24
Palaver
Jamie hatte sich ein Buch aus Pardloes Bibliothek geliehen, eine Taschenbuchausgabe der »Ilias« auf Griechisch. Er hatte seit Jahren keinen griechischen Text mehr gelesen und hatte gedacht, er könnte vielleicht seine Bekanntschaft mit dieser Sprache erneuern, doch er war zu sehr abgelenkt, um sich zu konzentrieren.
Weder Panther noch Löwe sind so voll wütenden Mutes,
Noch der tückische Eber, der doch am stolzesten immer
Trotzt auf die unverwüstliche Kraft in der Tiefe des Herzens,
Wie des Panthoos lanzenkundige Söhne voll Hochmuts!
Zuletzt hatte er im Gefängnis von Ardsmuir Griechisch gesprochen, wo er mit Lord John über Aristophanes diskutiert hatte, während sie ein improvisiertes Abendessen aus Porridge und Schinken zu sich nahmen – ein Sturm hatte die Anlieferung von Vorräten verhindert, und selbst im Quartier des Verwalters hatte man die Rationen kürzen müssen. Doch sie hatten Rotwein gehabt, um es hinunterzuspülen, und es war ein harmonischer Abend gewesen. Er hatte diverse Anliegen der Gefangenen besprochen, und dann hatten sie Schach gespielt, ein langes Duell, das fast bis zur Morgendämmerung gedauert hatte. Am Ende hatte Grey gewonnen und dann den Blick zögernd auf das schäbige Sofa in seiner Schreibstube geworfen und sich eindeutig gefragt, ob er es Jamie anbieten sollte, statt ihn zurück in den Zellenblock zu schicken, wo er bis zum Erwachen der Gefangenen höchstens noch eine Stunde schlafen konnte.
Jamie hatte die Idee zu schätzen gewusst, doch das kam nicht in Frage, und er hatte eine unbeteiligte Miene aufgesetzt, sich korrekt verbeugt und selbst an den Türrahmen geklopft, um den dösenden Wärter zu wecken.
Merde, murmelte er. Er saß schon Gott weiß wie lange auf der Bank vor dem Wirtshaus und blickte die Straße entlang, das aufgeschlagene Buch auf den Knien. Jetzt hatte es angefangen zu regnen, und kleine Tropfen betupften die Buchseite und strichen ihm sanft über das Gesicht.
Er wischte hastig mit dem Ärmel über die Seite, steckte das Buch in seine Tasche und ging ins Haus. Tom Byrd saß am Kamin und half Moira Beckett mit ihrer frisch gefärbten Wolle. Er hatte Moira schöne Augen gemacht, doch als er Jamie eintreten hörte, fuhr sein Kopf herum wie eine Kompassnadel.
Jamie schüttelte sacht den Kopf, und Tom verzog das Gesicht, wandte sich dann aber wieder zu Moira um.
»Wisst Ihr, wie spät es ist, Miss Beckett?«, fragte Tom.
»Ungefähr halb drei, möchte ich meinen«, erwiderte sie mit etwas verblüffter Miene. Jamie verkniff sich das Lächeln. Sie hatte den Kopf gewandt, um aus dem Fenster nach dem Licht zu schauen, genau wie Jamie es bei Toms Frage getan hatte. Die Vorstellung, dass jemand nicht in der Lage war, die Tageszeit anhand des Lichtes abzulesen, war ihr eindeutig fremd, doch Tom war durch und durch Londoner und befand sich daher stets in Hörweite der einen oder anderen Kirchenglocke.
»Der Besuch Seiner Lordschaft scheint ja gut zu verlaufen«, meinte Tom und sah Jamie auf der Suche nach Bestätigung an.
»Aye, nun ja, ich hoffe, man hat ihn freundlicher empfangen als mich.« Grey war um kurz nach zehn nach Glastuig aufgebrochen; zu Pferd dauerte der Weg nicht mehr als eine halbe Stunde. Fünf Stunden deuteten mit Sicherheit darauf hin, dass etwas geschehen war, doch ob es etwas Gutes oder etwas Schlechtes war …
Er schüttelte den Kopf und ging nach oben. Er setzte sich ans Fenster und schlug das Buch wieder auf, doch in seinem Kopf war kein Platz für Hektors schmählichen Tod.
Wenn es dazu kam, dass er mit Greys Leiche nach England reisen und sie Pardloe überbringen musste … würde er sich vielleicht doch auf Quinns Vorschlag besinnen und die Flucht ergreifen, dachte er. Doch der kleine Dummkopf war doch wohl auf der Hut gewesen, nach dem, was Jamie zugestoßen war? Letztendlich …
Er setzte sich auf, denn sein Blick hatte eine Bewegung auf der Straße erhascht. Doch es war nicht Grey; es war ein Läufer mit dem abgehackten, torkelnden Gang eines Mannes, der sich zwingt, seine körperlichen Grenzen zu überschreiten.
Er war schon unten und zur Tür hinaus, dicht gefolgt von Tom Byrd, als der Läufer in Rufweite kam, und sie rannten auf ihn zu, um ihn zu stützen.
»Ich glaube, du solltest besser kommen, Jamie. Dein Freund hat Major Siverly umgebracht, und der Konstabler will ihn festnehmen.«
Auf dem Rasen stand ein Pulk von Menschen, die meisten gestikulierend. Ein Mann in einem nüchternen Rock und einem ordentlichen Hut schien die Situation in die Hand genommen zu haben – Jamie vermutete, dass dies der Konstabler war. Die anderen, die alle gleichzeitig redeten und mit den Armen fuchtelten, waren offenbar zum Großteil die Dienstboten des Hauses. Und in der Mitte stand John Grey, der einen gnadenlos gereizten Eindruck machte.
Er sah mitgenommen aus; sein Haar löste sich aus seinem Zopf, und seine Uniform war voller Schmutzflecken – das wird Tom Byrd gar nicht gefallen, dachte Jamie automatisch. Er hatte recht; Tom stieß neben ihm einen kleinen Laut der Entrüstung aus, und Jamie legte dem Jungen die Hand auf den Arm, um ihn zum Schweigen zu bringen.
Vorsichtig bahnte er sich den Weg durch den kleinen Menschenauflauf und verhielt sich dabei so unauffällig wie möglich, während er versuchte herauszufinden, wie er am besten helfen konnte. Aus vielleicht fünf Metern Entfernung sah er, dass man Grey die Hände vor dem Bauch gefesselt hatte und dass die dunklen Flecken auf seinen Stiefeln kein Schmutz waren, sondern Blut.
Grey versuchte gerade, sich inmitten des Palavers mit lauter Stimme Gehör zu verschaffen, doch Jamie konnte nicht verstehen, was er sagte. Grey wandte sich von dem Konstabler ab und schüttelte angewidert den Kopf – und sein Blick fiel auf Jamie. Die Verärgerung in seinem Gesicht wich sofort der Berechnung, und er winkte heftig mit der Hand. »Geht«, sagte die Geste in aller Deutlichkeit.
»Was werden sie mit ihm machen?«, flüsterte Tom Jamie drängend ins Ohr.
»Ich weiß es nicht.« Jamie wich einige Schritte ins Gebüsch zurück. »Sie haben ihn festgenommen, sagt Quinn. Vielleicht bringen sie ihn ins nächste Gefängnis.«
»Das können sie doch nicht tun!«
Er richtete den Blick auf Tom, dessen rundes Gesicht eine bestürzte Miene trug und der die Fäuste an den Seiten geballt hatte.
»Aye, warten wir es ab.« Die Gedanken rasten ihm durch den Kopf, während er zu erraten versuchte, was Grey wohl von ihm wollte.
»Geht auf den Rasen, wo er Euch sehen kann, Byrd«, sagte er, während er die Szene genau betrachtete. »Ich denke, sie werden Euch zu ihm lassen, da Ihr ja sein Bediensteter seid.«
Tom warf ihm einen wilden Blick zu, doch dann richtete er sich auf und nickte tapfer. Er trat aus dem Gebüsch und schritt auf die Menschengruppe zu, und Jamie sah, wie sich Greys verärgerte, nervöse Miene ein wenig entspannte. Auch seine Aufregung ließ ein wenig nach; er hatte also richtig geraten.
Auf dem Rasen brach ein kleiner Tumult aus, denn die Dienstboten versuchten, Tom Byrd von Grey fernzuhalten. Doch der junge Kammerdiener ließ sich nichts gefallen, und Grey wandte sich mit finsterer Miene an den Konstabler und gestikulierte beharrlich mit seinen gefesselten Händen auf ihn ein. Der Konstabler ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, und seine Miene war voller Argwohn, doch er strahlte Autorität aus; als er sich jetzt mit erhobener Hand Ruhe ausbat, verstummte das Geschnatter.
»Ihr seid der Kammerdiener dieses Mannes, sagt Ihr?«, hörte ihn Jamie im Prasseln des Regens und im Gemurmel der Dienstboten sagen.
»Das bin ich, Sir.« Tom Byrd verbeugte sich tief. »Würdet Ihr mich bitte mit ihm sprechen lassen?«
Der Konstabler ließ den Blick von Tom Byrd zu Grey und wieder zurück schweifen.
»Aye, bitte. Ihr da!«, sagte er mit gebieterisch erhobenem Kinn zu den Dienstboten. »Ich möchte mit der Person sprechen, die den Toten gefunden hat.«
Alles trat auf der Stelle und sah sich nervös um. Schließlich meldete sich schüchtern eine Dienstmagd aus dem Gedränge, und zwei ihrer Kollegen schoben sie nach vorn. Sie sah völlig verängstigt aus, ihre Augen weiß wie bei einem scheuenden Pferd, und ihre Hände waren in ihre Schürze geknotet, als wollte sie das Tuch erwürgen.
»Ihr wart es also, die Euren Herrn gefunden hat? Nur zu, Ihr habt nichts zu befürchten«, sagte der Konstabler in einem Tonfall, den er wahrscheinlich für beruhigend hielt. Er hätte genauso gut sagen können, dass er sie geradewegs zum Henker bringen würde, denn die Dienstmagd jammerte erschrocken auf und warf sich die arme, geplagte Schürze über den Kopf.
Einer der Männer schien ihr Mann zu sein, denn er legte den Arm um sie und bot dem Konstabler die Stirn – zitternd, aber dennoch bestimmt, wie Jamie beifällig beobachtete.
»So ist es, Eurer Ehren, und sie ist vor Schreck noch völlig von Sinnen, wie Ihr sehen könnt.«
»Ich verstehe«, sagte der Konstabler schroff. »Nun, wer zum Kuckuck hat denn sonst noch gesehen, was geschehen ist? Ihr?«
»Oh, ich nicht, o nein, Euer Ehren«, sagte der Ehemann. Er wurde bleich und trat einen Schritt zurück, während seine Finger das Zeichen gegen das Böse formten. Seine Frau kreischte auf, als sie spürte, wie sich sein schützender Arm von ihr löste, und sie sackte in sich zusammen. Ihre Freunde unter den Dienstboten brachen sogleich in solidarisches Geheul aus, und der Konstabler bohrte angesichts des Lärms die Zähne in seine Oberlippe, so dass er aussah wie eine Bulldogge.
Während der Konstabler mit seinen mühseligen Ermittlungen beschäftigt war und der Regen immer stärker wurde, sah Jamie, wie Grey Tom Byrd mit einer Bewegung seines Kopfes zu sich winkte und ihm dann offenbar Anweisungen ins Ohr flüsterte, während er hin und wieder zu dem Gebüsch hinüberblickte, in dem sich Jamie versteckte.
Aus dem unzusammenhängenden Gestammel der Dienstmagd glaubte er herausgehört zu haben, dass sie den Herrn im Sommerhaus gefunden hatte, und da der Konstabler nicht geneigt zu sein schien, sich dort selbst ein Bild zu machen, glitt Jamie aus dem Gebüsch und umrundete das kleine Wäldchen lautlos auf der Rückseite.
Mehr als eine Person war hier schon hindurchgerannt; das konnte er an den abgebrochenen Zweigen und den zertrampelten Farnen sehen. Er ging der Zerstörung vorsichtig aus dem Weg und stahl sich auf die Rückseite des Sommerhauses. Es bestand aus Spalieren, die sich mit halbhohen Elementen abwechselten, die nur bis zu einem Schmuckgeländer reichten. Wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, war er gerade eben groß genug, um vom Fuß der Treppe aus durch das Spaliergeflecht zu spähen.
Das Erste, was er sah, war nicht Siverlys Leiche, sondern die Waffe. Es war die merkwürdige Keule, mit der Siverly auf ihn losgegangen war, und er bekreuzigte sich bei diesem Anblick mit einem seltsamen Gefühl, nicht der Genugtuung, sondern der Ehrfurcht vor Gottes Sinn für Gerechtigkeit.
Grey hatte die Keule an seiner Beschreibung erkannt und ihm erzählt, dass es eine Streitkeule der Irokesen war. Aus Hartholz gefertigt und in den richtigen Händen absolut tödlich. Offenbar war Siverly auf jemanden getroffen, der wusste, wie man diese Waffe benutzte – der Knauf am Ende war mit Blut und Haaren verklebt, und … Sein Blick folgte der breiten Blutspur, die sich über den Boden des Sommerhauses zog, bis er auf einen Gegenstand fiel, der Siverlys Kopf sein musste – aber auch nur, weil er nichts anderes sein konnte.
Der Mann lag mit dem Kopf zu Jamie zeigend, und der Rest seines Körpers war weitgehend unsichtbar. Der Hieb hatte ihm den Schädel erschreckend weit eingeschlagen; der weiße Knochen schimmerte durch, und rings um die Wunde quoll eine rosafarbene Masse auf, von der er wusste, dass es das Hirn sein musste. Er spürte, wie ihm übel wurde, wandte sich hastig ab, schloss die Augen und versuchte, nicht einzuatmen, denn der Geruch von Blut und Tod verklebte ihm die Nase.
Hier gab es wenig herauszufinden, und früher oder später würde jemand kommen; man durfte ihn nicht in der Nähe des Toten finden. Er stahl sich lautlos durch den Wald davon und kam in der Nähe der Auffahrt heraus, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie man Lord John abtransportierte. Der Konstabler hatte einen Wagen des Anwesens beschlagnahmt und ritt auf seinem Maultier nebenher, ohne seinen Gefangenen aus dem Auge zu lassen. Besagter Gefangener saß kerzengerade auf dem Kutschbock, und seine Miene war extrem böse, aber gefasst. Jamie sah, wie er etwas zu dem Konstabler sagte, das diesen blinzelnd auffahren ließ, doch dann funkelte er Lord John an und wandte sich mit einer abrupten Geste an den Kutscher, der mit der Zunge schnalzte und so heftig antrabte, dass John fast von seinem Sitz gefallen wäre, da er sich mit gefesselten Händen nicht abstützen konnte.
Jamie empfand eine wütende Seelenverwandtschaft bei diesem Anblick; auch er hatte solche kleinen Grausamkeiten erdulden müssen, als er Eisen getragen hatte. Er murmelte einen an den Konstabler adressierten Fluch und betrat die Auffahrt, wo sich die Dienstboten anklagend um Tom Byrd scharten.
Bei Jamies Anblick verstummten sie und wichen ein wenig zurück. Er ignorierte sie allesamt, wies mit einem Ruck seines Kopfes auf Tom und sagte nur: »Kommt mit mir, Mr Byrd«, bevor er sich zum Ausgang wandte.
Tom folgte ihm prompt, und hinter ihnen war zwar feindseliges Gemurmel zu hören, doch niemand hinderte sie daran zu gehen.
»Ich bin froh, dass Ihr genau in diesem Moment gekommen seid, Sir«, sagte Tom, der sich beeilte, um zu ihm aufzuschließen, und sich dabei noch einmal umsah. »Ich dachte schon, sie reißen mich in Stücke – und sie dachten das auch.«
»Aye, nun ja, sie sind wie Hunde, deren Herr gestorben ist«, sagte Jamie nicht unfreundlich. »Sie wissen nicht, was sie tun sollen, also gehen sie heulend aufeinander los. Was hat Seine Lordschaft zu Euch gesagt, Byrd?«
Tom war blass und aufgeregt, doch er hatte sich im Griff. Er rieb sich mit dem Ärmel über das Gesicht, um den Regen abzuwischen, und sammelte sich, um Lord Johns Nachricht zu wiederholen.
»Also, Sir. Erstens bringt der Konstabler – das war der Konstabler, dieser laute, fette Mensch – Seine Lordschaft nach Athlone.«
»Aye? Nun, das ist doch gut – nicht?«, fragte Jamie, als er sah, dass Tom den Kopf schüttelte.
»Nein, Sir. Er sagt, der Justiziar ist in Frankreich, und wer auch immer ihn vertritt, wird ihn entweder einsperren oder ihn auf Ehrenwort freilassen, und das geht nicht.«
»Nicht? Hat er gesagt, warum nicht?«
»Nein, Sir, dazu war keine Zeit. Er sagt, Ihr müsst kommen und ihn dort herausholen, so schnell Ihr könnt.«
Jamie rieb sich das Gesicht und strich sich das Wasser aus den Augenbrauen.
»Sagt er das«, konstatierte er trocken. »Hatte er auch eine Idee, wie ich das anstellen soll?«
Tom lächelte schwach, trotz seiner Besorgnis.
»Nein, Sir. Er sagt, er vertraut auf Eure angeborene Klugheit und Tapferkeit, um dies zu bewerkstelligen. Ich soll Euch helfen«, fügte er bescheiden hinzu und blickte von der Seite an Jamie hinauf. Er legte die Hand an seine Taille und setzte eine bedeutungsvolle Miene auf. »Seine Lordschaft hat mir seinen Dolch zur Aufbewahrung gegeben.«
»Das wird uns sehr helfen«, versicherte ihm Jamie ernst. »Aber erstecht niemanden damit, ohne dass ich es Euch sage, aye? Ich möchte Euch nicht beide vor dem Henker retten müssen.«
Es regnete jetzt noch stärker, doch da sie bereits durchnässt waren, hatte es wenig Sinn, sich zu beeilen, und sie schritten dahin, ohne zu reden, während ihnen der Regen auf Kopf und Schultern prasselte.