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Glastuig

Der einzig verfügbare – braune – Wallach lahmte auf dem rechten Vorderbein. Doch John Grey hatte es abgelehnt, die unglückliche Bedelia zu reiten, da man sie sofort erkennen und ihn mit Jamie Fraser in Verbindung bringen würde, so dass Major Siverly Lunte riechen würde. Daher ging er die zwei Meilen vom Wirtshaus zu Siverlys Anwesen Glastuig zu Fuß und rezitierte dabei lateinische Gedichte, um sich von dem bevorstehenden Zusammentreffen abzulenken.

Er hatte alles so weit geplant, wie es möglich war. Sobald man sich die Strategie und die Taktik einer Schlacht zurechtgelegt hatte, schlug man sie sich aus dem Kopf, bis man das Feld betrat und die Gegebenheiten sah. Zu versuchen, die Schlacht im Kopf auszufechten, war sinnlos und bewirkte nur, dass man sich aufrieb und seine Energie erschöpfte.

Er hatte ein herzhaftes Frühstück zu sich genommen, das er mit Mr Becketts exzellentem Bier hinuntergespült hatte. Derart innerlich gefestigt und mit dem guten Wollanzug eines Edelmannes vom Land bekleidet – diesmal mit Wadenschonern, um seine Baumwollstrümpfe zu schonen – und mit diversen Dokumenten bewaffnet, die er in unterschiedlichen Taschen verstaut hatte, war er zu allem bereit.

Qui nunc it per iter tenebricosum

illuc, unde negant redire quemquam.

Nun geht er die dunkle Straße entlang, dorthin, von wo man sagt, dass kein Mensch jemals zurückgekehrt ist.

Es war ein herrlicher Morgen. Grey passierte lediglich eine kleine Schweineherde, die am Fuß einer umgestürzten Steinmauer wühlte und schnüffelte. Abgesehen von den Tieren schien die Landschaft vollkommen leer zu sein, bis ihm nach etwa einer Meile eine Frau mit einem Schultertuch entgegenkam. Sie führte einen Esel, auf dem ein kleiner Junge saß. Grey zog höflich vor ihr den Hut und wünschte ihr einen guten Morgen. Alle drei starrten ihn an, und die Frau und der Junge wandten sich verblüfft nach ihm um und glotzten weiter, nachdem er längst weitergezogen war. Wahrscheinlich waren Fremde in dieser Gegend eine Seltenheit.

Diese Schlussfolgerung bestätigte sich, als er mit seinem Wanderstock an die Tür von Siverlys Herrenhaus klopfte und ihm ein magerer junger Butler mit erstaunlich leuchtendem rotem Haar und Massen von Sommersprossen entgegenblinzelte, als sei er hinter einem Pilz hervorgesprungen.

»Ich möchte Major Siverly besuchen«, sagte Grey höflich. »Mein Name ist Grey.«

»Tatsächlich?«, sagte der Butler unsicher. »Dann seid Ihr wohl Engländer?«

»Tatsächlich«, versicherte ihm Grey. »Und ja, das bin ich. Ist Euer Herr zu Hause?«

»Nun ja, das ist er, aber …« Der Mann sah sich um und richtete den Blick auf eine geschlossene Tür auf der anderen Seite einer geräumigen Eingangshalle. »Oh!« Ihm schien ein Gedanke zu kommen, und er richtete den Blick wieder auf Grey, als hätte er gerade erfolgreich herausgefunden, dass zwei plus zwei vier ergibt.

»Dann seid Ihr gewiss mit dem anderen Engländer befreundet!«

»Dem … anderen Engländer?«

»Der heute Morgen aus Brampton Court gekommen ist!«, rief der Butler glücklich aus. »Er ist mit dem Herrn in der Bibliothek, und sie reden, was das Zeug hält. Dann erwarten sie Euch doch gewiss, oder?«

»Oh, gewiss«, sagte Grey höflich und fragte sich, was zum Teufel ihn jenseits dieser Tür erwartete, während er dem Butler dennoch folgte.

Der Butler zog die mit prachtvollen Schnitzereien verzierte Tür der Bibliothek auf und winkte Grey mit einer ausladenden Verbeugung hinein.

Er suchte nach Siverly und entdeckte ihn daher auch sofort, während dieser überrascht von zwei Büchern aufblickte, die Abrechnungen zu enthalten schienen.

»Major Siverly …«, begann er in betont warmem Tonfall. Doch dann fiel sein Blick auf den Begleiter des Majors, der Siverly gegenüber am Tisch saß, und die Worte blieben ihm im Hals stecken.

»Was in aller Welt … Bulstrode, was zum Teufel soll denn das?«, blaffte Siverly den Butler an, der verdattert blinzelte. »Habe ich Euch nicht aufgetragen, keinen unangemeldeten Besuch einzulassen?«

»Ich – ich dachte …«, stotterte der arme Butler, während er wild zwischen Grey und Edward Twelvetrees hin- und herblickte, der Lord John mit einer Miene irgendwo zwischen Erstaunen und Entrüstung anstarrte.

»Oh, verschwinde, du Trottel«, sagte Siverly gereizt und erhob sich, um den Butler aus dem Zimmer zu winken. »Oberst Grey! Welch angenehme Überraschung. Ihr müsst mir den … äh … unorthodoxen Empfang verzeihen.« Er lächelte, wenn auch mit beträchtlicher Zurückhaltung in den Augen. »Gestattet mir, Euch Hauptmann …«

»Wir kennen uns.« Twelvetrees’ Worte waren so spitz wie Drahtstücke. Er erhob sich langsam und wendete den Blick nicht von Grey ab, während er die Akte vor sich schloss. Nicht bevor Grey sehen konnten, dass sie Auflistung von Summen enthielt, die recht groß zu sein schienen.

Apropos Summen – auf dem Tisch stand eine mit Eisen beschlagene Truhe, deren Deckel geöffnet war und die mehr als zur Hälfte mit kleinen verschnürten Waschlederbeuteln gefüllt war. Der Sitz der Erkerfensterbank war hochgeklappt, und eine Vertiefung in den dort verstauten Decken ließ erkennen, woher die Truhe kam. Siverlys Blick huschte dort hin, und seine Hand zuckte, doch er beherrschte sich, da er offensichtlich keine weitere Aufmerksamkeit auf die Truhe lenken wollte, indem er sie schloss.

»Was macht Ihr denn hier?«, fragte Twelvetrees kalt.

Grey holte tief Luft. Ihm blieb nur der direkte Weg.

»Ich wollte Major Siverly einen Besuch abstatten«, sagte er geduldig. »Und Ihr?«

Twelvetrees spitzte ein wenig die Lippen. »Zufällig in der Gegend, wie?«

»Nein, ich bin eigens gekommen, um mit dem Major über eine Angelegenheit von einiger Bedeutung zu sprechen. Doch ich möchte natürlich nicht stören«, sagte Grey und verneigte sich kurz vor Siverly. »Vielleicht komme ich besser bei einer passenderen Gelegenheit wieder?«

Siverly blickte zwischen Grey und Twelvetrees hin und her, während er offenbar versuchte zu begreifen, was hier vor sich ging.

»Nein, bleibt nur«, sagte er. »Ich muss gestehen – eine Angelegenheit von Bedeutung, sagt Ihr?« Sein Gesicht war zwar nicht sonderlich lebhaft, doch er war auch kein guter Kartenspieler, und Argwohn und Berechnung huschten über seine groben Züge hinweg.

»Eine private Angelegenheit«, sagte Grey und lächelte Twelvetrees freundlich zu, während ihn dieser finster ansah.

»Wie ich schon sagte, wenn es besser passt …«

»Ich bin sicher, dass uns Hauptmann Twelvetrees kurz entschuldigen wird«, unterbrach ihn Siverly. »Edward?«

Oh, sie duzen sich?, dachte Grey. Sieh an, sieh an!

»Gewiss doch.« Twelvetrees hielt langsam auf die Tür zu, während seine Augen Grey fixierten wie ein Paar Pistolenläufe.

»Nein, nein«, sagte Siverly und winkte ihn zu seinem Stuhl zurück. »Bleib nur hier, Edward; Bulstrode wird dir Tee bringen. Oberst Grey und ich machen einen kleinen Spaziergang zum Sommerhaus.«

Nach wie vor charmant lächelnd verneigte sich Grey vor Twelvetrees und folgte Siverly aus der Bibliothek, während er spürte, wie ihm Twelvetrees’ Blicke Löcher zwischen die Schulterblätter brannten.

Hastig überdachte er seine Strategie, während er Siverlys breitem Rücken über den frisch gewalzten Rasen folgte. Zwar würde er sein Verhör nicht in Twelvetrees’ Gegenwart durchführen müssen, doch er musste davon ausgehen, dass alles, was er sagte, zu »Edward« weitergetragen würde.

»Was für ein herrliches Anwesen«, sagte er, als sie um das Haus bogen. Es war die Wahrheit; vorn und hinten erstreckten sich große Rasenflächen, der rückseitige Rasen war von Rosenbeeten und anderen blühenden Büschen eingerahmt, und links befand sich ein ummauerter Garten, der wahrscheinlich der Küchengarten war; Grey sah etwas, das wie Obstbäume an Spalieren aussah, über die verputzte Mauer lugen. Jenseits der Blumenbeete stand ein reizendes weißes Sommerhäuschen am Rand eines Wäldchens aus Ziergehölzen, und dahinter befanden sich die Stallungen.

»Danke«, sagte Siverly mit einem stolzen Unterton. »Ich habe die letzten Jahre damit verbracht, es zu renovieren.« Doch er war kein Mensch, der sich von Komplimenten ablenken ließ. »Ihr wolltet sagen …?« Er wandte sich Grey zu und zog seine stahlgraue Augenbraue hoch.

»Ja.« Mitgegangen, mitgefangen. Grey spürte einen Hauch des tollkühnen Überschwangs, den er stets empfand, wenn es in den Kampf ging. »Erinnert Ihr Euch zufällig noch an einen Adjutanten namens Charles Carruthers? Er gehörte zu einer Eurer Kompanien in Quebec.«

»Carruthers«, wiederholte Siverly in leicht fragendem Tonfall – doch man konnte seinem Gesicht ansehen, dass ihm der Name vertraut war.

»Er hatte eine verkrüppelte Hand«, sagte Grey. Er hasste es, Charlie auf eine solche Beschreibung zu reduzieren, doch es war der schnellste und sicherste Weg zum Ziel.

»O ja, natürlich.« Siverlys breite, pockennarbige Stirn runzelte sich ein wenig. »Aber er ist doch tot. Ich bin mir sicher, dass ich gehört habe, dass er gestorben ist. An den Masern? An irgendeiner Krankheit.«

»Leider ist er tot.« Greys Hand fuhr in seinen Rock, und er hoffte, dass er noch wusste, in welche Tasche er das zusammengefaltete Blatt Papier gesteckt hatte. Er zog es heraus, behielt es aber vorerst in der Hand, statt es Siverly zu reichen.

»Kennt Ihr zufällig meinen Bruder?«

»Euren Bruder?« Jetzt sah Siverly unverhohlen verwundert aus. »Den Herzog? Natürlich. Ich meine, ich habe von ihm gehört; wir sind nicht persönlich miteinander bekannt.«

»Ja. Nun, er befindet sich in Besitz einer recht seltsamen Ansammlung von Dokumenten, die von Hauptmann Carruthers zusammengetragen wurden. Und die Euch betreffen.«

»Mich? Was zum Teufel …« Siverly riss Grey das Blatt aus der Hand, und die Wut flackerte so plötzlich in seinen Augen auf, dass Grey sich augenblicklich vorstellen konnte, wie sich einige der Ereignisse, die Charlie beschrieben hatte, zugetragen hatten. Siverlys Brutalität brodelte dicht unter der Oberfläche; er begriff nur zu gut, wie es möglich gewesen war, dass Siverly Jamie Fraser um ein Haar umgebracht hätte.

Siverly las die Seite hastig durch, zerknüllte sie und warf sie zu Boden. Auf seiner Schläfe zeichnete sich eine Ader ab und pulsierte bläulich unter seiner Haut, die eine unangenehme dunkelrote Farbe angenommen hatte.

»Was ist das für ein Unsinn?«, sagte er, und seine Stimme war belegt vor Wut. »Wie könnt Ihr es wagen, mir etwas zu bringen, was ein solch unfassbarer, schwachsinniger …«

»Leugnet Ihr etwa, dass etwas Wahres an Hauptmann Carruthers’ Bericht ist?« Es war eine Seite, die sich mit den Ereignissen befasste, die zu der Meuterei in Kanada geführt hatte. Es gab Seiten, die viel schlimmere Vorwürfe enthielten – und zwar reichlich –, doch Grey hatte es für besser gehalten, mit etwas Eindeutigem zu beginnen.

»Ich leugne, dass Pardloe auch nur im Mindesten das Recht hat, meine Handlungen in Zweifel zu ziehen! Und was Euch betrifft, Sir …« Siverly baute sich plötzlich mit geballten Fäusten vor Grey auf. »Ihr seid ein Dummkopf, der seine Nase in Dinge steckt, die ihn nichts angehen! Geht mir aus den Augen.«

Ehe sich Grey bewegen oder etwas sagen konnte, war Siverly auf dem Absatz herumgefahren und davongestampft wie ein Ochse, dessen Schwanz in Flammen steht.

Grey blinzelte, begriff verspätet, dass er die Luft anhielt und atmete aus. Das Sommerhaus stand keine zehn Meter von ihm entfernt; er setzte sich auf die Treppe, um sich zu sammeln.

»So viel zum Thema sanfte Überredung«, murmelte er. Siverly ging bereits über den Rasen und pflügte auf das Haus zu, wobei er hin und wieder wütend vor sich hin gestikulierte.

Es war offensichtlich, dass sie nach einem anderen Plan vorgehen mussten. Bis dahin jedoch gab es noch vieles zu bedenken. Edward Twelvetrees zum Beispiel. Und die Truhe mit den Eisenbeschlägen.

Grey diente seit seinem sechzehnten Lebensjahr in dieser oder jener Form in der Armee. Er wusste, wie die Bücher eines Zahlmeisters aussahen – ebenso wie seine Truhe. Twelvetrees und Siverly waren eindeutig gemeinsam in etwas verwickelt, das die Verteilung von Geldern – und zwar in nicht unbeträchtlichem Ausmaß – an eine Reihe von Individuen beinhaltete.

Siverly war jetzt im Haus verschwunden. Grey blieb noch eine Weile sitzen und überlegte, kam jedoch zu keinem endgültigen Schluss. Siverly würde ihm offensichtlich nichts über seine Zahlmeistertruhe erzählen. Vielleicht lohnte es sich, nach Brampton Court zu reiten – der Butler hatte ja gesagt, dass Twelvetrees dort wohnte – und zu versuchen, dem anderen Verschwörer etwas zu entlocken. Er war sich zumindest einigermaßen sicher, dass Twelvetrees nicht einfach so versuchen würde, ihn umzubringen. Obwohl es nicht schaden würde, einen Dolch mitzunehmen.

Gerade als sich Grey erhob, kam Twelvetrees selbst aus dem Haus. Er blickte über den Rasen hinweg und sah Grey vor dem Sommerhaus sitzen. Er senkte den Kopf und kam entschlossenen Schrittes auf ihn zu.

Grey wartete.

Twelvetrees war leicht errötet, als er ankam, hatte sich aber bestens im Griff. In seinem hageren Gesicht mit der langen Nase war nichts von Siverlys vulkanischer Leidenschaft zu sehen. Wohl aber Feindseligkeit und beträchtliche Abneigung.

»Ihr solltet gehen, Oberst Grey«, sagte er ohne Umschweife. »Und nicht zurückkehren. Ich sage Euch das zu Eurem eigenen Besten; Ihr habt nichts zu gewinnen, wenn Ihr Major Siverly belästigt, warum auch immer – und ich muss gestehen, dass Eure Motive für mich nicht zu erkennen sind. Nein, erklärt sie mir nicht …« Er gebot Grey mit erhobener Hand Einhalt. »Es ist mir gleichgültig. Und Ihr braucht auch nicht zu wissen, was meine Motive sind. Sagen wir einfach, dass Ihr Euch in Dinge einmischt, die Ihr nicht versteht, und dass Ihr es bedauern werdet, wenn Ihr damit fortfahrt.«

Er machte Anstalten, sich umzudrehen, doch Grey streckte impulsiv die Hand aus und fasste ihn am Ärmel.

»Einen Moment bitte noch, Hauptmann.« Mit der freien Hand tastete er nach seiner Westentasche und zog ein weiteres Stück Papier heraus – eine der Abschriften des Gedichtes von der Wilden Jagd. »Seht Euch das an.«

Twelvetrees machte den Eindruck, sich losreißen zu wollen, doch stattdessen griff er ungeduldig nach dem Papier und öffnete es.

Er las es nicht einmal, sondern wurde schon beim Anblick der Worte blass.

«Woher habt Ihr das?«, sagte er, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»Von Charlie Carruthers«, sagte Grey. »Ich sehe, dass Ihr es kennt. Wisst Ihr …«

Er kam nicht dazu, den Satz zu vollenden. Twelvetrees hieb ihm das Blatt so heftig vor die Brust, dass er einen Schritt rückwärtstrat, um nicht hinzufallen. Er fing sich wieder, doch Twelvetrees schritt bereits über den schmalen, gepflasterten Weg zurück. Greys Blick fiel auf eine Schnecke auf den Steinen. Twelvetrees’ Fuß landete laut knirschend auf dem Tier. Er achtete nicht darauf, sondern setzte seinen Weg blindlings fort und ließ einen kleinen, feuchten, glitzernden Fleck auf dem Pflaster zurück.