. Isobel bohrte ihm jammernd die Fingernägel in den Hals. Er versetzte ihr einen Klaps, damit sie aufhörte, setzte sie auf das Maultier, band es los und war schon fast auf der Straße, als sich die Tür des Wirtshauses öffnete und eine Männerstimme – aus der sicheren Zuflucht des hell erleuchteten Schankraums – im Tonfall der Vernichtung sagte: »Ich sehe dich, du Schuft! Ich sehe dich!«

Auf dem Rückweg nach Helwater sagte Isobel kein Wort.

LORD JOHN LAG IM BETT und las gemütlich in einer Romanze von Eliza Haywood, als er es draußen im Flur heftig rascheln und rumpeln hörte. Tom war schon lange in der Dachkammer der Dienstboten zu Bett gegangen, daher warf Grey die Bettdecke zurück und griff nach seinem Morgenrock. Kaum hatte er diesen angezogen, als es so heftig an seiner Tür rummste, dass sie erbebte, als ob jemand dagegen getreten hätte.

Was tatsächlich der Wahrheit entsprach.

Er riss die Tür auf, und Jamie Fraser kam herein. Er war triefend nass und trug jemanden in einer Decke. Schwer atmend durchquerte er das Zimmer und legte seine Bürde grunzend auf Greys zerwühltem Bett ab. Die Bürde stieß einen leisen Quietschlaut aus und wickelte sich fest in die Decke.

»Isobel?« Grey sah Fraser verwirrt an. »Was ist denn passiert? Ist sie verletzt?«

»Ihr müsst sie beruhigen und sie wieder dorthin bringen, wo sie hingehört«, sagte Fraser in ziemlich gutem Deutsch. Das erschreckte Grey fast genauso sehr wie sein unerwartetes Eindringen, obwohl ihm sofort die Erklärung dafür einfiel – Isobel sprach Französisch, aber kein Deutsch.

»Jawohl«, erwiderte er mit einem Seitenblick auf Fraser. Er hatte nicht gewusst, dass Fraser Deutsch sprach, und ein kurzer Gedanke an Stephan von Namtzen huschte ihm durch den Kopf. Himmel, was mochten sie in Frasers Hörweite zueinander gesagt haben? Doch das spielte jetzt keine Rolle.

»Was ist denn passiert, meine Liebe?«

Isobel saß zusammengesunken auf der Bettkante und schluchzte heftig. Ihr Gesicht war verquollen und rot, und das nasse blonde Haar hing ihr lose und verworren um die Schultern. Grey setzte sich vorsichtig neben sie und massierte ihr sanft den Rücken.

»Ich bid eid Idiot«, sagte Isobel belegt und vergrub das Gesicht in ihren Händen.

»Sie hat versucht, mit dem Anwalt durchzubrennen – Wilberforce«, sagte Jamie auf Englisch. »Ihre Zofe hat mich alarmiert, und ich bin ihnen gefolgt.« Jamie wechselte wieder ins Deutsche und machte Grey in wenigen Sätzen mit der Lage vertraut, einschließlich seiner Erkenntnisse bezüglich der ersten Ehe des Mannes und der exakten Situation, in der er den Anwalt und Isobel vorgefunden hatte.

»Der Schwanzlutscher war noch nicht in sie eingedrungen, doch sie hat auf jeden Fall einen Schock erlitten«, sagte er und blickte leidenschaftslos auf Isobel hinunter, die sich vor Erschöpfung kaum halten konnte und Grey den Kopf an die Schulter gelegt hatte, während er den Arm um sie legte.

»Bastard«, sagte Grey. Es war auf Englisch und Deutsch dasselbe Wort, und Isobel erschauerte krampfhaft. »Ihr seid in Sicherheit, Kleine«, murmelte er ihr zu. »Keine Sorge. Es wird alles gut.« Die nasse Decke war ihr von den Schultern gerutscht, und er sah mit einem leisen Stich, dass sie ein Nachthemd aus feinstem Batist trug, mit kleinen Intarsienstickereien und einem rosa Bändchen am Hals. Sie hatte alle Vorkehrungen für ihre Hochzeitsnacht getroffen – und war doch nicht im Geringsten darauf vorbereitet gewesen, die Arme.

»Was habt Ihr denn mit dem Anwalt gemacht?«, fragte er Jamie auf Deutsch. »Ihr habt ihn doch nicht umgebracht, oder?« Draußen regnete es in Strömen; er hoffte, dass er nicht hinausmusste, um die Leiche des Mannes zu verstecken.

»Nein.« Fraser führte dies nicht weiter aus, sondern ging vor Isobel in die Hocke.

»Niemand weiß davon«, sagte er leise zu ihr und sah sie eindringlich an. »Und es braucht auch niemand zu erfahren. Niemals.«

Sie wollte ihm nicht ins Gesicht sehen; Grey spürte, wie sie mit sich kämpfte. Doch kurz darauf hob sie den Kopf und nickte, die Lippen fest aufeinandergepresst, damit sie nicht zitterten.

»Ich – danke«, platzte sie heraus. Tränen liefen ihr über die Wangen, doch sie schluchzte und zitterte nicht mehr, und ihr Körper entspannte sich allmählich.

»Schon gut, Kleine«, sagte Fraser immer noch leise zu ihr. Dann erhob er sich und ging zur Tür, wo er zögernd stehen blieb. Grey tätschelte Isobel die Hand und ließ sie allein, um sich von Fraser zu verabschieden.

»Wenn Ihr sie in ihr Zimmer zurückbringen könnt, ohne dass Euch jemand sieht, wird sich Betty um sie kümmern«, sagte Jamie leise zu Grey. Und dann auf Deutsch: »Wenn sie sich beruhigt hat, sagt Ihr, sie soll es vergessen. Das wird sie zwar nicht, doch ich möchte nicht, dass sie das Gefühl hat, in meiner Schuld zu stehen. Das wäre peinlich für uns beide.«

»Dennoch ist es aber so. Und sie weiß, was sich gehört. Sie wird versuchen, Euch irgendwie zu belohnen. Lasst mich darüber nachdenken, wie sich das am besten handhaben lässt.«

»Ich danke Euch.« Doch Fraser klang zerstreut, und sein Blick hing immer noch an Isobel. »Es gibt … Wenn sie …« Plötzlich richtete er den Blick auf Greys Gesicht.

Sein eigenes Gesicht war mit roten Bartstoppeln überzogen und von der Müdigkeit gezeichnet, seine Augen dunkel und blutunterlaufen. Grey konnte sehen, dass die Fingerknöchel seiner linken Hand geschwollen waren und die Haut aufgeschürft war; wahrscheinlich hatte er Wilberforce ins Gesicht geschlagen.

»Es gibt da etwas, das ich gern möchte«, sagte Fraser leise und immer noch auf Deutsch. »Doch es darf nicht nach Erpressung aussehen. Wenn es irgendwie möglich wäre, den Vorschlag taktvoll zu unterbreiten …«

»Ich sehe, dass sich Eure Meinung über meine diplomatischen Fähigkeiten gebessert hat. Was ist es denn?«

Ein Lächeln huschte über Frasers Gesicht, verschwand aber sofort wieder.

»Der Kleine«, sagte er. »Sie zwingen ihn, ein Korsett zu tragen. Ich hätte gern, dass man ihn davon befreit.«

Grey war außerordentlich überrascht, doch er nickte nur.

»Also schön. Ich kümmere mich darum.«

»Aber nicht heute Nacht«, sagte Fraser hastig. Isobel war mit einem kleinen Seufzer auf die Seite gesunken; ihr Kopf lag auf Greys Kopfkissen, ihre Füße baumelten über dem Boden.

»Nein«, pflichtete er Fraser bei. »Nicht heute Nacht.«

Er schloss die Tür leise hinter Fraser und durchquerte das Zimmer, um sich um das Mädchenzu kümmern, das sich schluchzend in seinem Bett vergraben hatte.