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Ich passe

IN DER AMTSSTUBE DES 46STEN INFANTERIEREGIMENTS, LONDON

Mr Beasley war über irgendetwas beunruhigt. Das Alter des Sekretärs, den Hals Regiment beschäftigte, war ein Geheimnis, das sich jeder menschlichen Erkenntnis entzog; er hatte schon ganz genauso ausgesehen – nämlich uralt –, als ihn Lord John vor einem Vierteljahrhundert das erste Mal erblickte. Doch wer ihn gut kannte, konnte die kleinen Fluktuationen in seinem grauen, scharfäugigen Antlitz sehen, wenn ihn etwas über Gebühr beschäftigte, und Grey erspähte mit zunehmender Häufigkeit, wie sein Kinn sacht erbebte oder sein Augenlid kaum merklich zuckte, während Mr Beasleys tintenfleckige Finger penibel die Blätter aus Charles Carruthers’ explosivem Paket wendeten.

Der betagte Sekretär hatte die Aufgabe, eine Liste der Männer zu erstellen, die in den Dokumenten beschuldigt wurden, jene Männer, von denen Carruthers entweder gewusst oder vermutet hatte, dass sie Beziehungen geschäftlicher oder anderer Art mit Siverly unterhalten hatten. Grey sollte sich hier mit Hal und Oberst Harry Quarry – einem der Regimentsobersten und Hals ältestem Freund – zu einer Strategiebesprechung treffen, doch bis jetzt war noch keiner der beiden hier, und so war Grey in Mr Beasleys Arbeitsnische spaziert, um sich ein Buch auszuborgen; der alte Herr hatte eine bemerkenswerte Sammlung französischer Romane in einem seiner Aktenschränke versteckt.

Grey griff nach einem Exemplar von Abbé Prévosts Manon Lescaut und blätterte beiläufig darin herum, während er Beasley verstohlen beobachtete. Er wusste, dass jede Frage zwecklos war; Mr Beasley war der Inbegriff der Diskretion, was nur eine der Eigenschaften war, die ihn für Hal genauso unverzichtbar machten wie für den ersten Grafen von Melton, ihren Vater, der das Regiment gegründet hatte.

Die Beunruhigung nahm zu. Mr Beasley hob seine Feder, um sie in die Tinte zu tauchen, ließ sie aber stattdessen über dem Tintenglas schweben und legte sie dann langsam wieder hin. Er hatte eine Seite gewendet; jetzt drehte er sie wieder um und studierte irgendetwas darauf, die dünnen Lippen so fest zusammengepresst, dass sie fast nicht mehr zu sehen waren.

»Lord John«, sagte er schließlich und setzte seine Brille ab, um kurzsichtig zu Grey aufzublinzeln.

»Ja, Mr Beasley.« Er legte Manon Lescaut augenblicklich beiseite und setzte eine erwartungsvolle Miene auf.

»Wie ich höre, habt Ihr diese Dokumente gelesen?«

»Das habe ich«, sagte Grey vorsichtig. »Vielleicht nicht mit der letzten Aufmerksamkeit, aber …«

»Und Seine Durchlaucht hat sie auch gelesen. Wie – wenn ich das fragen darf – war sein Zustand, nachdem er sie gelesen hatte?«

Grey überlegte. »Nun, er hat nichts zerworfen. Allerdings hat er ausgiebig auf Deutsch geflucht.«

»Ah.« Mr Beasley begriff die Bedeutung dieser Aussage. Seine spachtelförmigen Fingerspitzen trommelten auf dem Tisch; er war aufgeregt. »Könnt Ihr – würdet Ihr sagen, dass er von großer Erregung gepackt wurde?«

»Ja«, sagte Grey prompt.

»Aber er hat nichts … Konkretes … in Bezug auf diese Dokumente gesagt?« Er richtete den Blick auf den geordneten Papierstapel vor ihm.

»Nein …«, sagte Grey langsam. Natürlich hatte Hal das gälische Gedicht bemerkt, wenn es das denn war, doch dieses Blatt hatte man Mr Beasley gar nicht gegeben; es konnte also nicht der Grund für die Bestürzung des Sekretärs sein. Er riskierte eine Frage. »Ist Euch denn etwas aufgefallen?«

Mr Beasley verzog das Gesicht und drehte das Blatt so, dass es Grey zugewandt war.

»Da«, sagte er und zeigte präzise auf die Mitte der Seite. »Seid doch bitte so freundlich und lest diese Liste der bekannten Weggefährten Siverlys.«

Grey leistete seiner Bitte Folge, indem er sich setzte und den Kopf über das Blatt beugte. Drei Sekunden später fuhr sein Kopf auf, und er starrte den Sekretär an. »Grundgütiger!«

»Ja«, sagte Mr Beasley freundlich. »Das habe ich auch gedacht. Ihr glaubt, dass er es nicht gesehen hat?«

»Ich bin mir sicher, dass er es nicht gesehen hat.«

Einen Moment lang starrten sie einander an, denn sie hörten Schritte im Korridor. Grey schluckte.

»Lasst mich das tun«, sagte er, ergriff das Blatt Papier, faltete es hastig zusammen und steckte es ein, dann erhob er sich, um seinen Bruder zu begrüßen.

HAL HATTE draußen eine Kutsche stehen.

»Wir treffen uns bei Almack’s mit Harry«, sagte er.

»Wozu? Er ist doch kein Mitglied dort, oder?« Harry hatte zwar nichts gegen Clubs, doch meistens war er im White’s Chocolate House anzutreffen, das auch Hals bevorzugtes Kaffeehaus war, oder in den Räumen der Gesellschaft zur Wertschätzung des englischen Beefsteaks, die von Grey favorisiert wurde – ein Herrenclub, kein Kaffeehaus. Hin und wieder kam es zu Zusammenstößen zwischen den Stammgästen von White’s und denen von Boodle’s oder Almack’s; die Londoner Kaffeehäuser hatten ein treues Publikum.

»Nein«, sagte Hal angespannt. »Aber Bartholomew Halloran.«

»Und Bartholomew Halloran ist …?«

»Adjutant des Fünfunddreißigsten.«

»Ah. Und damit eine Quelle für Informationen über Gerald Siverly, Major desselben Regiments.«

»Sehr wohl. Er ist ein beiläufiger Bekannter von Harry; sie spielen hin und wieder Karten.«

»Ich hoffe, Harry ist so schlau, überzeugend zu verlieren.« Die Kutsche traf ein Schlagloch und schwankte, so dass sie heftig zur Seite geworfen wurden. Hal rettete sich, indem er den Fuß fest gegen den anderen Sitz rammte, zwischen die Beine seines Bruders. John, dessen Reflexe nicht minder schnell waren, packte den Fuß.

Einen Moment lang schwankte die Kutsche gefährlich zur Seite, doch dann richtete sie sich wieder auf, und sie nahmen ihre ursprüngliche Haltung wieder ein.

»Wir hätten doch zu Fuß gehen sollen«, sagte Hal und machte Anstalten, den Kopf aus dem Fenster zu stecken, um den Kutscher zu rufen. Doch Grey packte ihn am Ärmel, und er sah seinen Bruder überrascht an.

»Nein. Du – nein. Warte.«

Hal starrte ihn einen Moment lang an, dann ließ er sich auf seinen Sitz zurücksinken.

»Was ist denn?« Seine Miene war argwöhnisch, aber gleichzeitig hellwach.

»Das hier«, sagte Grey schlicht, griff in seine Tasche und reichte ihm das zusammengefaltete Blatt Papier. »Lies die Namensliste in der Mitte.«

Hal nahm das Blatt stirnrunzelnd entgegen und begann zu lesen. Grey zählte im Kopf mit. Hal las nicht ganz so schnell.

Fünf … vier … drei … zwei … eins …

»Himmel!«

»So ist es.«

Mehrere Herzschläge lang blickten sie einander schweigend an.

»Von allen Männern, mit denen Siverly zu tun haben konnte …«, sagte Hal und schüttelte heftig den Kopf wie ein Mann, der versucht, einen Fliegenschwarm zu verscheuchen.

»Er muss es einfach sein«, sagte Grey. »Ich meine, es gibt ja gewiss keine zwei davon.«

»Ich wünschte, es wäre so. Doch ich bezweifle es. Edward Twelvetrees ist ja wirklich kein besonders häufiger Name.«

»Es waren einmal drei Brüder«, murmelte Grey vor sich hin. Hal hatte die Augen geschlossen und atmete schwer. »Reginald, Nathaniel … und Edward.«

Hal öffnete die Augen. »Es ist doch immer der Jüngste, der die Prinzessin bekommt, oder?« Er betrachtete John mit einem schiefen Lächeln. »Jüngere Brüder sind die Hölle.«

UM DIESE ZEIT WAR VORMITTAGS in den öffentlichen Räumen von Almack’s viel zu tun. Harry Quarry plauderte freundlich mit einem dünnen Mann, der eine sorgenvolle Miene trug und in dem Grey einen Aktienmakler erkannte. Bei ihrem Anblick verabschiedete sich Harry und ging ihnen entgegen.

»Ich habe uns ein Kartenzimmer reservieren lassen«, sagte Harry, während er Grey die Hand schüttelte und Hal zunickte. »Symington, Clifford und Bingham kommen gleich dazu.«

Grey nickte freundlich und fragte sich, was in aller Welt Harry im Schilde führte, doch Hal ließ sich keinerlei Überraschung anmerken.

»Wollte nicht, dass es sich herumspricht, dass jemand Nachforschungen anstellt«, erklärte Harry und warf noch einen Blick in den Gastraum, bevor er die Tür des Kartenzimmers schloss. »Uns bleiben noch ein paar Minuten zum Reden; wenn die anderen dann da sind, spielen wir ein paar Runden Pikett, ihr beide geht, weil ihr noch eine andere Verabredung habt, und ich bleibe hier. Niemandem wird auffallen, dass ihr überhaupt hier gewesen seid.«

Harry sah so zufrieden mit seinem Ablenkungsmanöver aus, dass Grey es nicht übers Herz brachte, ihn darauf hinzuweisen, dass Harry einfach zu Hal nach Hause hätte kommen können, um die Neuigkeiten loszuwerden, die er von Halloran hatte. Hal mied Johns Blicke und nickte Harry ernst zu.

»Sehr gut durchdacht«, sagte er. »Aber wenn wir nicht viel Zeit haben …«

Er wurde von einem Bediensteten unterbrochen, der ein Tablett mit Kaffeegeschirr, einem Teller Gebäck und mehreren Kartenspielen brachte, die bereits in die für das Pikettspiel nötigen Stapel unterteilt waren.

»Wenn wir nicht viel Zeit haben«, wiederholte Hal mit gereiztem Unterton, sobald der Bedienstete gegangen war, »sagt Ihr uns vielleicht sofort, was Halloran zu sagen hatte.«

»Ziemlich viel«, sagte Harry und setzte sich. »Kaffee?«

Harrys breites, zerfurchtes Gesicht wirkte auf Männer vertrauenerweckend und auf Frauen bemerkenswert sinnlich, was Grey als eines der großen Rätsel der Natur betrachtete. Allerdings gab er auch nicht vor zu wissen, was Frauen attraktiv fanden. Im vorliegenden Fall jedoch schien es, als hätte sich Adjutant Halloran von Harrys beiläufigem Charme genauso leicht einwickeln lassen wie die Damen der Gesellschaft.

»Was man sich im Regiment so erzählt«, sagte Harry und tat es mit einer ausschweifenden Handbewegung ab. Er schüttete Kaffee in seine Untertasse und pustete darauf, so dass duftende Dampfwölkchen von dem dunklen Gebräu aufstiegen. »Irgendwann habe ich ihn aber dazu bekommen, mir von Siverly zu erzählen. Er respektiert Siverly, mag ihn jedoch nicht besonders. Hat den Ruf eines guten Soldaten und Kommandeurs. Geht nicht leichtfertig mit dem Leben seiner Männer um … Was?«

Beide Greys hatten Geräusche ausgestoßen. Hal sah Harry an und winkte ab.

»Ich erzähle es dir später. Weiter. Hat er etwas über die Meuterei in Kanada gesagt?«

»Nein.« Harry zog eine Augenbraue hoch. »Aber wie sollte er das? Sie wurde ja nicht vor ein allgemeines Kriegsgericht gebracht, und wenn es eine Regimentsangelegenheit war …«

Grey nickte; Regimenter hielten ihre Kriegsgerichte normalerweise unter Verschluss ab, denn kein Regiment wollte seine schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit waschen. Gleichfalls hätte die Öffentlichkeit wohl kaum Interesse an solchen Verhandlungen gehabt, die sich größtenteils mit den alltäglichen Verbrechen und Vergehen gemeiner Soldaten befassten: Trunkenheit, Diebstahl, Schlägereien, Widersetzlichkeiten, unerlaubtes Entfernen aus der Kaserne und Verkauf von Uniformen. Allgemeine Kriegsgerichte waren etwas anderes, obwohl sich Grey nicht sicher war, worin die Unterschiede bestanden, da er noch nie in ein solches Tribunal verwickelt gewesen war. Er vermutete, dass ein Disziplinaradvokat der Armee daran beteiligt sein musste.

»Er wurde noch nicht vor ein allgemeines Kriegsgericht gebracht«, sagte Hal grimmig.

Harry kniff die Augen zusammen, spitzte die Lippen und nippte an seinem Kaffee. Er roch gut, und Grey griff nach der Kanne.

»Wirklich?«, sagte Harry. »Das ist es also, was uns vorschwebt, wie?« Hal hatte Harry per Brief von ihrem Interesse an Siverly in Kenntnis gesetzt und ihn gebeten, so viel wie möglich über den Mann herauszufinden – doch Grey, der mit Hals Briefen vertraut war, vermutete, dass dieser nicht sehr ins Detail gegangen war.

»Natürlich«, sagte Hal. »Nun, was sonst noch?« Er nahm sich ein Plätzchen und betrachtete es kritisch, bevor er es in den Mund steckte.

»Siverly ist im Regiment nicht übermäßig beliebt, aber er ist auch nicht unbeliebt«, sagte Harry. »Gesellschaftsfähig, aber er nutzt es nicht. Man lädt ihn zwar ein, aber er nimmt nur hin und wieder an. Hat eine Frau, lebt aber nicht mit ihr zusammen. Sie hat etwas Geld mit in die Ehe gebracht, aber nicht viel, und hat keine nennenswerten Kontakte.«

»Und er selbst?«, fragte Grey mit halb vollem Mund. Die Plätzchen waren Pfeffernüsse, frisch gebacken und noch ofenwarm. »Hat er Familie?«

»Ah«, sagte Harry und warf Hal einen kurzen Blick zu. »Nichts Nennenswertes. Sein Vater war Hauptmann im Elften Dragonerregiment, in Spanien umgekommen. Mutter die Tochter einer wohlhabenden irischen Familie, aber vom Land, ohne Einfluss.«

»Aber?«, sagte Hal scharf, denn Harrys Blick war ihm nicht entgangen. »Er hat einflussreiche Freunde?«

Harry holte so tief Luft, dass seine Weste anschwoll, und lehnte sich zurück.

»O ja«, sagte er. »Ist Euch der Herzog von Cumberland einflussreich genug?«

»Er reicht fürs Erste«, sagte Hal mit hochgezogenen Augenbrauen. »In welcher Verbindung stehen sie denn?«

»Sie gehen zusammen auf die Jagd. Siverly hat ein Anwesen in Irland, auf dem Seine Durchlaucht einige Male zu Gast gewesen ist. Gemeinsam mit einigen seiner engen Vertrauen.«

»Ein Anwesen? Geerbt?«, fragte Grey.

»Nein gekauft. Vor relativ kurzer Zeit.«

Hal stieß ein leises Summen aus, das von Genugtuung zeugte. Selbst in Irland konnte Siverly kein großes Anwesen von seinem Sold gekauft haben. Carruthers’ Berichten zufolge hatten Siverlys Unternehmungen in Kanada ihm über dreißigtausend Pfund eingebracht.

»Sehr gut«, sagte er. »Das sollte das Hohe Gericht wohl beeindrucken.«

»Nun, vielleicht«, sagte Harry und schnippte sich die Krümel vom Bauch. »Wenn es Euch denn gelingt, ihn vor ein solches Gericht zu bringen.«

»Wenn nötig lasse ich ihn festnehmen und mit Gewalt vor Gericht zerren.«

Harry stieß ein Geräusch aus, das auf Zweifel schließen ließ, und Hal sah ihn scharf an.

»Ihr glaubt nicht, dass ich das tun würde? Dieser Verbrecher ist eine Schande für seinen Berufsstand, und sein abstoßendes Verhalten schadet der gesamten Armee. Außerdem«, fügte er fast nebenbei hinzu, »ist John durch sein Ehrenwort verpflichtet, für Gerechtigkeit zu sorgen.«

»Oh, ich glaube schon, dass Ihr es tun würdet«, versicherte ihm Harry. »Und Grey auch. Es ist nur so, dass Siverly in Irland ist. Das könnte die Lage verkomplizieren, wie?«

»Oh«, sagte Hal, und sein Gesicht verlor jeden Ausdruck.

»Warum?«, fragte Grey, der sich gerade Kaffee nachschenkte, und hielt inne. »Was macht er denn dort?«

»Hol mich der Teufel, wenn ich das weiß. Halloran hat nur gesagt, dass Siverly um eine sechsmonatige Beurlaubung gebeten hat – die ihm auch gewährt wurde –, um Privatangelegenheiten zu regeln.«

»Aber sein Offizierspatent hat er nicht aufgegeben?« Grey beugte sich nervös vor. Er war sich zwar nicht sicher, aber er glaubte nicht, dass ein Kriegsgericht gegen jemanden verhandeln konnte, der nicht mehr in der Armee war. Und Siverly vor ein Zivilgericht zu bringen würde ein sehr viel mühsameres Unterfangen werden.

Harry zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht. Halloran hat nur gesagt, dass er beurlaubt wurde.«

»Nun denn.« Hal stellte entschlossen seine Tasse hin und wandte sich an seinen Bruder. »Dann brauchst du ja nur nach Irland zu fahren und ihn zurückzuholen.«

DIE ANKUNFT DER KARTENSPIELER verhinderte eine Fortsetzung ihres Gesprächs. Greys Gegner war Leo Clifford, ein junger Hauptmann, der erst vor Kurzem in das Regiment eingetreten war und ausgesprochen angenehme Umgangsformen hatte. Doch er besaß kein besonderes Talent zum Kartenspiel, so dass Grey genug Spielraum blieb, um über ihre Unterhaltung nachzudenken.

»Dann brauchst du ja nur nach Irland zu fahren und ihn zurückzuholen.« Wahrscheinlich sollte er sich geschmeichelt fühlen, dass Hal ihm das zutraute, doch er kannte seinen Bruder gut genug, um zu wissen, dass er damit schlicht seine Erwartungen ausdrückte und nicht etwa ein Kompliment.

Konnte man jemanden in absentia vor Kriegsgericht stellen?, fragte er sich. Das würde er Minnie fragen müssen. Sie hatte Kriegsgerichtsprotokolle über das Verbrechen der Sodomie für ihn herbeigeschmuggelt, als man seinen und Hals Stiefbruder Percy Wainwright festgenommen hatte. Die Armee hatte Percy eigens aus Deutschland zurück nach England transportiert, also war es wahrscheinlich nicht möglich, gegen jemanden zu verhandeln, der nicht selbst anwesend war.

»Repique«, sagte er geistesabwesend. Clifford seufzte und notierte den Spielstand.

Er war über Percy hinweg. Zumindest dachte er das während der meisten Zeit. Doch hin und wieder fiel sein Blick auf einen schlanken jungen Mann mit dunklen Locken, und ein Stich fuhr ihm durchs Herz.

Auch jetzt spürte er einen solchen Stich, ein winziger Rumpler bei dem plötzlichen Gedanken, dass es eher die Erwähnung Irlands als die des Kriegsgerichts gewesen war, die ihn an Percy erinnert hatte. Es hatte dafür gesorgt, dass Percy nach Irland entkam, obwohl sich sein ehemaliger Geliebter schließlich nach Rom durchgeschlagen hatte. Er konnte doch gewiss keinen Grund für eine Rückkehr nach Irland haben …?

»Sixième!«, sagte Clifford freudig. Grey lächelte trotz des Punktverlustes, gab die entsprechende Antwort – »Ich passe« –, was bedeutete, dass er diese Zahl mit seinem Deck nicht schlagen konnte, und verdrängte entschlossen jeden Gedanken an Percy.

Harry hatte zwar vorgeschlagen, dass Grey und Hal nach dem ersten Spiel gehen sollten, doch Grey wusste genauso gut wie Harry, dass dies nicht geschehen würde. Hal war Kartenspieler mit Leib und Seele, und wenn sein Blut einmal in Wallung geriet, bekamen ihn keine zehn Pferde vom Kartentisch fort. Da Pikett ein Spiel für zwei Paare war, konnte Grey natürlich ebenfalls erst gehen, wenn Hal es tat, da sonst eine ungerade Zahl entstand.

Also spielten sie paarweise und wechselten nach jeder Partie den Partner. Die beiden Männer mit der höchsten Punktzahl sollten das letzte Spiel bestreiten. Grey tat sein Bestes, sich nur noch auf das Spiel zu konzentrieren. Dies gelang ihm so gut, dass er aufschrak, als sein Bruder – der jetzt sein Gegner war – auf seinem Stuhl erstarrte und den Kopf scharf zur Tür wandte.

Im Gastraum hatten sich Stimmen zur Begrüßung erhoben, und es klang, als wären mehrere Leute hereingekommen. Inmitten des Lärms hörte er die hohe, seltsam affektierte Stimme des Herzogs von Cumberland. Er starrte Hal an, der den Mund zugekniffen hatte. Hal verabscheute Cumberland von Herzen – und umgekehrt –, und die Entdeckung, dass der Herzog ein enger Vertrauter Siverlys war, hatte an dieser Einstellung mit Sicherheit kaum etwas geändert.

Hals Blick traf den seinen, und Grey wusste, was sein Bruder dachte: Sie würden unter größtmöglicher Geheimhaltung vorgehen müssen. Wenn Cumberland Wind von der Sache bekam, bevor das Kriegsgericht zusammengerufen werden konnte, war es gut möglich, dass er sie mit seinem fetten Arsch zerquetschte.

Dann hörte Grey eine andere Stimme, tiefer, rau vom Alter und vom Tabak, die auf etwas antwortete, was Cumberland gesagt hatte.

»Scheiße!«, sagte Hal und handelte sich damit merkwürdige Blicke ein.

»Sagt man denn nicht carte blanche, wenn man ein Deck ohne Punkte hat?«, flüsterte Clifford zu Grey hinübergebeugt.

»Doch, das tut man«, erwiderte Grey und sah Hal scharf an. Ihm war noch nach viel schlimmeren Flüchen zumute, doch sie durften keine Aufmerksamkeit erregen. Harry, der am anderen Ende des Zimmers saß, hatte die Stimme ebenfalls gehört. Er spitzte die Lippen, den Blick fest auf seine Karten geheftet.

Es war zwar lange her, dass Grey Reginald Twelvetrees’ Stimme gehört hatte, doch er erinnerte sich noch lebhaft daran. Oberst Reginald Twelvetrees hatte vor zwei Jahren einem Ermittlungskomitee vorgestanden, das sich mit der Explosion einer Kanone befasste, und er hatte unangenehm dicht davor gestanden, Grey die Karriere zu ruinieren – aufgrund der Feindseligkeit, die zwischen den Greys und den Twelvetrees’ herrschte, seit sich Hal mit Nathaniel, dem jüngeren Bruder des Obersts, duelliert hatte.

»Wann sagt man denn Scheiße?«, flüsterte Clifford.

»Wenn sich etwas Bestürzendes ereignet«, flüsterte Grey zurück und unterdrückte den Drang zu lachen. »Septième«, sagte er laut zu seinem Bruder.

»Ich passe«, knurrte Hal und warf seine Karten hin.