11
Ordinäre Neugier
EDWARD TWELVETREES WOLLTE GREY NICHT AUS DEM KOPF GEHEN, als er am Morgen aus einem verstörenden Traum erwachte, in dem er mit gezogenen Pistolen einem Mann im Duell gegenüberstand. Sein Gegner hatte kein Gesicht, doch er wusste, dass es Edward Twelvetrees war.
Ihm war klar, woher dieser Traum rührte; niemals würde er den Namen Edward Twelvetrees hören können, ohne an das Duell denken zu müssen, bei dem Hal Nathaniel Twelvetrees getötet hatte, nachdem Nathaniel Hals erste Frau verführt hatte. Grey hatte damals nichts von dem Duell gewusst – geschweige denn den Grund dafür gekannt –, da er einerseits zu jung war und andererseits nicht anwesend, denn man hatte ihn nach dem Tod seines Vaters nach Aberdeen geschickt.
Die Präsenz des Traumes begleitete ihn auch während des Frühstücks, und er ging in den Garten hinaus, weil er hoffte, dass ihm die frische Luft helfen würde, den Kopf wieder freizubekommen. Doch kaum war er ein paar Minuten auf und ab gegangen, als seine Schwägerin aus dem Haus kam, einen Korb mit einer Gartenschere über dem Arm. Sie begrüßte ihn freudig, und sie schlenderten weiter auf und ab und unterhielten sich über die Jungen, das Theaterstück, das er Anfang der Woche gesehen hatte, und den Kopf seines Bruders – sein Bruder litt gelegentlich an Migräne und hatte in der Nacht zuvor wieder diese furchtbaren Kopfschmerzen gehabt. Doch der Gedanke an dieses Duell ließ ihn nicht in Frieden.
»Hat dir Hal eigentlich viel von Esmé erzählt?«, fragte er. Minnie sah überrascht aus, antwortete aber, ohne zu zögern.
»Ja, alles. Vermute ich zumindest«, fügte sie mit einem kleinen Lächeln hinzu. »Warum?«
»Ordinäre Neugier«, gestand John. »Ich war noch ziemlich jung, als sie geheiratet haben, und eigentlich kannte ich sie gar nicht. Ich erinnere mich noch an die Hochzeit – ein rauschendes Fest, weiße Spitze und Diamanten, St. James, Hunderte von Gästen …« Er sah ihr Gesicht und verstummte. »Es tut mir leid, dass ich bei eurer Hochzeit nicht dabei war«, versuchte er hastig, den Fehler wiedergutzumachen.
»Mir genauso«, sagte sie, und das Grübchen erschien auf ihrer Wange. »Du hättest die Gästeliste verdoppelt. Es war aber nicht hier. Nicht in England, meine ich.«
»Eine, äh, private Zeremonie also?«
»Sehr privat. Hal hatte Harry Quarry als Trauzeugen dabei, und er hat die Wirtin des Gasthauses überredet, die andere Zeugin zu sein. Es war in Amsterdam. Sie sprach kein Englisch und hatte keine Ahnung, wer wir waren.«
Grey war fasziniert, hatte aber Angst, ihr zu nahe zu treten, indem er zu neugierig wurde.
»Ich verstehe.«
»Nein, das tust du nicht.« Sie lachte ihn jetzt offen an. »Ich hatte nicht die geringste Absicht, ihn zu heiraten, obwohl ich einen Sechsmonatsbauch hatte. Aber er hat meinen Einwänden keine Beachtung geschenkt.«
»Obwohl – oh. Äh … Benjamin?«
»Ja.« Etwas, das Grey für mütterliche Zufriedenheit hielt, huschte über ihr Gesicht, und ihr Mund wurde einen Moment lang sanft. Sie sah ihn an, ein Funkeln im Blick. »Ich wäre gut allein zurechtgekommen.«
»Daran habe ich keinen Zweifel«, murmelte er. »Wie kam es denn, dass du Hal in Amsterdam wiederbegegnet bist?« Was war es, was Hal gesagt hatte? »Ich habe fast sechs Monate gebraucht, um sie zu finden.«
»Er hat nach mir gesucht«, sagte sie unverblümt. »Eines Tages ist er flammendes Blickes in den Buchladen meines Vaters gestürmt. Ich wäre fast in Ohnmacht gefallen. Er auch, als er gesehen hat, dass ich schwanger war.«
Sie lächelte, doch diesmal war es ein nach innen gekehrtes Lächeln der Erinnerung.
»Er hat unglaublich tief Luft geholt und den Kopf geschüttelt, dann ist er hinter die Ladentheke gekommen, hat mich aufgehoben und mich geradewegs aus dem Laden in eine Kutsche getragen, die mit Harry draußen wartete. Ich war sehr beeindruckt; ich muss mindestens siebzig Kilo gewogen haben.« Sie warf ihm einen Seitenblick zu. Das Grübchen war wieder da. »Bist du sehr schockiert, John?«
»Sehr.« Was er wirklich dachte, war, dass es ein Segen war, dass Benjamin Hal so ähnlich sah. Er nahm ihre Hand und steckte sie bequem in seine Ellenbeuge.
»Wie kommst du denn auf die arme Esmé?«, fragte sie.
»Oh … ich dachte nur, dass es Hal nicht sehr ähnlich gesehen hätte, eine langweilige Frau zu heiraten.«
»Ich bin mir hinreichend sicher, dass sie nicht langweilig war«, sagte Minnie trocken. »Obwohl ich dir für das angedeutete Kompliment danke.«
»Nun, ich weiß, dass sie eine Schönheit war – eine große Schönheit –, doch was ihren Charakter angeht …«
»Selbstverliebt, narzisstisch und unsicher«, fasste Minnie zusammen. »Sie war nur glücklich, wenn sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand – und sie besaß großes Talent darin, sich diese Aufmerksamkeit zu beschaffen. Dumm war sie bestimmt nicht.«
»Tatsächlich.« Er dachte einen Moment darüber nach. »Sich Aufmerksamkeit zu beschaffen. Glaubst du – ich meine, wenn Hal dir das alles erzählt hat, dann weißt du gewiss ebenfalls von Nathaniel Twelvetrees?«
»Ja«, sagte sie knapp, und ihre Hand legte sich etwas fester um seinen Arm. »Du meinst, ob ich glaube, dass sie um seiner selbst willen eine Affäre mit ihm hatte? Oder um Hals Aufmerksamkeit zurückzugewinnen? Letzteres.«
Er sah sie überrascht an.
»Du scheinst dir ja sehr sicher zu sein. Sagt Hal das auch?«
Sie schüttelte den Kopf, und eine Locke löste sich aus ihrer Frisur und baumelte neben ihrem Ohr. Sie schob sie ungeduldig zurück. »Ich habe es ihm gesagt, aber ich denke nicht, dass er es glaubt. Sie hat ihn geliebt, weißt du«, sagte sie, und ihr Mund spannte sich ein wenig an. »Er hat sie grenzenlos geliebt, aber es war nicht genug für sie – sie war eins von diesen verwöhnten Mädchen, für die selbst die größte Hingabe nicht genug ist. Aber sie hat ihn geliebt. Ich habe ihre Briefe gelesen.« Sie blickte zu ihm auf. »Das weiß er übrigens nicht.«
Hal hatte also Esmés Briefe aufbewahrt, und Minnie hatte sie gefunden. Er fragte sich, ob Hal sie immer noch hatte. Er drückte ihr sacht die Hand und ließ sie los.
»Von mir erfährt er es nicht.«
»Ich weiß«, sagte sie, »sonst hätte ich es dir nicht erzählt. Ich gehe davon aus, dass du ebenso wenig wie ich darauf brennst, dass er sich noch einmal duelliert.«
»Ich habe ja das erste Mal nicht miterlebt. Aber was – warum sollte er – oh. Es spielt keine Rolle.« Es musste etwas in Esmés Briefen stehen, das auf einen weiteren Verehrer hindeutete, etwas, das Hal nicht bemerkt hatte, Minnie aber schon.
Sie sagte nichts, sondern blieb stehen, nahm die Hand von seinem Arm und richtete den Blick unheilvoll auf einen Busch, dessen frisches rötliches Laub sie mit dem Finger umdrehte.
»Blattläuse«, sagte sie in einem Ton, der entweder den Läusen oder dem Gärtner nichts Gutes verhieß. Grey stieß ein mitfühlendes Geräusch aus, und nach einem weiteren finsteren Blick schnaubte Minnie verächtlich und kehrte auf den Gartenweg zurück.
»Dein Mr Fraser«, sagte sie, nachdem sie einige Momente schweigend weitergegangen waren.
»Er ist nicht mein Mr Fraser«, sagte er. Eigentlich hatte er unbeteiligt klingen wollen, und er dachte, das hätte er auch, doch sie warf ihm einen Blick zu, der ihn daran zweifeln ließ.
»Aber du kennst ihn«, sagte sie. »Meinst du, man kann sich … auf ihn verlassen?«
»Ich denke, das hängt davon ab, was man von ihm erwartet«, erwiderte Grey vorsichtig. »Wenn du fragst, ob er ein Ehrenmann ist, ja, das ist er. Mit Sicherheit ein Mann, der sein Wort hält. Abgesehen davon …« Er zuckte mit den Achseln. »Er ist Schotte, und noch dazu Highlander.«
»Und das bedeutet was?« Sie war neugierig; sie hatte eine Augenbraue hochgezogen. »Ist er ein Barbar, wie man es den Highlandern nachsagt? Denn wenn es so ist, spielt er den feinen Herrn bemerkenswert gut.«
»James Fraser spielt gar nichts«, versicherte er ihr und fühlte sich obskurerweise an Frasers statt beleidigt. »Er ist – oder war – Herr über ein Anwesen mit beachtlichem Grundbesitz und Pächtern, und er stammt aus gutem Hause. Was ich gemeint habe, ist, dass er …« Er zögerte, denn er wusste nicht genau, wie er es formulieren sollte. »Er hat ein Bild von sich selbst, das nichts mit den Anforderungen der Gesellschaft zu tun hat. Er neigt dazu, sich seine Regeln selbst zu machen.«
Sie lachte. »Kein Wunder, dass Hal ihn mag.«
»Tut er das?«, sagte Grey und freute sich absurderweise, es zu hören.
»O ja«, versicherte sie Grey. »Er war selbst überrascht – aber auch froh darüber. Außerdem hat er, glaube ich, ein schlechtes Gewissen«, fügte sie nachdenklich hinzu. »Weil er ihn so ausnutzt, meine ich.«
»Das habe ich auch.«
Sie lächelte ihn voll Zuneigung an. »Ja, das kann ich mir vorstellen. Mr Fraser kann sich glücklich schätzen, dich zum Freund zu haben, John.«
»Ich bezweifle, dass er das genauso sieht«, sagte Grey trocken.
»Nun, er braucht sich keine Sorgen zu machen – und du auch nicht, John. Hal wird nicht zulassen, dass ihm etwas zustößt.«
»Nein, natürlich nicht.« Doch das ungute Gefühl in seinem Nacken ließ nicht nach.
»Und wenn euer Unternehmen erfolgreich ist, würde Hal gewiss dafür sorgen, dass man ihn begnadigt. Dann könnte er ein freier Mann sein. Er könnte heimkehren.«
Etwas schnürte Grey plötzlich die Kehle zu, als hätte Tom Byrd, sein Leibdiener, ihm die Halsbinde zu fest geknotet.
»Ja. Warum hast du gefragt, ob man sich auf ihn verlassen kann – auf Fraser, meine ich?«
Sie zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen.
»Oh – Hal hat mir die Übersetzung gezeigt, die Mr Fraser von dieser gälischen Seite angefertigt hat. Ich habe mich nur gefragt, wie originalgetreu sie wohl ist.«
»Hast du einen Grund zu vermuten, dass sie es nicht ist?«, fragte er neugierig. »Ich meine – warum sollte sie es denn nicht sein?«
»Kein besonderer Grund.« Doch sie kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. »Ich spreche natürlich selbst kein Gälisch, aber ich kenne ein paar Worte. Ich, äh, weiß nicht genau, wie viel dir Hal von meinem Vater erzählt hat …?«
»Ein bisschen«, sagte Grey und lächelte sie an. Sie erwiderte das Lächeln.
»Nun denn. Hin und wieder habe ich jakobitische Dokumente gesehen, und die meisten waren zwar auf Französisch oder Latein, aber ein paar waren englisch und manchmal gälisch. Aber jedes von ihnen schien eine Art internen Hinweis zu enthalten, die beiläufige Erwähnung von etwas, das dem Empfänger sagte, dass er mehr in der Hand hielt als eine Weinbestellung oder die Anfrage eines Kaufmanns, den Inhalt seines Lagerhauses betreffend. Und einer der Codebegriffe, die man ziemlich oft erwähnt fand, war eine weiße Rose. Für die Stuarts, weißt du?«
»Ja.« Einen schwindelerregenden Moment lang sah er – so deutlich, als sei die Szene vor seinen Füßen aus dem Boden aufgestiegen – das Gesicht des Mannes, den er im Moor von Culloden erschossen hatte, die Augen dunkel und die weiße Kokarde an seiner Mütze deutlich im sterbenden Licht des Abends.
Doch Minnie beachtete seine kurze Geistesabwesenheit nicht und redete weiter.
»Nun, dieser Text, den du Hal gebracht hast, enthält die Worte róisíní bhán. Es ist nicht ganz dasselbe, aber es ähnelt den schottischen Worten für ›weiße Rose‹ – ich habe sie oft genug gesehen, um sie zu kennen. Und Mr Fraser hat zwar das Wort ›Rose‹ in seiner Übersetzung stehen – aber das ›weiß‹ hat er ausgelassen. Falls es überhaupt da ist, meine ich«, fügte sie hinzu. »Vielleicht ist das Irische ja auch so anders, dass er es nicht gesehen hat, falls es da ist.«
Sie machten kehrt, als hätte ihnen jemand ein Signal gegeben, und begannen den Rückweg zum Haus. Grey schluckte und versuchte, sein klopfendes Herz zu beruhigen.
Es war klar, was sie meinte. Es war möglich, dass das Gedicht über die Wilde Jagd ein verschlüsseltes jakobitisches Dokument war. Und wenn es so war, war es möglich, dass Fraser diese Tatsache erkannt und sie absichtlich verheimlicht hatte, vielleicht um Freunde zu schützen, die mit der Sache der Jakobiten zu tun hatten. Wenn das der Fall war, warf es zwei Fragen auf, die beide verstörend waren.
Nämlich: Hatte Siverly Verbindungen zu den Jakobiten und … was mochte Jamie Fraser sonst noch ausgelassen haben?
»Es gibt nur eine Möglichkeit, es herauszufinden«, sagte er. »Ich werde ihn fragen. Vorsichtig.«