3
Ein Ire, ein feiner Herr
HELWATER
2. APRIL
Jamie kleidete sich an und stieg in den Stall hinunter, um die Pferde mit Heu zu füttern. Dabei nahm er weder Notiz von der Dunkelheit noch von seinen kalten Händen und Füßen. Ein Ire. Ein feiner Herr.
Wer zum Teufel konnte das sein? Und – falls dieser Ire existierte – was hatte er mit Betty zu tun? Er kannte eine ganze Reihe von Iren. Doch die feineren Herren unter ihnen waren Jakobiten, die mit Charles Stuart nach Schottland gekommen waren. Bei diesem Gedanke überzogen sich auch die wenigen Stellen seines Körpers, die bis jetzt noch nicht froren, mit Eiseskälte.
Die Jakobiten waren Vergangenheit, genau wie der Teil seines Lebens, der mit ihnen in Zusammenhang stand.
Doch immer mit der Ruhe. Was konnte ein solcher Mann von ihm wollen? Jamie war ein Kriegsgefangener, der seine restliche Strafe unter Ehrenwort abarbeitete und nicht einmal seinen eigenen, berüchtigten Namen benutzen durfte. Er war nicht besser gestellt als ein schwarzer Sklave, abgesehen davon, dass man ihn nicht verkaufen konnte und dass ihn niemand schlug. Hin und wieder wünschte er, jemand würde das versuchen und ihm so eine Ausrede liefern, um sich zu prügeln, doch er erkannte diese Sehnsüchte als Wunschtraum und schob den Gedanken beiseite.
Außerdem … woher sollte irgendjemand, ob Jakobit, Ire oder Hottentotte wissen, wo er war? Erst in der vergangenen Woche hatte er einen Brief von seiner Schwester aus den Highlands bekommen, und sie hätte es doch mit Sicherheit erwähnt, wenn sich jemand nach ihm erkundigt hätte, erst recht ein Ire.
Die Atmosphäre im Stall änderte sich jetzt, und graues Licht sickerte durch die Ritzen in den Wänden. Die Dunkelheit schwand dahin und mit ihr die nächtliche Illusion von Freiheit und Geräumigkeit, denn nun wurden die verschmutzten Bohlen seines Gefängnisses sichtbar.
Am Ende der Stallgasse stellte er die Heugabel beiseite, vergewisserte sich mit einem hastigen Blick, dass weder Hanks noch Crusoe schon im Stall waren, und stahl sich in die leere Abfohlbox.
Er atmete langsam aus, so wie er es auf der Jagd tun würde, und atmete noch langsamer ein, die Nasenlöcher geweitet, um eine Duftspur aufzufangen. Doch in der Box hing nur der Duft des Heus aus dem letzten August, hinter der Wand der Geruch nach frischem Pferdemist und Pferdeatem, der nach süßem Mash roch. Das Heu war zerwühlt und an einigen Stellen zertrampelt. Er konnte sehen, wo er letzte Nacht gelegen hatte – Röte stieg ihm ins Gesicht –, und vielleicht noch eine Stelle in der Ecke, an der möglicherweise jemand gestanden hatte.
Kein Wunder, dass ihn der Mann unter den Umständen nicht angesprochen hatte. Er hustete. Wenn er denn da gewesen war, und Jamie hoffte sehr, dass es nicht so gewesen war.
Ire. Ein Herr aus Irland. Der einzige Zusammenhang, der ihm einfiel … Seine Hände ballten sich zu Fäusten, als ihm dieser Gedanke kam, und er spürte den Rückstoß eines Schlags in seinen Fingerknöcheln. Lord John Grey. Er hatte für Lord John einen Iren – oder zumindest dessen Fährte – ausfindig gemacht, aber das hier konnte doch gewiss nichts mit Greys Problem zu tun haben.
Er hatte Grey seit über einem Jahr nicht mehr gesehen, und mit etwas Glück würde er ihn auch nie wieder zu Gesicht bekommen. Grey war der Gefängnisverwalter von Ardsmuir gewesen, als Jamie dort eingekerkert war, und er hatte dafür gesorgt, dass Jamie nach Helwater kam, da die Familie Dunsany zu seinen alten Freunden zählte. Grey hatte ihn einmal pro Vierteljahr besucht, um sich nach ihm zu erkundigen, und ihr Verhältnis hatte allmählich zivile Züge angenommen, mehr allerdings nicht.
Dann hatte ihm Grey eine Abmachung vorgeschlagen: Wenn sich Jamie per Brief bei seinen jakobitischen Bekannten im Ausland nach einer Angelegenheit erkundigte, die für Grey von Bedeutung war, würde Grey dafür sorgen, dass Jamie offen an seine Familie in den Highlands schreiben und Post von ihr bekommen durfte. Jamie hatte eingeschlagen und die gewünschten Erkundigungen eingezogen. Er hatte vorsichtig formulierte Informationen erhalten, die darauf hindeuteten, dass der Mann, den Lord John suchte, möglicherweise ein irischer Jakobit war – einer jener Stuart-Anhänger, die sich die Wildgänse nannten.
Er wusste nicht, wozu Grey diese Information verwendet hatte – falls überhaupt. Bei ihrem letzten Zusammentreffen waren Worte zwischen ihnen gefallen, die … Er schluckte die Erinnerung hinunter und griff wieder nach seiner Heugabel, die er heftig in den Heuhaufen stieß. Wer auch immer Bettys Ire sein mochte, er konnte nichts mit John Grey zu tun haben.
WIE ES DIE LAUNEN DES Frühlingswetters mit sich brachten, war der Tag weniger heraufgedämmert, als dass es vielmehr einfach aufgehört hatte, Nacht zu sein. Nebel lag in großen, schmuddeligen Bänken auf den Hügeln über Helwater, und der kalte Himmel war gefärbt wie Blei. Jamies rechte Hand schmerzte. Vor langer Zeit hatte er dort ein gutes Dutzend Knochenbrüche erlitten, und jeder einzelne davon teilte ihm jetzt unter durchdringenden Schmerzen mit, dass es regnen würde.
Nicht, dass man ihm das hätte sagen müssen; abgesehen von der stahlgrauen Farbe des Lichts lag ihm die Feuchtigkeit schwer in den Lungen, und der Schweiß kühlte ihm auf der Haut ab, ohne je zu trocknen. Er arbeitete wie ein Automat; in Gedanken an zweierlei Orten, die sich beide nicht dort befanden, wo sein Körper war.
Ein Teil seiner Gedanken drehte sich um Betty. Er musste mit dem kleinen Weibsbild sprechen, vorzugsweise an einem Ort, an dem sie ihm nicht leicht entwischen konnte.
Die Kammerzofen aßen normalerweise gemeinsam mit der Haushälterin in deren Wohnzimmer, statt sich zu den niederen Bediensteten in der Küche zu gesellen. Er konnte das Haus nicht weiter als bis zur Küche betreten – jedenfalls nicht offen. Er hielt einen Moment inne, die Heugabel in der Hand, und fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn er sich hineinstahl und erwischt wurde. Was konnte ihm Lord Dunsany antun? Man konnte ihn ja schließlich nicht entlassen.
Dieser aberwitzige Gedanke ließ ihn auflachen, und er machte sich besser gelaunt wieder an seine Arbeit – und an seine Überlegungen.
Nun, die Kirche vielleicht. Die Dunsanys waren Anglikaner und gingen in St. Margaret, der Dorfkirche von Ellesmere, zur Messe. Sie fuhren mit der Kutsche, und Betty fuhr normalerweise gemeinsam mit Lady Dunsany und mit Lady Isobel, ihrer Herrin. Er war Kriegsgefangener auf Ehrenwort; ohne Lord Dunsanys Erlaubnis konnte er keinen Fuß über die Grenzen von Helwater setzen – doch die große Kutsche, die von vier Pferden gezogen wurde, benötigte zwei Kutscher, und Jamie war der einzige Stallknecht, der mehr als ein Gig fahren konnte.
Aye, das würde vielleicht gehen; er würde sehen. Wenn es ihm gelang, sich Betty bis auf Armeslänge zu nähern, konnte er ihr vielleicht eine Notiz zustecken, um sie zu einem Gespräch außerhalb des Hauses aufzufordern. Der Himmel allein wusste, was er dann zu ihr sagen würde, doch ihm würde schon etwas einfallen.
Natürlich konnte er eine solche Notiz auch beim Frühstück einem der Küchenmädchen anvertrauen, doch je weniger Leute mit dieser Sache zu tun bekamen, desto besser. Er würde es zuerst selbst versuchen.
Nachdem dieser vorläufige Entschluss gefallen war, blieb er stehen, um sich das Gesicht mit dem schmierigen Handtuch abzuwischen, das über der Kleietonne hing, und widmete sich wieder Bettys irischem Herrn.
Existierte er überhaupt? Und wenn ja, was zum Teufel wollte er von Alex MacKenzie? Es sei denn natürlich, dass es gar nicht Alex MacKenzie war, sondern stattdessen Jamie Fraser, den er …
Dieser Gedankengang wurde durch einen hastigen Aufprall im Keim erstickt, und Hanks erschien am Fuß der Leiter. Sein Gesicht war gelb, und er stank erbärmlich.
»Hallo Mac«, sagte er um einen kameradschaftlichen Ton bemüht. »Tust du mir einen Gefallen?«
»Aye. Was denn?«
Hanks brachte ein gespenstisches Lächeln zuwege.
»Willst du denn nicht erst wissen, was es ist?«
»Nein.« Was er wollte, war, dass Hanks verschwand, und zwar sofort. Der Mann stank, als wäre er im Inneren tot, und die Pferde in seiner Nähe scharrten und schnaubten angewidert.
»Oh.« Hanks rieb sich mit zitternder Hand das Gesicht. »Nichts Großes. Nur … kannst du meine Pferde auf die Weide bringen? Ich bin nicht …« Er ließ erschlafft die Hand sinken, und damit war alles darüber gesagt, was Hanks nicht war.
Ein Windstoß wehte kalt unter dem Stalltor herein. Er roch nach dem kommenden Regen und fegte Stroh und Spreu über den gepflasterten Boden zwischen den Boxen. Er zögerte. Keine Stunde mehr, und es würde in Strömen regnen. Er konnte spüren, wie sich das Unwetter über dem Hochmoor zusammenbraute und alles verfinsterte.
Den Pferden würde der Regen nichts ausmachen; sie hatten ihre Freude daran. Und der Nebel würde sich verziehen, wenn der Regen kam; er lief kaum Gefahr, sich zu verlaufen.
»Ihr sollt ihn im Hochmoor treffen, bei der alten Schäferhütte«, hatte Betty gesagt.
»Aye, gut.« Er wandte sich ab und begann, Kleie und Leinsamen für das Mash abzumessen. Im nächsten Moment hörte er Hanks auf die Leiter zustolpern und drehte sich, um neugierig zuzusehen, ob der Mann wohl herunterfiel und sich den Hals brach. Doch das tat er nicht.
3. APRIL
AM ENDE HATTE ES DOCH zu sehr geregnet, um so hoch zu kommen. Jamie war mit seinen Pferden durch den Schlamm der Straße am Seeufer gestapft, war dann mit ihnen durch das flache Wasser gewatet, um den schlimmsten Dreck wieder loszuwerden, dann zurück in den Stall, wo sie trocken gerieben wurden. Einmal hatte er zwar zu den Hügeln hinaufgeblickt, doch der Regen verhüllte das Hochmoor, wo die Ruine der alten Schäferhütte stand.
Heute war es zwar kalt auf den Hügeln, aber sonnig, und er hatte keine Weidegänger dabei, die ihn behinderten. Augustus dampfte von der Anstrengung des Aufstiegs, und Jamie hielt an der höchsten Stelle des Pfades an, um sich umzusehen und dem Pferd eine Atempause zu gönnen. Hier oben war die Landschaft immer noch winterlich; im Windschatten der Felsen sammelte sich gefrorener Schnee, und an den Felsvorsprüngen hingen tropfende Eiszapfen, doch er spürte die Wärme der Sonne auf seinen Schultern, und weit unter ihm überzog ein grüner Schimmer das Moor, das sie White Moss nannten.
Er hatte diesen Weg gewählt, der sich der verfallenen Schäferkate von hinten und von oben näherte, um sich zunächst einen Überblick verschaffen zu können. Es gab keinen Grund, einen Hinterhalt oder eine Falle zu vermuten, doch sein Instinkt hatte ihn bis jetzt am Leben erhalten, und er ignorierte das grimmige Murmeln in seinem Ohr nur selten.
Er war seit Monaten nicht mehr hier oben gewesen, doch im Hochmoor änderte sich außer dem Wetter nur wenig. Unter ihm lag ein kleiner See, dessen Ränder noch mit einer Eiskruste überzogen waren. Das trockene Ried des letzten Jahres bohrte sich schwarz durch die Kruste, denn noch wuchsen keine neuen Gräser nach. Die Hütte lag gleich hinter dem See. Sie war so stark verfallen, dass man sie auf gleicher Höhe mit dem Wasser niemals gesehen hätte und sie nur für einen weiteren Haufen mit Flechten bewachsener Steine gehalten hätte. Doch von oben war das rechteckige Fundament deutlich zu erkennen – und in einer Ecke flatterte etwas im Wind. Segeltuch vielleicht? Er war sich fast sicher, dass dort ein Bündel lag.
Es bewegte sich nichts außer dem flatternden Leinen und dem Wind im Wintergras. Er glitt von Augustus’ Rücken hinunter und band ihm ein Seil um die Beine, so dass sich der Wallach zwischen den Felsen suchen konnte, was auch immer dort zu finden war. Jamie wanderte ein kurzes Stück über den Hügelkamm, um besser sehen zu können, und als er hinter einem scharfkantigen Felsvorsprung hervortrat, sah er den Mann, der zehn Meter unter ihm auf einem Felsen saß und die Ruine ebenfalls beobachtete.
Er war dünn; Jamie konnte sehen, dass sich seine Schulterblätter unter seinem Rock abmalten. Er trug einen Schlapphut, doch während Jamie ihn beobachtete, zog er diesen ab, um sich zu kratzen, und ein brauner Lockenkopf mit grauen Strähnen kam zum Vorschein. Der Mann kam Jamie bekannt vor, und Jamie durchforstete gerade sein Gedächtnis nach dem Namen des Mannes, als sein Fuß ein Steinchen lostrat. Es klapperte zwar nur ganz leise, doch das reichte. Der Mann wandte sich um und stand auf, und sein schmales Gesicht erhellte sich. Jamie sah, dass ihm ein Eckzahn fehlte, doch das schmälerte den Charme seines Lächelns nicht.
»Wenn das nicht der Herr von Lallybroch ist. Welche Freude, dich zu sehen, Jamie!«
»Quinn?«, sagte er ungläubig. »Bist du das?«
Der Ire blickte fragend an sich hinunter, betastete seine Brust und blickte wieder auf.
»Nun, das, was noch von mir übrig ist. Schließlich sind wir alle nicht mehr die, die wir einmal waren – obwohl ich sagen muss, dass du selbst ganz gut aussiehst.« Er betrachtete Jamie beifällig von oben bis unten. »Die Luft hier oben scheint dir zu bekommen. Und du hast ein bisschen zugenommen, seit ich dich zuletzt gesehen habe.«
»Wohl wahr«, erwiderte Jamie ausgesprochen trocken. Als er Tobias Quinn 1746 das letzte Mal gesehen hatte, war er fünfundzwanzig und gemeinsam mit dem Rest der Jakobitenarmee dem Hungertod nahe gewesen. Quinn war ein Jahr jünger als er, und bestürzt sah Jamie die Falten im Gesicht des Iren und das Grau in seinen Haaren. Falls Quinn bei Jamies Anblick Ähnliches empfand, so behielt er es für sich.
»Du hättest Betty ruhig deinen Namen sagen können«, sagte Jamie auf dem Weg nach unten. Er hielt dem Iren die Hand entgegen, doch Quinn schlang die Arme um Jamie und drückte ihn. Verblüfft und verlegen spürte Jamie, wie ihm bei dieser Berührung die Tränen in die Augen stiegen, und er hielt Quinn eine Minute lang fest in den Armen, um die Augen zuzukneifen.
»Sie kennt meinen Namen. Aber ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest, wenn du gewusst hättest, dass ich es bin.« Quinn trat einen Schritt zurück, fuhr sich seinerseits ohne jede Scham mit dem Finger unter den Augen entlang und lachte. »Bei der Heiligen Mutter Gottes, Jamie, ich bin so froh, dich zu sehen!«
»Ich dich auch.« Das zumindest stimmte; nur die Frage, ob er gekommen wäre, wenn er gewusst hätte, dass es Quinn war, der hier oben auf ihn wartete, ließ er offen. Er ließ sich langsam auf einem Felsen nieder, um sich zu sammeln.
Nicht, dass er den Mann nicht mochte; ganz im Gegenteil. Aber dieses Bruchstück seiner Vergangenheit vor sich aufsteigen zu sehen wie einen Geist, der sich aus blutgetränktem Boden erhebt, weckte Gefühle in ihm, die er mit großer Mühe begraben hatte – und Erinnerungen, die er nicht zurückhaben wollte. Darüber hinaus … hatte sein Instinkt das Murmeln aufgegeben und sprach laut und deutlich mit ihm. Quinn war einer von Charles Stuarts Vertrauten gewesen, aber kein Soldat. Von Culloden aus war er nach Frankreich geflohen; zumindest hatte Jamie das gehört. Was zum Teufel machte er jetzt hier?
»Ach, diese Betty ist ein hübsches Mädchen, und diese schwarzen Augen«, sagte Quinn unterdessen. Er legte den Kopf schief, um Jamie zu betrachten. »Auf dich hat sie es besonders abgesehen, mein Junge, das merke ich.«
Jamie unterdrückte das Bedürfnis, sich bei dieser Vorstellung zu bekreuzigen.
»Oh, da hast du freie Bahn«, versicherte er Quinn. »Keine Angst, dass ich dir da im Weg sein könnte.«
»Aber nicht doch – Betty ist die Schwester meiner dahingeschiedenen Frau. Gewiss hat doch die Bibel das eine oder andere dagegen, dass man es mit seiner Schwägerin treibt.«
Jamie hatte die Bibel mehrfach von vorn bis hinten gelesen – aus purer Not; sie war damals sein einziges Buch gewesen – und konnte sich nicht an ein derartiges Verbot erinnern, doch er sagte nur: »Tut mir leid, das zu hören, Mann. Ist deine Frau schon lange tot?«
Quinn spitzte die Lippen und legte den Kopf erst zur einen Seite schief, dann zur anderen.
»Nun, wenn ich ›dahingeschieden‹ sagte, meine ich ja nicht unbedingt, dass die Frau verstorben ist, falls du verstehst.«
Jamie zog seine Augenbraue hoch, und Quinn seufzte.
»Als nach Culloden alles zu Bruch gegangen ist und ich nach Frankreich entwischen musste, hat sie sich meine Zukunftsaussichten genau angesehen und beschlossen, ihr Glück anderswo zu suchen. Meine Tess hatte schon immer einen gesunden Kopf auf ihren Schultern«, sagte er und schüttelte seinerseits bewundernd den Kopf. »Als ich das letzte Mal von ihr gehört habe, war sie in Leeds. Hatte dort ein Wirtshaus von ihrem letzten Ehemann geerbt. Also, wenn ich sage, von ihrem ›letzten‹, meine ich damit nur den, den sie zuletzt hatte, denn ich glaube keine Sekunde lang, dass sie vorhat aufzuhören.«
»Oh, aye?«
»Aber zufällig ist es genau das, worüber ich mit dir sprechen wollte«, fuhr Quinn fort, während er seine Verflossene mit einer graziösen Handbewegung abtat.
»Über Leeds? Oder über Wirtshäuser?« Jamie betete, dass der Mann nicht Ehefrauen meinte. Er hatte seit Jahren nicht mehr von Claire gesprochen, und er hätte sich lieber die Zehennägel mit einer Hufzange ziehen lassen, als sich gezwungen zu sehen, über sie zu sprechen.
»Culloden«, sagte Quinn, was in der Brust seines Zuhörers Erleichterung und Bestürzung zu gleichen Teilen auslöste. Culloden kam auf der Liste der Dinge, über die Jamie nicht reden wollte, ungefähr an vierter Stelle, gleich nach seiner Frau Claire, seinem Sohn William und Jack Randall.
Jamie erhob sich von seinem Felsen, weil ihn das dumpfe Gefühl überkam, dass er besser stehen sollte, wenn er auch nicht wusste, ob ihm das half, auf alles gefasst zu sein, oder ob es der beginnende Fluchtinstinkt war. So oder so fühlte er sich im Stehen wohler.
»Oder«, korrigierte Quinn, »weniger Culloden als vielmehr unser Ziel, falls du verstehst.«
»Ich würde sagen, das läuft auf das Gleiche hinaus«, sagte Jamie und versuchte erst gar nicht, seinen gereizten Unterton zu unterdrücken. »Aus und vorbei.«
»Aber, aber, genau da irrst du dich«, sagte Quinn und zeigte mit seinem knochigen Finger auf ihn. »Obwohl du natürlich schon lange keine Kontakte mehr hast.«
»Das stimmt, aye.«
Quinn schenkte seinem gereizten Tonfall nach wie vor keinerlei Beachtung.
»Es mag ja sein, dass dieses Ziel in Schottland ein paar Rückschläge hinnehmen musste …«
»Rückschläge!«, rief Jamie aus. »Rückschläge nennst du das, was sich in Drumossie ereignet hat?«
»… aber in Irland ist es quicklebendig.«
Im ersten Moment starrte Jamie ihn verständnislos an, dann begriff er, was der Mann da sagte.
»Himmel.«
»Ah, dachte ich’s doch, dass es dir das Herz erfreut, Junge«, sagte Quinn, der es vorzog, Jamies Ausruf als Hallelujaruf zu interpretieren, nicht als Ausdruck des Grauens. Er lächelte, und seine Zungenspitze lugte kurz aus seiner Zahnlücke hervor.
»Wir sind eine ganze Gruppe. Hat Betty nicht weitergesagt, was ich ihr aufgetragen hatte, über den grünen Zweig?«
»Doch, das hat sie, aber ich wusste nicht, was sie damit meint.«
Quinn winkte ab.
»Nun, es hat eine Weile gedauert, nach Culloden wieder auf die Füße zu kommen, aber jetzt läuft alles bestens. Ich möchte jetzt noch nicht ins Detail gehen, wenn es dir nichts ausmacht …«
»Nicht das Geringste.«
»… aber ich möchte sagen, dass eine Invasion geplant ist, vielleicht schon nächstes Jahr – haha! Jetzt sieh dir nur dein Gesicht an. Sprachlos, wie? Nun, das war ich auch, als ich davon erfahren habe. Aber es kommt noch mehr!«
»O Gott!«
Quinn beugte sich mit Verschwörermiene vor und senkte die Stimme – obwohl niemand da war, der ihn hätte belauschen können, abgesehen von einem Wanderfalken, der hoch über ihnen schwebte.
»Und jetzt kommst du ins Spiel.«
»Ich?!« Jamie wollte sich gerade wieder auf seinen Felsen sinken lassen, doch bei diesen Worten fuhr er erneut auf. »Bist du verrückt?«
Er hatte die Frage zwar nicht rhetorisch gemeint, aber er erwartete auch keine bejahende Antwort, was sowieso gut war, denn er bekam keine.
»Hast du schon einmal«, Quinn hielt inne, um seinen Blick auf der Suche nach unsichtbaren Beobachtern hin und her huschen zu lassen, »vom Cupán Druid riogh gehört?«
»Nein. Ein Kelch …?«
»Der Kelch des Druidenkönigs!«
Jamie rieb sich das Gesicht und sank todmüde auf den Stein. »Quinn, es freut mich zu sehen, dass es dir gut geht, aber ich habe zu tun und …«
»Oh, das hast du, Junge, in der Tat!« Quinn streckte ernst die Hand aus und legte sie Jamie auf den Unterarm. »Lass es mich erklären.«
Er wartete nicht auf Jamies Erlaubnis.
»Er ist ein uraltes Besitztum der irischen Könige, der Cupán. Ein Geschenk des Druidenhäuptlings an den König der Könige, vor so langer Zeit, dass niemand mehr weiß, wann es war.«
»Oh, aye?«
»Aber die Leute wissen noch davon; er taucht in den Legenden auf und ist ein machtvolles Symbol der Königswürde.« Die Hand auf Jamies Unterarm drückte fester zu. »Denk doch nur. Wie wäre es, wenn Prinz Tearlach nach Dublin reiten und vor dem Schloss mit seinen mächtigen Toren stehen würde, den Cupán hoch erhoben, während er Irland für seinen Vater beansprucht?«
»Nun, wenn du mich fragst …«
»Denk nur, Mann, die Menschen würden zu Tausenden von den Hügeln und aus den Mooren kommen! Es würden so viele sein, dass wir England so gut wie ohne Waffengewalt einnehmen könnten.«
»Du hast die englische Armee doch gesehen …«, begann Jamie, doch er hätte genauso gut versuchen können, das Eindringen der Flut in die Mündung des Ness zu verhindern.
»Und jetzt kommen wir zu dir!« Endlich ließ Quinn seinen Arm los, jedoch nur, um ihm mit Feuereifer den Finger in die Brust zu rammen.
Jamie wich sacht zurück. »Zu mir?«
»Nun, es ist so, wir haben den Kelch gefunden – er war zweihundert Jahre verschollen, und die Legende sagt, das Alte Volk hat ihn an sich genommen, die Druiden haben ihn zurückgeholt, großes Hin und Her, aber wir – nun, eigentlich sogar ich selbst«, er bemühte sich um eine bescheidene Miene, doch es gelang ihm nicht ganz. »Ich habe ihn entdeckt, im Besitz der Mönche des Klosters Inchcleraun.«
»Aber …«
»Die Mönche halten ihn natürlich unter Verschluss. Aber es ist so … Der Abt von Inchcleraun ist ein gewisser Michael FitzGibbons.« Er wich zurück und sah Jamie erwartungsvoll an.
Jamie zog erneut seine Augenbraue hoch. Quinn seufzte angesichts seiner Begriffsstutzigkeit, half ihm jedoch bereitwillig weiter.
»Mi-chael Fitz-Gib-bons«, wiederholte er und stach Jamie bei jeder Silbe erneut in die Brust. Jamie wich zurück, bis er außer Reichweite war.
»FitzGibbons«, wiederholte Quinn. »Ein Vetter deines Patenonkels Murtagh FitzGibbons Fraser, nicht wahr? Ganz zu schweigen davon, dass er im Haus deines Onkels Alexander Fraser aufgewachsen ist und die beiden zusammengehalten haben wie Pech und Schwefel? Obwohl das vielleicht nicht der beste Ausdruck ist, wenn man von zwei Priestern spricht. Aber was ich sagen will ist, sie stehen sich so nahe, dass sie Brüder sein könnten, und schreiben sich jeden Monat. Also …«
Jetzt musste Quinn doch Luft holen, so dass Jamie etwas sagen konnte.
»Nein«, sagte er entschlossen. »Um nichts in der Welt werde ich versuchen, meinen Onkel Alexander zu überreden, dass er FitzGibbons diesen Kelch abluchst.«
»Oh, das hatte ich gar nicht im Sinn.«
»Gut, denn …«
»Ich möchte, dass du selbst nach Inchcleraun gehst. Oh, da ist ja diese Miene wieder!« Quinn lachte amüsiert und richtete sich auf, dann legte er die Hände auf die Knie und beugte sich vor.
Auch Jamie beugte sich vor, um ihm ins Wort zu fallen.
»Quinn, ich bin Kriegsgefangener. Ich habe mein Ehrenwort gegeben. Das muss dir Betty doch gesagt haben?«
»Ich habe gewiss nicht gedacht, dass du deiner Gesundheit wegen hier bist«, sagte Quinn und ließ den Blick über die kahlen Hügel und die trostlose Ruine der Kate schweifen. »Doch das spielt keine Rolle.«
»Nicht?«
Quinn tat seine Frage als bloße Nebensächlichkeit ab.
»Nein. Es muss jemand sein, dem Vater Michael vertraut, und jemand, von dem bekannt ist, dass er den Stuarts zur Seite steht und der schwören kann, dass der Cupán nicht in die falschen Hände kommt, sondern seinem heiligen Zweck zugeführt wird, indem er wieder einem katholischen Monarchen auf den irischen Thron verhilft. Und jemand, der eine Armee aufstellen und anführen kann. Die Leute vertrauen dir, weißt du«, sagte er ernst. Er hob den Kopf und betrachtete Jamies Gesicht. »Sie hören dir zu, wenn du sprichst, und folgen dir, ohne Fragen zu stellen. So kennt man dich.«
»Das ist vorbei«, sagte Jamie und stellte fest, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte. Der Wind hatte ihm die Kehle ausgetrocknet, deshalb klangen die Worte heiser. »Nein. Das ist vorbei.«
Quinns überschäumende Begeisterung hatte sich ein wenig gelegt. Er nahm Jamies Faust in beide Hände.
»Lieber Jamie«, sagte er beinahe sanft. »Jeder König folgt seinem Schicksal – genau wie die, die ihm dienen. Das hier ist deins. Gott hat dich für diese Aufgabe auserwählt.«
Jamie schloss kurz die Augen, holte tief Luft und befreite seine Hand.
»Ich denke, Gott sieht sich besser anderswo um, Quinn«, sagte er. »Mögen Michael und Bride dich segnen. Auf Wiedersehen.«
Er wandte sich ab und ging davon. Er fand Augustus dort, wo er ihn zurückgelassen hatte und wo er friedlich an dem drahtigen Gras knabberte, das zwischen den Felsen wuchs. Jamie band die Beinfesseln los, schwang sich in den Sattel und lenkte das Pferd auf den Pfad. Er hatte nicht vorgehabt, sich umzusehen, doch im letzten Moment blickte er noch einmal zu der Schäferkate hinunter.
Quinn stand als dunkle Silhouette im Gegenlicht des Spätnachmittags, eine Marionette aus Stöckchen mit einem Heiligenschein aus Locken. Er hob seine langfingrige Hand und winkte zum Abschied.
»Wir sehen uns in Dublin!«, rief er. »Stuart go bragh!« Und sein fröhliches Gelächter folgte Jamie auf dem steilen Pfad nach Helwater.
WÄHREND ER DEN HÜGEL HINUNTERRITT, überfiel ihn eine bestürzende Mischung von Gefühlen. Unglaube und Ungeduld angesichts von Quinns törichten Plänen, Erschöpfung und Bestürzung angesichts der Erkenntnis, dass die Bewegung der Jakobiten noch existierte, wenn auch nur als schwaches Zucken, und Ärger über Quinns Versuch, ihn zur Rückkehr zu überreden. Mehr als nur ein bisschen Angst, wenn er ehrlich war. Und trotz alledem … Glück über das Wiedersehen mit Quinn. Es war lange her, dass er zuletzt das Gesicht eines Freundes gesehen hatte.
»Verfluchter Ire«, murmelte er, lächelte aber trotzdem.
Würde Quinn jetzt gehen?, fragte er sich. Der Ire war genauso sturköpfig wie die meisten anderen seiner Landsleute, und es war nicht wahrscheinlich, dass er seinen Plan aufgeben würde, nur weil ihm Jamie seine Hilfe verweigert hatte. Doch es war gut möglich, dass er sein Glück bei einem anderen Ahnungslosen versuchen würde. Halb hoffte Jamie, dass es so sein würde. Die andere Hälfte würde nichts dagegen haben, noch einmal mit dem Mann zu sprechen und zu hören, welche Neuigkeiten er von den anderen hatte, die Culloden lebend verlassen hatten.
Plötzlich verkrampfte sich sein Bein, und ihn schauderte, als hätte ein Geist seinen Steigbügel gestreift. Augustus spürte seine Anspannung und schnaubte.
Er schnalzte beruhigend mit der Zunge und gestattete dem Pferd, sich seinen Weg auf dem schwierigen Untergrund des Pfades selbst zu suchen. Sein Herz raste, und er versuchte tief und langsam zu atmen, um es zu beruhigen. Verfluchter Quinn, der alles wieder heraufbeschworen hatte. Heute Nacht würde er träumen, eine Gewissheit, die eine Mischung aus Angst und Hoffnung in ihm aufsteigen ließ. Wessen Gesicht würde er sehen?
ZU SEINER GROSSEN VERÄRGERUNG träumte er von Charles Stuart. Betrunken wie üblich und liebenswürdig wie immer schwankte der Prinz an Jamies Seite eine dunkle Straße entlang. Hin und wieder stieß er ihn an, quäkte über dies und jenes. Dann packte er seinen Arm und zeigte kichernd auf eine Reihe von Köpfen, die auf Speere aufgespießt an einer Mauer standen.
»Coimhead«, sagte der Mann immer wieder. »A Dhia coimhead am fear ud’seall an dealbh a thàir aodann!« Gott, sieh dir nur diese Miene an!
»Was soll das?«, wollte Jamie gereizt wissen. »Ihr wisst doch genau, dass Ihr kein Gälisch könnt.«
»Bheil e gu diofair?«, erwiderte Prinz Tearlach. Ist das wichtig?
Quinn, der plötzlich irgendwoher aufgetaucht war, packte Jamie mit großer Kraft am Arm und zwang ihn zum Stehenbleiben.
»Coimhead nach ann oirre tha a ghruag aluinn?« Sieh nur, hat sie nicht schönes Haar?
Jamie hatte sich bemüht, nicht hinzuschauen, doch jetzt tat er es und stellte überrascht fest, dass sämtliche Köpfe Frauenhäupter waren. Er trug eine Fackel, und als er sie jetzt hob, blickte ihm Geneva Dunsany entgegen, bleich und gefasst, mit schwarzen, leeren Augenhöhlen. Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, dass der nächste Kopf eine hellbraune Lockenmähne hatte; er schleuderte die Fackel auf das feuchte Pflaster zu seinen Füßen, um ihn nicht sehen zu müssen, und erwachte hämmernden Herzen von Charles’ trunkenem Gelächter.
Doch es war nicht Charles. Es war Hanks, der im Schlaf lachte. Über seinem Bett hing scharf der Geruch von Bier und Urin; er hatte wieder ins Bett gepisst. Der Mond stand am Himmel, und die Mäuse, die auf dem Heuboden wohnten, wurden allmählich lebendig; der Mondschein weckte ihre Abenteuerlust. Hanks verfiel wieder in schweres Atmen. Jamie konnte kleine Krallen über den Boden kratzen hören, und es raschelte im Stroh.
Er schlug seine Decke zurück, fest entschlossen, nicht wieder einzuschlafen, bis der Traum verflogen war. Doch es war ein langer Tag gewesen, und trotz der Kälte döste er wieder ein.
Wenn er beim Schlafen fror, bekam er Alpträume. Der nächste hatte mit Betty zu tun, und er erwachte in kalten Schweiß gebadet. Er tastete in der Kiste mit seinen Habseligkeiten umher, fand seinen Rosenkranz und sank auf das zusammengepresste Stroh seines Lagers zurück. Dann klammerte er sich an die Holzperlen, als wären sie ein Floß, das ihn über Wasser halten konnte.