23
Plan B
Der nächste Tag dämmerte düster und wolkig herauf, selbst wenn es nicht regnete. Noch nicht. Grey legte sorgsam seine Uniform an, und Tom Byrd diente ihm mit demselben Ernst als Zeremonienmeister, als bereitete er Grey auf eine Schlacht vor. Lederkragen, Halsberge, polierte Stiefel … Grey zögerte zwar, seinen Dolch zu tragen, doch schließlich dachte er an Siverlys Angriff auf Fraser und steckte ihn in seinen Gürtel.
Fraser lehnte am Fensterrahmen und saß halb auf der Fensterbank. Er beobachtete die Vorbereitungen mit einem leichten Stirnrunzeln. Er hatte angeboten, Grey zu begleiten, doch John hatte abgelehnt, weil er davon ausging, dass seine Anwesenheit Siverly nur weiter erzürnen würde. Es würde auch ohne weitere Komplikationen eine haarige Angelegenheit werden.
»Wenn ich nicht zurückkomme«, sagte er an der Tür zu Fraser, »habt Ihr meine ausdrückliche Erlaubnis, mit Siverly zu machen, was Ihr wollt.« Er hatte es als Scherz gemeint, doch der Schotte nickte nüchtern.
»Ich werde Eure Leiche heim zu Eurem Bruder bringen.«
Tom Byrd stieß einen Laut des Entsetzens aus, doch Grey lächelte und gab vor, dies für eine geistreiche Erwiderung auf seinen schwachen Witz zu halten.
»Ja, tut das«, sagte er und stieg mit donnernden Stiefelschritten die Treppe hinunter.
Auf Glastuig öffnete ihm der Butler die Tür und bekam große Augen, als er ihn in Uniform sah.
»Ich möchte Euren Herrn sehen«, teilte Grey ihm mit und trat unaufgefordert ein. »Wo ist er?«
Der Butler trat nervös beiseite.
»Der Herr ist nicht im Haus, Sir!«
»Wo ist er denn?«
Der Mann bewegte tonlos den Mund und sah sich um, als suchte er eine passende Antwort, doch er war zu sehr von der Uniform beeindruckt, um zu lügen.
»Nun … er ist draußen im Sommerhaus. Dort sitzt er vormittags oft. Aber er …«
Grey nickte und machte auf dem Absatz kehrt. Der Butler blieb verdattert zurück.
Er schritt über den Rasen auf den Pavillon zu, legte sich seine Worte zurecht – und überlegte, was er tun sollte, wenn seine Argumente Siverly nicht überzeugten. Er rechnete zwar kaum damit, dass sie das tun würden, doch er war es seinem eigenen Gerechtigkeitssinn schuldig, dem Mann die Gelegenheit zur freiwilligen Rückkehr zu geben.
Wenn nicht … würde er als Gefangener zurückkehren. Das Haarige daran war, dass Grey in Irland keine offizielle Autorität besaß, schon gar nicht die Autorität, jemanden festzunehmen, und das wusste Siverly mit ziemlicher Sicherheit. Grey konnte den Rechtsweg wählen, indem er den Justiziar in Athlone bat, Siverly von einem Trupp Soldaten abholen zu lassen – wenn der Justiziar die Angelegenheit genauso sah wie Grey – und ihn in der Burg offiziell an Grey auszuliefern, der Siverly dann als Militäreskorte in die Obhut der britischen Armee überführen würde.
Dies setzte jedoch voraus, dass Siverly an Ort und Stelle wartete, während Grey nach Athlone und zurück ritt, dass sich der stellvertretende Justiziar (da sich der Justiziar derzeit vermutlich auf Brautschau in Frankreich befand) von Greys Argumenten dazu bewegen ließ, einen offensichtlich wohlhabenden und allseits geschätzten Mann festzunehmen und ihn der Willkür einer fremden Regierung zu überlassen, und dass sich Siverly seinerseits den Männern des Justiziars untertänigst ergab. Offen gestanden hielt Grey seine Chancen in jeder Hinsicht für gering.
Die Alternative war eine Festnahme im Schnellverfahren – nun, eine Entführung, wenn man direkt sein wollte – durch Grey und Jamie Fraser, während Tom Byrd mit den Pferden wartete. Grey neigte dazu, diese Vorgehensweise zu favorisieren, und er wusste, dass ihm Fraser nur zu gern dabei helfen würde.
Dies hatte zwar den Anreiz der Direktheit – und barg zusätzlich die hinreißende Möglichkeit, dass sich Siverly der Verhaftung widersetzte und dabei Kollateralschäden erlitt –, doch er redete sich erst gar nicht ein, dass es einfach sein würde. Sie mussten Siverly durch halb Irland auf ein Schiff schleppen, ohne ungewollte Aufmerksamkeit zu erregen – in einem Land, dessen Sprache er sprach und sie nicht.
»In der Not frisst der Teufel Fliegen«, murmelte er und trat entschlossen auf die Stufen des Pavillons, um Siverly reichlich Vorwarnung zu geben. Er glaubte, im Inneren eine Bewegung zu hören, doch als sein Kopf die Oberkante der Treppe erreichte, schien das Gartenhäuschen leer zu sein.
Doch er war schon lange Soldat, und ihn überkam ein so akutes Gefühl, dass hier Gefahr im Verzug war, dass er sich duckte, bevor er bewusst begriff, dass etwas nicht stimmte. Während er hämmernden Herzens auf der Treppe hockte, griff er nach seinem Dolch und lauschte angestrengt. Er hörte es hinter dem Pavillon laut im Gebüsch rascheln, sprang blitzschnell auf, rannte die Treppe hinunter und umkreiste das Häuschen.
Siverly hatte es schon in das Zierwäldchen geschafft; Grey konnte den Mann zwar nicht sehen, doch er hörte das Knacken und Knirschen, als sich ein menschlicher Körper in aller Eile durch das Unterholz zwängte. Sollte er ihm folgen oder das Wäldchen umrunden?
Er zögerte nicht mehr als eine Sekunde, dann rannte er nach links. Der Mann musste in den Stall wollen; er konnte ihm den Weg abschneiden.
Vage nahm er wahr, dass ein Stück weiter einige Dienstboten rufend auf ihn zeigten, aber er beachtete sie nicht. Er hatte seinen Hut verloren, doch auch das spielte keine Rolle. Er galoppierte durch den Küchengarten, sprang über einen Korb mit frischen Frühlingszwiebeln, der mitten auf dem Weg stand, und wich dem verblüfften Koch aus, der den Korb dort abgestellt hatte.
Das Gartentor war verschlossen, und er versuchte sich erst gar nicht an seinem Riegel, sondern packte es mit beiden Händen und schwang sich mit einem absurden Gefühl der Genugtuung hinüber. Ein kurzer, zerstörerischer Spurt durch ein Rosenbeet, und die Stallungen ragten vor ihm auf. Das große Schiebetor war geschlossen; Siverly war noch nicht herausgekommen. Er drückte das Tor auf und rannte in den halbdunklen Stall, wo sein stürmisches Eintreffen einige Pferde erschreckte, die schnaubend und wiehernd in ihren Boxen tänzelten. Ohne sie zu beachten, blieb er keuchend in der Stallgasse stehen, dem Tor am anderen Ende zugewandt.
Der Schuldige flieht, wo ihn niemand verfolgt. Wenn er genug Luft bekommen hätte, hätte er gelacht, als ihm dieser Satz einfiel. Eigentlich war er gar nicht auf weitere Beweise für Siverlys Schuld aus gewesen, doch dieses offene Schuldeingeständnis mittels seiner Flucht lieferte Grey die Entschuldigung für eine sofortige Festnahme.
Ihm kam zwar der vage Gedanke, dass Siverly gute zwanzig Kilo schwerer war als er und möglicherweise bewaffnet, doch er schob den Gedanken beiseite. Er hatte die Überraschung auf seiner Seite, und er hatte vor, sie zu nutzen. Er bezog neben dem Schiebetor Stellung und schlüpfte in eine schmale Nische, in der das Zaumzeug aufbewahrt wurde.
Die Pferde hatten sich wieder beruhigt. Sie schnaubten zwar immer noch und bewegten die Köpfe, doch widmeten sich jetzt wieder ihrem Heu. Er hörte es grollen, als sich das Schiebetor öffnete – doch es war das falsche Tor, das, durch welches er gekommen war. Hastig warf er einen Blick aus seinem Versteck, doch er sah nur einen Stallknecht, der eine Mistgabel und eine Schaufel in der Hand hatte. Er fuhr zurück und murmelte: »Mist.« Er konnte keinen Zeugen brauchen, erst recht keinen, der mit einer Mistgabel bewaffnet war und seinem Herrn wahrscheinlich zu Hilfe kommen würde.
Doch der Blick des Stallknechtes huschte hin und her, denn er spürte sofort, dass mit den Pferden etwas nicht stimmte. Scheppernd ließ er die Schaufel fallen und kam auf Greys Ende des Stalles zu, die Mistgabel drohend erhoben.
»Kommt schon! Zeigt Euch!«
Ihm blieb nichts anderes übrig. Grey steckte den Dolch ein und trat in die Stallgasse.
»Guten Morgen«, sagte er liebenswürdig. »Ist Euer Herr in der Nähe?«
Der Stallknecht blieb stehen und starrte blinzelnd auf die scharlachrot gekleidete Erscheinung.
»Und wer zum Teufel seid Ihr? Sir«, fügte er unsicher hinzu.
»Ein Bekannter von Major Siverly. Grey ist mein Name«, fügte er hilfsbereit hinzu.
Der Mann, der mittleren Alters war und einen Kopf wie eine Kanonenkugel hatte, hielt inne und blinzelte ihn argwöhnisch an. Grey fragte sich, ob er schon einmal einem Engländer begegnet war – doch das musste er ja; Edward Twelvetrees war hier zu Besuch gewesen.
»Was haben Euer Ehren im Stall verloren, häh?« Die Mistgabel rührte sich nicht. Der Idiot hielt ihn doch wohl nicht für einen Pferdedieb?
»Der Butler hat mir gesagt, dass Major Siverly hier ist, was sonst?« Grey verlieh seinem Ton eine ungeduldige Note, denn ihm war nur zu sehr bewusst, dass Siverly selbst jeden Moment eintreffen konnte. So viel zu seinem Hinterhalt! Er würde einfach das Beste daraus machen müssen und Siverly überreden müssen, mit ihm zum Haus zurückzugehen. Wenn sie erst außer Reichweite der Mistgabel waren …
»Er ist nicht hier.«
»Ja, das habe ich auch bemerkt. Ich … äh … sehe mich draußen nach ihm um.« Bevor ihn eine auf seinen Hosenboden zielende Mistgabel unsanft hinauskomplimentieren konnte, fuhr er auf dem Absatz herum und hielt raschen Schrittes auf das Tor zu. Der Stallknecht folgte ihm, jedoch langsam.
Im Geiste verfluchte er sein Pech und überlegte sich, wie er wohl am besten mit Siverly fertigwurde – doch dies blieb ihm erspart, da kein Siverly auf den Stall zukam. Zwischen dem Stall und dem Wäldchen mit dem Sommerhaus befanden sich eine Koppel und eine größere Weide, und beide waren leer.
Grey stieß einen Fluch aus.
»Euer Ehren?«, sagte der Stallknecht erschrocken.
»Sind die Pferde alle im Stall?«, wollte er wissen und wandte sich dem Stallknecht zu. Der Mann betrachtete ihn skeptisch, doch die Zacken der Mistgabel zeigten jetzt Gott sei Dank auf den Boden. Der Stallknecht kratzte sich langsam am Kopf.
»Was sollen sie denn da? Bessie und Clover sind mit dem großen Wagen unterwegs, und die Schimmelstute und ihr Fohlen sind mit den anderen oben auf der Weide, und …«
»Reitpferde, in Gottes Namen!«
»Oh, Reitpferde, ja?« Der Stallknecht begann endlich zu begreifen, wie eilig er es hatte, und er runzelte die Stirn. Er schaute blinzelnd nach links, wo Grey in einiger Entfernung ein paar Pferde auf der Weide mit den Schweifen wedeln sah. »Also, da oben haben wir die vier – Richard Löwenherz und Istanbul und Marco und …«
»Würdet Ihr mir in Gottes Namen sagen, ob irgendwelche Pferde fehlen?« Greys Eile nahm jetzt die Züge eines Alptraums an, in dem man sich durch einen Sumpf quälte, nur um in einem endlosen Labyrinth zu landen.
»Nein, Euer Ehren.« Der Stallknecht hatte die Worte noch nicht ganz ausgesprochen, als sich Grey schon auf dem Rückweg zum Sommerhaus befand, und das alptraumhafte Gefühl wurde stärker.
Es war nicht Siverlys Erschrecken über sein Kommen, das er auf der Treppe des Pavillons gespürt hatte. Es war drastische, akute Gefahr, das Gefühl, dass ein Unglück geschah. Er war jetzt im Laufschritt unterwegs, ohne den Ausruf des Stallknechts in seinem Rücken zu beachten.
Er brauchte zwei große Schritte für die Treppe, roch es, bevor er es sah, das, was er zuvor schon gerochen haben musste, jetzt jedoch viel stärker, und sein Fuß tauchte in das Blut, und er rutschte aus. Er wedelte mit den Armen, stolperte, um nicht zu fallen, und prallte heftig gegen das Geländer des Pavillons, atemlos und halb erstickt von dem Geruch, dem Gestank des Todes, der sich zu seinen Füßen ausgebreitet hatte.