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Wer Londons müde ist, ist des Lebens müde
Die Soldaten gaben ihm einen zweckmäßigen Umhang und versorgten ihn in den Gasthäusern mit Essen, das sie ihm gleichgültig über den Tisch schoben. Sie unterhielten sich, ohne ihn zu beachten, abgesehen von gelegentlichen scharfen Blicken, um sich zu vergewissern, dass er nicht auf dumme Gedanken kam. Was glaubten sie denn, das er tun würde?, fragte er sich. Wenn er je vorgehabt hätte zu fliehen, hätte er es von Helwater aus wahrhaftig viel einfacher bewerkstelligen können.
Er konnte ihren Gesprächen nichts entnehmen, denn sie schienen zum Großteil aus Klatsch und Tratsch aus ihrem Regiment, anzüglichen Bemerkungen über Frauen und geschmacklosen Witzen zu bestehen. Kein Wort über ihr Ziel.
Bei ihrer zweiten Rast gab es Wein – anständigen Wein. Er trank ihn vorsichtig; er hatte seit Jahren nichts Stärkeres mehr getrunken als helles Bier, und der herrliche Geschmack haftete an seinem Gaumen und stieg ihm in den Kopf wie Rauch. Die Soldaten leerten drei Flaschen – gemeinsam mit ihm, und es war ihm nur willkommen, dass sich seine dahinjagenden Gedanken verlangsamten, während ihm der Alkohol ins Blut sickerte. Es würde ihm nichts nützen, sich Gedanken zu machen, solange er nicht wusste, worüber er sich Gedanken machen sollte.
Er versuchte, nicht an ihren unbekannten Bestimmungsort und an das zu denken, was ihn dort erwarten mochte, doch es war so, als versuchte man, nicht an ein …
»Rhinozeros«, sagte Claire mit einer Art unterdrückter Belustigung, die ihm durch die Brusthaare fuhr. »Hast du schon einmal eins gesehen?«
»Ja«, sagte er und verlagerte ihr Gewicht, so dass sie bequemer an seiner Schulter lag. »In Louis’ Zoo. Aye, das geht einem nicht so schnell aus dem Kopf.«
Abrupt verschwand sie, und er saß da und blinzelte verdattert in seinen Weinbecher.
Hatte sie sich wirklich zugetragen, diese Erinnerung? Oder war es nur sein Verlangen, das sie hin und wieder so hautnah zum Leben erweckte, in bruchstückhaften Momenten, die ihn verzweifelt vor Sehnsucht zurückließen, aber auch seltsam getröstet, als hätte sie ihn tatsächlich kurz berührt?
Ihm wurde bewusst, dass die Soldaten verstummt waren und ihn anstarrten. Und dass er lächelte. Er erwiderte ihren Blick, ohne seine Miene zu verändern.
Beklommen wandten sie die Blicke ab, und er kehrte zu seiner Frau zurück. Für den Moment herrschte Friede in seinem Kopf.
SIE BRACHTEN IHN TATSÄCHLICH NACH LONDON.
Er gab sich alle Mühe, nicht töricht zu gaffen; ihm war bewusst, dass ihm die Soldaten verstohlene Blicke zuwarfen und überlegen lächelten. Sie erwarteten, dass er beeindruckt sein würde, und er weigerte sich, ihnen diese Genugtuung zu bieten – doch beeindruckt war er trotzdem.
Das war also London. Es hatte den Stadtgestank, die engen Gassen, den Geruch nach Küchenabfällen und Kaminrauch. Doch jede Großstadt hat ihre eigene Seele, und London war völlig anders als Paris oder Edinburgh. Paris war geheimnisvoll und selbstzufrieden; Edinburgh stets geschäftig, eine Kaufmannsstadt. Aber dies … London war voller Radau; es brodelte wie ein Ameisenhaufen, und es herrschte ein Gedränge und Geschiebe, als wollte die Stadt vor lauter Energie aus den Nähten platzen und sich über das Umland ergießen. Erregung durchpulste ihn trotz seiner Ängste und der markerschütternden Kutschfahrt.
Die jakobitischen Soldaten hatten von London gesprochen, zu Beginn des Feldzugs, als sie noch siegreich waren und London eine Frucht zu sein schien, die sie nur zu pflücken brauchten. Wilde Geschichten – so gut wie keiner von ihnen hatte überhaupt je eine Stadt gesehen, bevor sie nach Edinburgh kamen. Geschichten von goldenen Tellern in den Wirtshäusern und Straßen, auf denen es von goldenen Kutschen wimmelte …
Er erinnerte sich noch an Murdo Lindsays große Augen, als er von den Sauflöchern hörte, dunklen Kellern, in denen sich die Armen zusammenfanden, um ihr elendes Leben in holländischem Gin zu ertränken.
»Ganze Familien!«, rief Murdo aus. »Sturzbetrunken, alle miteinander! Wenn es sich schon die Armen leisten können, tagelang betrunken zu sein, wie muss es dann erst für die Reichen sein?«
Damals hatte er belustigt gelächelt. Jetzt lächelte er bitter.
Als sich der Feldzug gewendet hatte und in der Kälte verwelkt war, als die Armee vor Derby lagerte und zitterte, während die Kommandeure darüber stritten, ob man weiter vorandrängen sollte oder nicht, hatten die Soldaten immer noch von London geredet. Doch sie hatten es flüsternd getan, und es ging nicht um goldene Teller und Gin. Sie sprachen vom Galgen, von der berühmten Brücke, wo man die Köpfe der Verräter zur Schau stellte. Vom Tower.
Bei diesem Gedanken wurde ihm unwohl. Himmel, war es möglich, dass sie ihn dorthin brachten? Er war ein verurteilter Verräter, auch wenn seine Strafe seit vier Jahren auf Ehrenwort ausgesetzt war. Und er war der Enkel Lord Lovats, der in ebendiesem Tower den Tod auf dem Richtblock gefunden hatte. Er hatte seinen Großvater nicht besonders gemocht, doch er bekreuzigte sich und murmelte: »Fois air anam …«, Friede seiner Seele.
Er fragte sich, wie zum Teufel der Tower von London wohl aussah. Er hatte ihn sich natürlich in Gedanken schon ausgemalt, doch der Himmel wusste, wie die Wirklichkeit aussah. Auf jeden Fall groß; er musste groß sein. Er würde also gewarnt sein, wenn er ihn sah. Er würde bereit sein.
Aye, bereit für den Kerker?, dachte er. Die bloße Vorstellung kalter Gemäuer und enger Räume, endloser Tage, Monate und Jahre im Käfig, während Leben und Körper dahinschwanden, verkrampfte ihm das Herz. Und William. Er würde William nie wiedersehen. Doch vielleicht töteten sie ihn ja stattdessen. Das war im Moment seine einzige Hoffnung.
Doch warum? Hatte man seine Begnadigung zurückgenommen? Dieses letzte, katastrophale Gespräch mit John Grey … Seine Hände ballten sich zu Fäusten, ohne dass er es bedachte, und einer der Soldaten starrte ihn durchdringend an. Mit großer Anstrengung streckte er seine Finger wieder und zog sie ins Innere des Umhangs, in dessen Versteck er seine Oberschenkel so fest umklammerte, dass er blaue Flecken hinterließ.
Er hatte Grey seit diesem Tag weder gesehen noch von ihm gehört. Hatte der Mann während all dieser Zeit einen Groll gegen ihn gehegt und endlich beschlossen, die Akte Jamie Fraser ein für alle Mal zu schließen? Es war die wahrscheinlichste Erklärung – auf beiden Seiten waren schließlich unverzeihliche Worte gefallen. Schlimmer noch, beide hatten jedes Wort auch so gemeint, und beide hatten es gewusst. Keiner konnte sich damit entschuldigen, dass die Gefühle in ihm hochgekocht waren – obwohl er, wenn er gerecht sein wollte, kurz vor dem Platzen gestanden hatte und …
Da! Er keuchte auf, konnte es nicht verhindern, obwohl die Soldaten daraufhin ihr Gespräch unterbrachen und ihn ansahen.
Es musste der Tower sein. Er wusste gut genug, wie ein Gefängnis aussah. Gewaltige runde Türme in einer grimmigen hohen Mauer, und das schmutzig braune Wasser eines breiten Flusses, der daran vorbeifloss, unter einem mit Eisen verriegelten Tor hindurch. Die Pforte der Verräter? Er hatte davon gehört.
Sie grinsten ihn jetzt alle an und weideten sich schadenfroh an seinem Schrecken. Er schluckte krampfhaft und spannte die Bauchmuskeln an. Sie würden es nicht erleben, dass er den Kopf einzog. Sein Stolz war alles, was er noch hatte – aber davon hatte er genug.
Doch die Kutsche bog nicht von der Straße ab. Sie schwankten an dem Turm vorbei, der bedrohlich aus seinem Wassergraben aufragte; die Hufe der Pferde klirrten auf dem Pflaster, und er war dankbar für das Geräusch, weil es sein krampfhaftes Keuchen übertönte, als er begriff, dass er den Atem angehalten hatte, und wieder Luft holte.
Es war nicht warm, doch er war plötzlich in kalten Schweiß gebadet und sah, wie der Privatgefreite neben ihm die Nase krauszog und ihm einen Seitenblick zuwarf. Er stank nach Angst, das konnte er selber riechen.
Hätte schlimmer sein können, a bhailach, dachte er und erwiderte den Blick des Mannes eiskalt, bis dieser die Augen abwandte. Ich hätte mir in die Hose scheißen können, dann hättest du das auf der ganzen Fahrt gerochen.
ES HERRSCHTE EIN SOLCHES GEWIRR von Fußgängern, Handkarren, Kutschen und Pferden, dass es über eine Stunde dauerte, bis die Kutsche schließlich vor einem großen Haus hielt, das auf einem ummauerten Grundstück am Rand eines weitläufigen, offenen Parks stand. Er starrte es erstaunt an. Wenn schon nicht in den Tower, so hatte er doch erwartet, dass man ihn in einen Kerker bringen würde. Wer zum Teufel wohnte hier, und was wollte derjenige von ihm?
Die Soldaten sagten es ihm nicht, und er weigerte sich zu fragen.
Zu seinem Erstaunen führten sie ihn die Marmortreppe zur Eingangstür hinauf, wo sie ihn warten ließen, während der Leutnant den Türklopfer betätigte und dann mit dem Butler sprach, der ihm öffnete. Der Butler war ein kleiner, adretter Mann, der bei Jamies Anblick ungläubig die Augen zukniff und sich dann an den Leutnant wandte, weil er eindeutig Einwände hatte.
»Seine Durchlaucht hat uns aufgetragen, ihn zu holen, und ich habe ihn geholt«, sagte der Leutnant ungeduldig. »Lasst uns herein!«
Seine Durchlaucht? Ein Herzog? Was zum Teufel konnte ein Herzog von ihm wollen? Der einzige Herzog, den er kannte, war … Gott … Cumberland? Das Herz schlug ihm ohnehin schon bis zum Hals; jetzt bewegte sich sein Magen in dieselbe Richtung. Er hatte den Herzog von Cumberland nur ein einziges Mal gesehen. Als er das Schlachtfeld von Culloden verlassen hatte, verletzt unter einer Ladung Heu auf einem Wagen verborgen. Der Wagen hatte die Regierungstruppen passiert, als es Abend wurde, und er hatte das große Zelt gesehen, vor dem eine kräftige Gestalt gereizt mit einem goldverbrämten Hut den Rauch fortwedelte. Den Rauch der brennenden Leiber – den Rauch der toten Jakobiten.
Er spürte, wie die Soldaten zusammenzuckten und ihn aufgeschreckt anstarrten. Er erstarrte, die geballten Fäuste an den Seiten, doch die Kälte und die Angst waren fort, verbrannt in dem Gefühl der Wut, das abrupt in ihm aufstieg und ihn mit sich aufwärtsriss.
Sein Herz schlug schmerzhaft, denn plötzlich hatte seine Zukunft eine Gestalt. Keine langen Tage des bloßen Überlebens mehr. Er hatte ein Ziel, das seine Seele erglühen ließ.
Der Butler wich zurück, zögernd, jedoch unfähig, sich zu widersetzen. Aye. Schön. Alles, was er tun musste, war, sich umsichtig zu verhalten, bis er in Reichweite des Herzogs war. Er öffnete und schloss die linke Hand. Vielleicht gab es ja ein Messer, einen Brieföffner, irgendetwas … doch das war nicht so wichtig.
Der Leutnant ruckte mit dem Kopf, und er setzte sich in Bewegung, bevor die Gefreiten seine Arme packen konnten. Er sah, wie sich der Blick des Butlers auf seine Füße richtete und der Mann verächtlich den Mund verzog. Im Korridor öffnete sich eine Tür, in der flüchtig ein Frauengesicht erschien. Sie erblickte ihn, keuchte auf und schloss die Tür.
Er hätte sich die Sandalen sogar abgewischt, wenn sie ihm Zeit gelassen hätten; es war ja gar nicht seine Absicht, das Haus zu beschmutzen oder wie der Barbar auszusehen, für den sie ihn offensichtlich hielten. Doch die Männer drängten ihn weiter, einer auf jeder Seite, und er hatte erst recht nicht den Wunsch, ihnen eine Entschuldigung dafür zu liefern, Hand an ihn zu legen. Also schritt er weiter und ließ Krümel aus getrocknetem Schlamm und verkrustetem Dung auf dem gebohnerten Boden des Korridors zurück.
Die Tür des Zimmers stand offen, und sie schoben ihn ohne Umschweife hinein. Sein Blick war überall gleichzeitig, schätzte Abstände ein, prüfte Gegenstände auf ihre Tauglichkeit als Waffen, und es dauerte einen langen Moment, bis sein Blick auf den des Mannes traf, der am Schreibtisch saß.
Einen weiteren Moment lang weigerte sich sein Verstand zu begreifen, und er kniff die Augen zu. Nein, es war nicht Cumberland. Nicht einmal der Lauf der Jahre hätte einen untersetzten deutschen Prinzen in den schlanken Mann mit den feinen Gesichtszügen verwandeln können, der ihm stirnrunzelnd über das glänzende Holz hinweg entgegensah.
»Mr Fraser.« Eigentlich war es keine Frage, und es war auch eigentlich keine Begrüßung, auch wenn der Mann höflich den Kopf neigte.
Jamie atmete, als sei er eine Meile weit gerannt, und seine Hände zitterten sacht, während sein Körper versuchte, die Wut zu verbrennen, die jetzt kein Ziel mehr hatte.
»Wer seid Ihr?«, fragte er schroff.
Der Mann warf dem Leutnant einen scharfen Blick zu.
»Habt Ihr ihm nichts erzählt, Mr Gaskins?«
Gaskins. Wenigstens kannte er jetzt den Namen des Mistkerls. Und es war ihm ein Vergnügen zu sehen, wie er erst rot und dann weiß wurde.
»Ich … äh … ich … nein, Sir.«
»Lasst uns allein, Leutnant.« Der Mann erhob die Stimme nicht, und doch klang sie schneidend wie eine Rasierklinge. Er ist Soldat, dachte Jamie und dann, ich kenne ihn. Doch woher …?
Der Mann erhob sich, ohne Leutnant Gaskins hastigen Rückzug zu beachten.
»Verzeihung, Mr Fraser«, sagte er. »Hat man Euch unterwegs misshandelt?«
»Nein«, erwiderte er automatisch und durchforschte das Gesicht vor ihm. Es war ihm bemerkenswert vertraut, und doch hätte er geschworen, dass er den Mann nicht … »Warum bin ich hier?«
Der Mann holte tief Luft; seine Stirn glättete sich, und in diesem Moment sah Jamie die Form seines Gesichts, feinknochig und von großer Schönheit, wenn es auch die Spuren eines harten Lebens trug. Er fühlte sich, als hätte man ihm einen Hieb vor die Brust versetzt.
»Himmel«, sagte er. »Ihr seid John Greys Bruder.« Er angelte wild nach dem Namen und fand ihn auch. »Lord … Melton. Grundgütiger.«
»Nun ja«, sagte der Mann. »Obwohl ich diesen Titel nicht mehr verwende. Ich bin inzwischen der Herzog von Pardloe.« Er lächelte ironisch. »Es ist lange her. Bitte setzt Euch doch, Mr Fraser.«