5

Aufruhr der Gefühle

HELWATER

Es war keine gute Nacht gewesen. Es würde auch kein guter Tag werden.

Hanks und Crusoe würdigten ihn keines Blickes, als sie gemeinsam zum Haus gingen, um zu frühstücken. Also hatte er im Schlaf geschrien. Eine dumpfe Röte stieg in seinem Körper auf, die Hitze eines Kerns aus heißem Blei irgendwo in seinem Inneren. Er fühlte sich, als hätte er eine Kanonenkugel verschluckt, frisch aus der Mündung eines Zweipfünders.

Er hatte geträumt, so viel wusste er. War vor der Dämmerung erwacht, zitternd und schweißgebadet. Es war ein Traum von Culloden gewesen. Denn alles, woran er sich erinnerte, war das grauenhafte Gefühl eines Schwertes, das in einen Körper eindrang, der kurze, zähe Moment, just bevor die Haut aufplatzte, der ungehinderte Stoß in den Muskel und der knirschende Zusammenprall mit dem Knochen. Sein linker Arm zitterte jetzt noch davon; immer wieder ballte der die Faust und rieb sich über den Oberschenkel.

Er aß nichts, brachte aber einen Becher kochend heißen, schmutzig braunen Tee hinunter. Das beruhigte ihn ein wenig, genau wie der Weg hinaus zur letzten Koppel, das Zaumzeug in der Hand. Die Luft war zwar noch kühl, doch auf den Hügeln schmolz jetzt der Schnee; er konnte die Stimme des Schmelzwassers hören, das über die Felsen ins Tal lief. Die Sümpfe in den Niederungen – die Leute nannten sie »Moss«: White Moss, Threapland Moss, Leighton Moss – würden jetzt allmählich grün werden, während der Boden mit jedem Tag weicher und trügerischer wurde.

Im Pferdetrog auf der Koppel schwamm ein langer, schlanker Holunderzweig, obwohl im Umkreis von einer Viertelmeile nicht ein einziger Baum stand und die nächsten Holundersträucher am Haus wuchsen. Jamie stieß ein gemurmeltes »Himmel« aus und holte den triefenden Zweig aus dem Wasser. Die dunklen, klebrigen Knospen hatten begonnen, sich zu öffnen, und leuchtend grüne Blättchen lugten zerknittert hervor.

»Er sagt, ich soll Euch sagen, der grüne Zweig wird Blüten tragen.« Er schleuderte den Zweig über den Zaun. Es war nicht der erste. Vor drei Tagen hatte einer quer auf seinem Weg gelegen, als er mit den Pferden zurückkam, die er bewegt hatte, und gestern wieder einer, der im Zaun des Reitplatzes steckte.

Er hob die Hände an den Mund und rief so laut »NEIN!«, dass es vom Geröll am Fuß des nächsten Hügels widerhallte. Er ging nicht davon aus, dass ihn jemand hörte, geschweige denn auf ihn hörte, doch immerhin verschaffte es ihm Erleichterung. Kopfschüttelnd fing er das Pferd ein, das er holen wollte, und schritt zum Stall zurück.

Das Leben hatte nach seiner Begegnung mit Quinn seinen gewohnten Rhythmus wieder angenommen, doch der ungesunde Einfluss des Iren machte sich weiter bemerkbar, durch die Alpträume genauso wie durch das spöttelnde Grünzeug.

Und dann war da noch Betty. Als er zum Tee ins Haus ging – den er dringend nötig hatte, da er weder zum ersten noch zum zweiten Frühstück etwas gegessen hatte –, sah er, dass sich die Kleine am Tor zum Küchengarten herumdrückte. Eine Kammerzofe hatte dort nichts zu suchen, doch in der Nähe befanden sich auch die Blumenbeete, und sie hatte einen Strauß Osterglocken in der Hand. Diesen hob sie jetzt an ihre Nase und warf ihm einen provozierenden Blick zu. Eigentlich wollte er vorbeigehen, ohne sie zu beachten, doch sie stellte sich ihm in den Weg und strich ihm spielerisch mit den Blumen über die Brust.

»Sie duften doch gar nicht, oder?«, sagte er und wehrte den Strauß ab.

»Nein, aber sie sind so hübsch.«

»Wenn man sie nicht essen kann, ist mir nicht besonders danach, sie zu bewundern. Wenn Ihr jetzt bitte …« Er hielt abrupt inne, denn sie hatte ihm einen Weidenzweig mit flauschigen gelben Weidenkätzchen in die Hand gedrückt. Ein Zettel war mit einem Faden um den Zweig gebunden.

Er gab ihn ihr ohne Zögern zurück und setzte seinen Weg fort.

»MacKenzie!«

Er wusste, dass es ein Fehler war, sich umzudrehen, doch aus tief sitzender Höflichkeit hatte er sich schon umgewandt, bevor er sich zur Wehr setzen konnte. »Mistress Betty?«

»Ich erzähle es.« Ihre schwarzen Augen glitzerten, und sie schob kämpferisch den Unterkiefer vor.

»Aye, nur zu«, sagte er. »Und ich wünsche Euch viel Freude dabei.« Er kehrte ihr den Rücken zu, überlegte es sich jedoch noch einmal anders und drehte sich erneut um.

»Wem erzählt Ihr was?«, wollte er wissen.

Sie blinzelte. Doch dann stahl sich ein verschlagener Ausdruck in ihre Augen.

»Was glaubt Ihr denn?«, sagte sie und wandte sich ab.

Er schüttelte den Kopf, um seine Gedanken wenigstens annähernd zu ordnen. War das, wovon das verflixte Weibsbild redete, das, wovon er glaubte, dass sie davon redete?

Er hatte gedacht, sie meinte, dass sie Lord Dunsany erzählen würde, dass er sich heimlich im Hochmoor mit einem irischen Jakobiten getroffen hatte. Doch logisch betrachtet … würde sie das tun?

Quinn war schließlich ihr Schwager. Und vermutlich hatte sie ihn gern, warum hätte sie sonst seine Nachrichten weitergegeben? Würde sie es riskieren, dass man ihn verhaftete?

War der Zettel, den sie ihm zu geben versucht hatte, überhaupt von Quinn?

Angesichts des Weidenzweiges war er davon ausgegangen. Doch vielleicht war es ja ihr eigener törichter Versuch, ihn weiter zu verführen, in welchem Fall er sie gerade tödlich beleidigt hatte. Er atmete heftig durch die Nase.

Abgesehen davon … würde es Jamie zwar vielleicht das eine oder andere Problem bereiten, wenn sie seine Begegnung mit Quinn erwähnte, doch wenn man es genau betrachtete, hatte seine gegenwärtige Lage genau einen Vorteil, nämlich den, dass es nicht viel gab, wodurch man sie verschlimmern konnte. Er war nicht Dunsanys Gefangener; der Baron konnte ihn weder einsperren noch in Eisen legen, ihn mit Brot und Wasser abspeisen oder ihn auspeitschen. Das Schlimmste, was Dunsany tun konnte, war, Lord John Grey zu informieren.

Er schnaubte verächtlich. Er bezweifelte, dass ihm der kleine Perverse nach den Worten, die bei ihrer letzten Begegnung zwischen ihnen gefallen waren, auch nur ins Gesicht sehen konnte, geschweige denn, ihn Quinns wegen zu konfrontieren. Dennoch verkrampfte sich etwas in ihm, wenn er sich vorstellte, Grey wiederzusehen, und er dachte lieber nicht zu genau darüber nach, warum.

Wenigstens gab es Kuchen zum Tee der Dienstboten. Er konnte das warme Hefearoma riechen, und seine Schritte beschleunigten sich.

WENN ER IN DIESER NACHT TRÄUMTE, erinnerte er sich gnädigerweise nicht daran. Er war ständig auf der Hut, doch es lagen weder grüne Zweige auf seinem Weg noch fielen sie ihm beim Anziehen aus den Kleidern. Vielleicht hatte Betty Quinn ja von seiner ablehnenden Reaktion auf den Brief erzählt, und der Mann hatte aufgegeben.

»Aye, bestimmt«, murmelte er. Er kannte eine ganze Reihe von Iren, und die meisten von ihnen waren hartnäckig wie die Kletten. Und er kannte Quinn.

Dennoch sah es so aus, als würde es ein besserer Tag werden als der letzte – zumindest bis zu dem Moment, als die Nachricht aus dem Haus kam, dass Lady Isobel einen Stallknecht brauchte, der sie in den Ort fuhr. Hanks war am Morgen von der Leiter gefallen und hatte sich den Arm gebrochen – zumindest sagte er, dass er gebrochen war –, um sich dann stöhnend auf den Heuboden zurückzuziehen und darauf zu warten, dass sich der örtliche Rossdoktor um ihn kümmerte, und Crusoe mied den Ort, seit er bei seinem letzten Besuch in einen Streit mit einem Schmiedelehrling geraten war, von dem er eine plattgeklopfte Nase und zwei Veilchen mit nach Hause gebracht hatte.

»Mach du das, MacKenzie«, sagte Crusoe und tat so, als beschäftigte er sich mit einem Stück Fahrgeschirr, das geflickt werden musste. »Ich übernehme deine Pferde.«

»Aye, danke.« Er freute sich darauf, Helwater zumindest eine Weile hinter sich lassen zu können. Das Anwesen war zwar groß, doch das Gefühl, dass er es nicht verlassen konnte, wann er wollte, engte ihn ein. Sein letzter Besuch im Ort war mehrere Monate her; er freute sich auf den Ausflug, auch wenn er dabei mit Lady Isobel zu tun bekam.

Isobel war keine Reiterin, wie es ihre Schwester Geneva gewesen war. Sie war zwar nicht ängstlich im Umgang mit Pferden, aber sie mochte sie nicht, und die Pferde wussten das. Sie mochte auch Jamie nicht, und er wusste das genau, denn sie machte keinen Hehl daraus.

Kein Wunder, dachte er, während er ihr auf den Wagen half. Wenn Geneva es ihr erzählt hat, denkt sie wahrscheinlich, dass ich ihre Schwester umgebracht habe. Er ging stark davon aus, dass Geneva ihrer Schwester von seinem Besuch in ihrem Zimmer erzählt hatte; die Schwestern hatten einander sehr nahegestanden. Mit ziemlicher Sicherheit hatte sie Isobel aber nicht erzählt, dass sie ihn durch Erpressung in ihr Bett geholt hatte.

Isobel würdigte ihn keines Blickes und riss ihren Ellbogen an sich, sobald ihre Füße den Bretterboden der Ponykutsche betraten. Das war nichts Ungewöhnliches – doch heute drehte sie plötzlich den Kopf zur Seite und fixierte ihn mit einem seltsamen, durchdringenden Blick, bevor sie sich abwandte und an ihrer Unterlippe nagte.

Er stieg neben ihr auf den Kutschbock und trieb das Pony mit einer Bewegung der Leinen zum Gehen an, doch dabei war ihm bewusst, dass ihm ihre Augen ein Loch in die rechte Schulter brannten.

Was ist ihr nur über die Leber gelaufen?, fragte er sich. Hatte die verflixte Betty etwas zu ihr gesagt? Ihn vielleicht beschuldigt, sich ihr angenähert zu haben? War es das, was das Weibsbild mit »Ich erzähle es« gemeint hatte?

Verdammt, dachte er gereizt. War es denn nicht möglich, einer Frau den Beischlaf zu verweigern, ohne dass man sie erzürnte? Nun … wahrscheinlich nicht. Er dachte plötzlich an Laoghaire MacKenzie und einen bösen Zauber, ein Kräuterbündel, das mit buntem Zwirn zusammengebunden war … und schob die Erinnerung fest beiseite.

AUF LADY ISOBELS ANWEISUNG setzte er sie vor einem imposanten Steingebäude ab, mit der Anordnung, in drei Stunden zurückzukommen. Er nickte – sie sah ihn finster an; sie fand ihn unverschämt, weil er sich nie an die Stirn tippte, was sie für den angemessenen Ausdruck von Achtung hielt (Zum Kuckuck mit dem hochnäsigen Frauenzimmer, dachte er und lächelte freundlich.) – und fuhr zum Dorfplatz, wo er das Pony abspannen und tränken konnte.

Die Leute sahen ihn zwar an, verblüfft über seine Körpergröße und seine Haarfarbe, doch dann kümmerten sie sich wieder um ihre eigenen Angelegenheiten und überließen ihn den seinen. Er hatte zwar kein Geld, doch er genoss es auch so, durch die engen Straßen zu schlendern, und weidete sich an dem Gefühl, dass kein Mensch auf der Welt genau wusste, wo er war – selbst wenn es nur für kurze Zeit war. Der Tag war sonnig, aber kalt, und in den Gärten blühten die ersten Schneeglöckchen, Tulpen und Osterglocken, die sich im Wind wiegten. Die Osterglocken erinnerten ihn wieder an Betty, doch er war gerade zu sehr mit sich selbst in Frieden, um sich aufstören zu lassen.

Der Ort war nur klein, und er kam mehrmals an dem Haus vorbei, wo er Isobel zurückgelassen hatte. Beim vierten Mal jedoch erblickte er die vom Wind verwehten Federn ihres Hutes durch das noch dünn belaubte Gebüsch im Garten. Überrascht ging er bis zum Ende der Straße weiter und bog dort um die Ecke. Von hier aus hatte er eine klare Aussicht auf den Garten, der ordentlich gepflegt und von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben war – und eine sehr klare Aussicht auf Lady Isobel, die sich in leidenschaftlicher Umarmung mit einem Herrn befand.

Er duckte sich hastig außer Sichtweite, bevor einer von ihnen aufblickte, und machte sich verblüfft auf den Rückweg zum Dorfplatz. Ebenso vorsichtige wie beiläufige Fragen an die Müßiggänger neben dem Pferdetrog setzten ihn davon in Kenntnis, dass das Haus mit dem Eisenzaun an der Houghton Street dem Anwalt Mr Wilberforce gehörte – und der Beschreibung nach war es tatsächlich dieser Herr, der Lady Isobel in seiner Gartenlaube amouröse Avancen machte.

Das erklärte Isobels Verhalten, dachte er: aufgeregt, aber dazu argwöhnisch, auf dass er ja ihr Geheimnis nicht entdeckte. Sie hatte ein Päckchen unter dem Arm gehabt, ein verschnürtes Paket mit Dokumenten; zweifellos hatte sie sie dem Anwalt gebracht, da ihr Vater krank war. Lord Dunsany hatte einen schlimmen Winter hinter sich, nachdem sich seine Erkältung zu einer Rippenfellentzündung ausgewachsen hatte, und Isobel war während seiner Erkrankung oft im Ort gewesen, dem Anschein nach in Familienangelegenheiten. Wohingegen …

Aye, nun ja. Vielleicht mache ich mir jetzt weniger Sorgen, was Betty zu Seiner Lordschaft sagen könnte.

Er pfiff tonlos durch die Zähne, während er in sich aller Ruhe daran machte, das Pony anzuspannen.

DIE NÄCHSTEN PAAR TAGE zeichneten sich dadurch aus, dass er weder grüne Zweige sah noch von Betty hörte, und er begann, sich zu entspannen. Dann kam am Donnerstag, einem warmen Sonnentag, Lord Dunsany auf die Koppel zu, die Jamie gerade vom Mist befreite, begleitet von Elspeth, der betagten Kinderschwester, die William auf dem Arm trug.

Lord Dunsany nickte dem misstrauischen Kindermädchen zu und winkte Jamie, näher zu kommen. Das tat er, und ihm wurde eng um die Brust, als wäre die Luft plötzlich zu dick zum Atmen geworden.

»Mylord«, sagte er. Er neigte weder den Kopf noch berührte er seine Stirn oder erwies sich auf andere Weise untertänig, und er sah, wie die Alte missbilligend die Lippen spitzte. Er sah ihr direkt und fest in die Augen, und es freute ihn zu sehen, wie sie zurückfuhr und ihr die Röte in die bleichen Wangen stieg.

Er wurde von einer höchst außergewöhnlichen Ansammlung von Gefühlen überwältigt. Meistens gelang es ihm, seine Gedanken an William strikt für sich zu behalten, doch er dachte jeden Tag an ihn. Er sah das Kind nur selten, und wenn es geschah, so war es nur ein kurzer Blick auf ein wollenes Bündel in den Armen der alten Elspeth oder des Kindermädchens Peggy, wenn sie auf einem der Balkone frische Luft schnappten. Für gewöhnlich war William in seinen Gedanken ein kleines, helles Licht wie die Flamme einer Wachskerze, die vor der Heiligenstatue in einer dunklen Kapelle brannte. Er konnte sich eine solche Kerze nicht leisten, und die Kapelle von Helwater durfte er nicht betreten, doch er stellte sich vor, wie er eine anzündete, wenn er sein Abendgebet sprach. Er sah dann zu, wie der Docht Feuer fing und die Flamme wuchs, ein wenig flackerte und dann groß und ruhig wurde. Dann schlief er ein und spürte, wie sie brannte, ein friedvolles Wachtfeuer in seinem Herzen.

»MacKenzie!«, sagte Dunsany. Er strahlte Jamie an und wies winkend auf das Kind. »Ich dachte, es ist Zeit, dass mein Enkel Bekanntschaft mit den Pferden schließt. Würdet Ihr uns Bella holen?«

»Natürlich, Mylord.«

Bella war eine gutmütige alte Stute, die zwar zu alt für die Zucht war, die Dunsany aber weiter behielt, weil sie sich schon so lange kannten; sie war die erste Zuchtstute, die er erworben hatte, als er den Stall in Helwater begründete. Sie hatte ein freundliches Auge und ein gutes Herz, und Jamie hätte kein besseres Pferd für diesen Zweck finden können.

Jetzt spürte er ein Brennen in seiner Brust, doch es wurde von einer Woge aus Panik und Schuld ertränkt und einem Krampf, der ihm den Bauch verknotete, als hätte er verdorbenes Fleisch gegessen.

Die alte Kinderschwester betrachtete ihn misstrauisch und ließ ihren Blick von den Sandalen an seinen Füßen bis zu seinen Bartstoppeln wandern. Offensichtlich widerstrebte es ihr, ihr Mündel an jemanden zu übergeben, der so aussah. Er lächelte sie breit an, und sie zuckte zusammen, als würde sie von einem Wilden bedroht. Aye, schön, dachte er. Er fühlte sich auch wie ein Wilder.

Doch er nahm ihr den kleinen Jungen so zielsicher aus den Armen, dass ihm kaum das Hemdchen hochrutschte. Der Junge stieß einen kurzen Ausruf der Verblüffung aus und drehte den Kopf hin und her wie eine Eule, erstaunt, sich plötzlich in solcher Höhe wiederzufinden.

Erleichterung durchspülte ihn, als ihm die großen Augen des Kindes entgegenblickten. Sein schlechtes Gewissen hatten ihn zu der Überzeugung gebracht, dass William eine getreue kleine Replik seiner selbst sein musste und jeder, der sie zusammen sah, die Ähnlichkeit sofort bemerken würde. Doch mit seinem runden Gesicht und seiner Stupsnase hatte William nicht die geringste Ähnlichkeit mit seinen eigenen Gesichtszügen, und man konnte die Augen des Kindes zwar als blau bezeichnen, doch sie waren blassblau, ein undefinierbarer Farbton zwischen Grau und Blau, die Farbe des bewölkten Himmels.

Ihm blieb keine Zeit zu weiteren Beobachtungen, denn schon hob er die Arme, um den kleinen Jungen auf den Rücken des Pferdes zu setzen. Doch als er dann die rundlichen Händchen ergriff, um sie an der Sattelkante festzuklammern, und in einem Ton losplauderte, der Pferd und Kind gleichermaßen beruhigte, sah er, dass Williams Haar – Gott sei Dank! – alles andere als rot war. Ein weiches Mittelbraun, das zu einer Puddingschüsselfrisur geschnitten war wie bei Cromwells Rundkopfsoldaten. Zugegeben, in der Sonne hatte es einen rötlichen Schimmer, doch Genevas Haar war schließlich kastanienbraun gewesen.

Er sieht aus wie seine Mutter, dachte er und richtete ein inbrünstiges Dankgebet an die Heilige Jungfrau.

»Also, Willie«, sagte Lord Dunsany und klopfte dem Jungen auf den Rücken. »Halt dich schön fest. MacKenzie führt dich über die Koppel.«

Willie reagierte mit einer ausgesprochen skeptischen Miene auf diesen Vorschlag, und sein Kinn zog sich in den Kragen seines Hemdchens zurück. »Mei!«, sagte er, ließ den Sattel los und schwang sein fettes Beinchen ungeschickt nach hinten, um vom Pferd zu kommen, obwohl sich der Boden mehr als anderthalb Meter unter ihm befand.

Jamie packte ihn, bevor er fallen konnte.

»Mei!«, wiederholte Willie und versuchte, aus dem Sattel zu kommen. »Meimeimeimeimei!«

»Er meint ›nein‹«, murmelte die Kinderschwester nicht unerfreut und streckte die Arme nach dem Jungen aus. »Ich habe doch gesagt, er ist zu jung. Komm zu Tante Elspeth, Schätzchen. Wir gehen nach Hause und essen schön etwas.«

»Mei!«, sagte Willie schrill und warf sich unerwartet herum, um sich an Jamies Brust zu verkriechen.

»Aber, aber«, sagte sein Großvater beruhigend und streckte die Arme nach ihm aus. »Komm zu mir, Junge, dann gehen wir …«

»MEIMEIMEIMEIMEIMEI …«

Jamie legte dem Kind eine Hand auf den Mund und setzte dem Lärm vorübergehend ein Ende.

»Wir gehen zu den Pferden und unterhalten uns mit ihnen, aye?«, sagte er entschlossen und hievte sich das Kind auf die Schultern, bevor Willie auf die Idee kommen konnte, wieder loszukreischen. Abgelenkt von seinem fantastischen neuen Aussichtspunkt packte Willie krähend nach Jamies Haar. Ohne etwaige Einwände abzuwarten, packte Jamie die runden Knie, die sich um seine Ohren geklemmt hatten, und hielt auf den Stall zu.

»Also, dieser brave alte Junge ist Deacon«, sagte er und ging in die Knie, um Willie auf Augenhöhe mit dem alten Wallach zu bringen, der sogleich den Kopf hob und neugierig die Nüstern blähte. »Wir nennen ihn Deke. Kannst du das sagen? Deke?«

Willie quietschte auf und zog Jamie an den Haaren, doch er wich nicht zurück, und kurz darauf streckte er, ermutigt durch seinen Großvater, die Hand aus und wagte eine hastige Berührung. »Diek«, sagte er und lachte verzaubert. »Diek!«

Jamie achtete darauf, nur solche Pferde zu besuchen, die vom Alter und Temperament her versprachen, lieb zu einem zweijährigen Kind zu sein, doch er freute sich – genau wie Lord Dunsany – zu sehen, dass William keine Angst vor den enormen Tieren hatte. Jamie behielt den alten Mann genauso sorgfältig im Auge wie das Kind; Seine Lordschaft hatte eine kranke Hautfarbe, seine Hände waren nur noch Haut und Knochen, und Jamie konnte die Luft in seinen Lungen pfeifen hören, wenn er atmete. Allen Umständen zum Trotz mochte er Dunsany sehr, und er hoffte, dass der Baron nicht kurz davor stand, in der Stallgasse zu sterben.

»Oh, da ist ja mein guter Phil«, sagte Dunsany, und ein Lächeln breitete sich über sein Gesicht, als sie sich einer der großen Boxen näherten. Beim Klang seiner Stimme hob Philemon, ein bildschöner achtjähriger Dunkelbrauner, den Kopf und betrachtete sie einen Moment lang offen durch seine langen Wimpern, bevor er den Kopf wieder senkte und ein paar verstreute Haferkörner vom Boden aufknabberte.

Dunsany kämpfte mit dem Riegel, und Jamie streckte hastig die Hand aus, um die Tür zu öffnen. Das Pferd hatte nichts dagegen, dass sie zu ihm in die Box kamen, und verlagerte sich nur schweifwedelnd ein wenig zur Seite.

»Also, du darfst nie hinter ein Pferd gehen«, sagte Jamie zu William. »Wenn du es erschreckst, kann es sein, dass es dich tritt, aye?« Das Haar des kleinen Jungen kringelte sich auf dem Scheitel zu einem Wirbel. Er nickte ernst, doch dann wand er sich, weil er auf den Boden wollte.

Jamie sah Dunsany an, der nickte. Also stellte er William vorsichtig auf den Boden, bereit, ihn sofort wieder an sich zu reißen, falls er kreischte oder Lärm machte. Doch William stand stocksteif da, den Mund leicht geöffnet, und sah fasziniert zu, wie der riesige Kopf näher kam und die weichen Lippen die Körner auflasen … und mit einem sehr seltsamen Gefühl der Orientierungslosigkeit spürte sich Jamie plötzlich selbst auf dem Boden eines Stalles stehen und hörte das tiefe, breiige Knirschen eines kauenden Pferdes direkt neben sich, sah die großen, glänzenden Hufe und roch Heu und Hafer und den herrlichen, durchdringenden Geruch des warmen Pferdefells. Er hatte jemanden hinter sich gespürt, war sich bewusst gewesen, dass dort kräftige Männerbeine in Wollstrümpfen standen, und hörte, wie sein Vater lachte und etwas sagte, doch das Einzige, wofür er Augen hatte, war das Pferd, dieses gewaltige, schöne, sanfte Geschöpf, so erstaunlich, dass er es am liebsten umarmt hatte.

William umarmte es tatsächlich. Verzaubert trippelte er vorwärts und umarmte Philemons Kopf, ein Akt seliger Liebe. Die Augen des Pferdes weiteten sich überrascht unter den langen Wimpern, und es atmete aus, so dass sein Atem dem Kind durch die Kleider fuhr, tat sonst aber nichts, außer ein wenig mit dem Kopf zu nicken, so dass Willie ein paar Zentimeter in die Luft gehoben wurde, weil er nicht losließ, um ihn gleich darauf sanft abzusetzen und weiterzufressen.

Willie lachte, ein Kichern des reinsten Entzückens, und Jamie und Lord Dunsany sahen einander an und lächelten, dann wandten sie die Blicke ab, beide verlegen.

Später sah Jamie ihnen nach. William bestand darauf, selbst zu laufen, und sein Großvater hinkte der kräftigen kleinen Gestalt hinterher wie ein betagter schwarzer Kranich, der sich schwer auf seine Krücke stützte – beide vom blassen Gold der sanften Frühlingssonne umspielt.

Weiß Dunsany Bescheid?, fragte er sich. Er war sich fast sicher, dass Lady Isobel es wusste. Betty sehr wahrscheinlich. Falls Lady Dunsany es jedoch wusste, behielt sie es für sich, und er bezweifelte, dass sie es ihrem Mann erzählen würde, weil sie ihn nicht schockieren oder schmerzen wollte.

Dennoch, der alte Herr ist kein Dummkopf. Und Dunsany war dabei gewesen, in jenem Salon in Ellesmere am Tag nach der Geburt seines Enkelsohns und dem Tod seiner Tochter, als Genevas Ehemann, der alte Graf von Ellesmere, getobt hatte, das Kind sei ein Bastard – und Geneva Dunsany eine Hure –, und gedroht hatte, den kleinen William zehn Meter tief aus dem Fenster auf das Pflaster zu werfen.

Jamie hatte Jeffries – dem Kutscher, den man gemeinsam mit Jamie gerufen hatte, um zu helfen, den Grafen zur Ruhe zu bringen – eine geladene Pistole abgenommen und Ellesmere erschossen. Aye, nun ja. Das hat den alten Verbrecher zur Ruhe gebracht, möge er in der Hölle schmoren.

Kein Wort war Jamie gegenüber gefallen. Kein einziges. Als Jamie nach der Explosion zitternd auf dem Kaminläufer gestanden hatte, das gerettete Kind in seinen Armen – sein Schuss war durch die Wickeltücher des Babys gedrungen und hatte William um Haaresbreite verfehlt –, hatte sich Lord Dunsany in aller Ruhe über Ellesmere gebeugt und ihm seine Finger an den schlaffen, fleischigen Hals gehalten. Dann war er zufrieden zu Jamie getreten, hatte ihm den Jungen aus den Armen genommen und Jeffries angewiesen, mit Jamie in die Küche zu gehen und ihm ein Glas Brandy zu besorgen.

Mit dem erschütternd typischen Pragmatismus der Engländer hatte Lord Dunsany dem örtlichen Leichenbeschauer mitteilen lassen, dass Lord Ellesmere das Opfer eines tragischen Unfalls geworden war, und Jeffries hatte dies als Zeuge bestätigt. Jamies Name war nicht gefallen, und niemand hatte ihn um seine Aussage gebeten. Ein paar Tage später hatte man den alten Grafen und seine blutjunge Frau Geneva gemeinsam beerdigt, und eine Woche später hatte Jeffries in der Grafschaft Sligo seine Pension angetreten.

Sämtliche Dienstboten wussten natürlich, was sich zugetragen hatte. Wenn überhaupt, vergrößerte das ihre Angst vor Jamie noch, doch sie sagten kein Wort zu ihm – oder zu sonst jemandem. Das ging nur die Familie etwas an, sonst niemanden. Es würde keinen Skandal geben.

Lord Dunsany hatte Jamie nie darauf angesprochen und würde es auch wahrscheinlich niemals tun. Und doch gab es dieses merkwürdige Gefühl der … nicht Freundschaft, das konnte es niemals sein – doch der Hochachtung zwischen ihnen.

Einen Moment lang spielte Jamie mit der Idee, Dunsany von Isobel und dem Anwalt Wilberforce zu erzählen. Wäre sie seine Tochter gewesen, hätte er es mit Sicherheit wissen wollen. Doch er verwarf den Gedanken und machte sich wieder an seine Arbeit. Das ging nur die Familie etwas an, sonst niemanden.

JAMIE WAR IMMER NOCH GUTER LAUNE, als er am nächsten Morgen die Pferde aufzäumte und sich dabei an alten Erinnerungen und neuer Zufriedenheit erfreute. Eine Wolkenbank über den Hügeln verhieß Regen, doch es war nicht windig, und im Moment war die Luft zwar kalt, aber still, die Pferde munter, aber nicht hektisch, und sie schüttelten die Köpfe in freudiger Erwartung ihres Galopps.

»MacKenzie.« Er hatte die Schritte des Mannes auf den Sägespänen des Sandplatzes nicht gehört und wandte sich etwas überrascht um. Noch mehr überraschte es ihn, George Roberts zu sehen, einen der Hausdiener. Sonst war es immer Sam Morgan, der kam, um ihm zu sagen, er solle ein Pferd satteln oder die Kutsche anspannen; so etwas war unter Roberts’ Würde.

»Ich will mit Euch sprechen.« Roberts trug seine Livreehose, hatte aber eine unförmige lose Jacke über seinem Hemd an. Er hatte die Hände halb eingerollt an den Seiten hängen, und irgendetwas in seinem Gesicht und an seiner Stimme veranlasste Jamie, sich ein wenig aufzurichten.

»Ich bin gerade beschäftigt«, sagte Jamie höflich. Er zeigte auf die vier Pferde, die er an den Führleinen hatte, und auf Augustus, der noch darauf wartete, gesattelt zu werden. »Kommt nach dem Abendessen wieder, wenn Ihr möchtet. Dann habe ich Zeit.«

»Ihr werdet Euch jetzt Zeit nehmen«, sagte Roberts mit seltsam halb erstickter Stimme. »Es dauert nicht lange.«

Jamie wäre fast getroffen worden, weil er den Hieb nicht erwartete. Doch der Mann kündigte ihn überdeutlich an, indem er weit ausholte, als wollte er einen Stein werfen, und Jamie wich ihm automatisch aus. Roberts verlor das Gleichgewicht, schoss an ihm vorbei und kam mit einem Ruck zum Halten, weil er sich am Zaun fing. Die Pferde, die daran festgebunden waren, scheuten stampfend und schnaubend – so früh am Tage war ihnen nicht nach solchem Unsinn zumute.

»Was zum Teufel glaubt Ihr, was Ihr da macht?«, fragte Jamie eher in neugierigem als in feindseligem Ton. »Oder um genau zu sein, was glaubt Ihr, was ich getan habe?«

Roberts stieß sich vom Zaun ab, das Gesicht verzerrt. Er war nicht ganz so groß wie Jamie, aber kräftiger gebaut.

»Du weißt ganz genau, was du getan hast, du Mistkerl!«

Jamie betrachtete den Mann und zog seine Augenbraue hoch.

»Ein Ratespiel also? Aye, schön. Jemand hat Euch heute Morgen in die Schuhe gepinkelt, und der Stiefelputzerjunge hat gesagt, dass ich es war?«

Vor lauter Überraschung blickte Roberts im ersten Moment etwas weniger finster drein.

»Was?«

»Oder es ist jemand mit dem Siegelwachs Seiner Lordschaft davonspaziert?« Er griff in seine Hosentasche und zog das schwarze Wachsstückchen hervor. »Er hat es mir selbst gegeben; Ihr könnt ihn fragen.«

Roberts’ Wangen wurden wieder rot; es war den Bediensteten im Haushalt ein Dorn im Auge, dass Jamie Briefe schreiben durfte, und sie versuchten alles, um ihn daran zu hindern. Doch Roberts schluckte seine Wut hinunter, stand noch einen Moment schwer atmend da und sagte dann: »Betty. Sagt Euch der Name etwas?«

Der Name sprach sogar Bände. Was hatte das Weibsbild nur erzählt?

»Ich kenne die Frau, aye?« Sein Ton war argwöhnisch, und er behielt Roberts’ Füße fest im Blick und Augustus’ Zaumzeug fest im Griff.

Roberts verzog den Mund. Auf seine etwas grobe Weise war er durchaus ein gut aussehender Mann, doch diese Miene stand ihm nicht.

»Du kennst die Frau, was, Kumpan? Nachgestellt hast du ihr, verdammt!«

»Ich erzähle es«, hatte sie gesagt und ihn trotzig angesehen. Sie hatte nicht gesagt, wem sie es erzählen würde – oder dass es die Wahrheit sein würde.

»Nein«, sagte er ganz ruhig, schlang den Zügel ordentlich um den Zaunbalken, trat von den Pferden zurück und baute sich vor Roberts auf. »Das habe ich nicht. Habt Ihr sie gefragt, wo und wann? Denn ich bin mir hinreichend sicher, dass ich mich seit einem Monat nicht mehr außer Sichtweite der Stallungen aufgehalten habe, es sei denn, um die Pferde zu bewegen.« Er wies kopfnickend auf die wartenden Pferde, ohne den Blick von dem Hausdiener abzuwenden. »Und sie kann das Haus nicht verlassen haben, um sich in den Hügeln mit mir zu treffen.«

Roberts zögerte, und Jamie nutzte die Gelegenheit, sich weiteren Nachdruck zu verschaffen.

»Fragt Euch doch selbst, Mann, warum sie Euch so etwas sagen würde.«

»Was? Warum sollte sie es mir denn nicht sagen?« Der Diener zog den Kopf ein, um Jamie noch bedrohlicher anblicken zu können.

»Wenn sie gewollt hätte, dass man mich festnimmt oder auspeitscht oder einkerkert, hätte sie sich doch bei Seiner Lordschaft oder dem Konstabler beschwert«, erläuterte Jamie immer noch höflich. »Wenn sie gewollt hätte, dass mich jemand zu Brei schlägt, hätte sie es Morgan und Billings ebenfalls erzählt, denn – ohne Euch beleidigen zu wollen – ich glaube nicht, dass Ihr das allein schafft.«

Die ersten Spuren des Zweifels regten sich in Roberts’ kräftigem Gesicht.

»Aber sie …«

»Also hat sie sich entweder gedacht, sie setzt Euch einen Floh ins Ohr, und es kommt zu einer Schlägerei, von der wir beide nicht viel gehabt hätten – oder sie hat gar nicht gedacht, dass Ihr zu mir kommt, dass Ihr aber vielleicht ihretwegen in Wallung geratet.«

»In Wallung?« Roberts klang verwirrt.

Jamie holte tief Luft und bemerkte erst jetzt, dass sein Herz hämmerte.

»Aye«, sagte er. »Die Kleine hat doch nicht gesagt, ich hätte sie vergewaltigt, oder? Nein, natürlich nicht.«

»N … nein.« Roberts’ Verwirrung war jetzt offenem Zweifel gewichen. »Sie hat gesagt, Ihr habt sie angefasst, ihr an die Brüste gefasst und so.«

»Na also«, sagte Jamie und wies mit einer kleinen Geste auf das Haus. »Sie wollte Euch einfach nur eifersüchtig machen, in der Hoffnung, Euch dazu zu bringen, etwas Ähnliches zu tun. Das«, fügte er hilfsbereit hinzu, »oder sie wollte Euch in Schwierigkeiten bringen. Ich hoffe, die Kleine hat nichts gegen Euch.«

Roberts’ Stirn verfinsterte sich, doch er überlegte. Er blickte zu Jamie auf.

»Ich hatte nicht vorgehabt, Euch zu schlagen«, sagte er mit einer gewissen Förmlichkeit. »Ich wollte Euch nur sagen, Ihr sollt Euch von ihr fernhalten.«

»Sehr vernünftig«, versicherte ihm Jamie. Sein Hemd war nass geschwitzt, trotz des kalten Tages. »Ich möchte mit der Kleinen nichts zu tun haben. Ihr könnt Ihr sagen, sie hat nichts von mir zu befürchten«, fügte er hinzu, so ernst er konnte.

Roberts neigte förmlich den Kopf und bot Jamie die Hand an. Jamie schüttelte sie mit einem sehr seltsamen Gefühl und sah dem Mann nach, während er auf das Haus zuging und sich dabei aufrichtete.

AM NÄCHSTEN TAG HÖRTE JAMIE beim Frühstück, dass Seine Lordschaft erneut erkrankt war und das Bett hüten musste. Er empfand leise Enttäuschung bei dieser Nachricht; er hatte gehofft, der alte Mann würde Willie noch einmal in den Stall bringen.

Zu seiner Überraschung sah er William dennoch im Stall, stolz wie Luzifer in seiner ersten Kniehose, diesmal in Begleitung des jüngeren Kindermädchens Peggy. Die junge, kräftige Frau erzählte ihm, dass die alte Elspeth und Lord und Lady Dunsany mit der Grippe darniederlagen, dass William aber ein solcher Quälgeist gewesen war, weil er die Pferde wiedersehen wollte, dass Lady Isobel Peggy aufgetragen hatte, ihn in den Stall zu bringen.

»Geht es Euch selbst denn gut, Ma’am?« Er konnte sehen, dass es nicht so war. Ihre Haut war käsebleich und klamm, und sie stand ein wenig vornübergebeugt, als hätte sie am liebsten ihren Bauch umklammert.

»Ich … ja. Natürlich«, sagte sie ein wenig schwach. Dann riss sie sich zusammen und richtete sich auf. »Willie, ich glaube, wir müssen nach Hause gehen.«

»Mei!« Willie rannte sofort die Stallgasse entlang, und seine Stiefelchen klapperten über das Pflaster.

»William!«

»MEI!«, brüllte Willie und drehte sich zu ihr um. Sein Gesicht lief rot an. »Mei, mei, mei!«

Peggy atmete schwer, sichtlich hin- und hergerissen zwischen ihrer Übelkeit und der Pflicht, dem kleinen Aufrührer nachzulaufen. Ein Schweißtropfen lief ihr über den gedrungenen Hals und landete als kleiner dunkler Fleck auf ihrem grauen Halstuch.

»Ma’am«, sagte Jamie respektvoll. »Solltet Ihr Euch nicht besser ein wenig hinsetzen? Euch vielleicht die Handgelenke kalt anfeuchten? Ich kann auf den Jungen aufpassen; es wird ihm nichts passieren.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und rief Willie.

»Du kommst mit mir, Junge. Du kannst mir mit dem Mash helfen.«

Willies Miene wandelte sich augenblicklich von sturer Verkrampfung in überschwängliche Freude, und er kam strahlend zurückgetrappelt. Jamie bückte sich und hob ihn auf, um ihn auf seine Schultern zu setzen. Willie kreischte vor Vergnügen und klammerte sich an Jamies Haar. Jamie lächelte Mrs Peggy zu.

»Wir kommen schon zurecht.«

»Ich … ich kann wirklich … Nun … also schön«, sagte sie schwach. »Nur … ganz kurz.« Sie machte kehrt und schlurfte hastig davon.

Er blickte ihr nach und murmelte: »Die Arme.« Gleichzeitig jedoch hoffte er, dass ihr Unwohlsein sie eine Weile fernhalten würde, und bat Gott im selben Moment um Verzeihung für diesen Gedanken.

»Die Aaame«, wiederholte Willie ernst und drückte Jamie die Knie an die Ohren. »Los!«

Und sie gingen los. Der Mashbottich stand in der Sattelkammer, und er setzte Willie auf einem Hocker ab und gab ihm ein Zaumzeug mit einem Trensengebiss zum Spielen, denn die Glieder des Gebisses klapperten schön.

»Weißt du denn die Namen der Pferde noch?«, fragte er, während er mit einer Holzkelle Kleie in den Bottich schaufelte. William hielt die Trense still und runzelte die Stirn.

»Mei.«

»O doch, bestimmt. Bella? Bella kennst du doch; du bist auf ihr geritten.«

»Bella!«

»Aye, siehst du? Und was ist mit Phil – das ist der brave Junge, dessen Nase du drücken durftest.«

»Pill!«

»Genau. Und neben Phil steht …« So arbeiteten sie sich verbal die ganze Stallgasse entlang, Box für Box; Jamie sagte die Namen vor, und William wiederholte sie, während Jamie die Melasse – dickflüssig und schwarz wie Teer und auch beinahe so stark riechend – in die Kleie goss.

»Ich hole jetzt das heiße Wasser«, sagte er zu Willie. »Du bleibst hier – beweg dich nicht vom Fleck –, ich bin sofort wieder da.«

Willie, der erfolglos damit beschäftigt war, sich das Gebiss in den Mund zu stecken, beachtete ihn nicht, machte aber auch keine Anstalten, ihm zu folgen.

Jamie nahm sich einen Eimer und steckte den Kopf in das Büro des Faktors, wo sich Mr Grieves mit Mr Lowens unterhielt, einem Farmer, dessen Land an das Anwesen der Dunsanys grenzte. Grieves nickte ihm zu, und er trat ein, um heißes Wasser aus dem Kessel zu schöpfen, der im Kamin vor sich hin simmerte. Das Büro des Faktors war der einzige warme Platz im ganzen Stall, daher war es ein begehrter Aufenthaltsort für Besucher.

Vorsichtig machte er sich mit dem schweren, dampfenden Eimer auf den Rückweg und fand Willie nach wie vor auf dem Hocker vor, doch hatte sich der Junge jetzt mit Kopf und Armen in dem Zaum verheddert, weil er offenbar versucht hatte, ihn sich anzuziehen.

»Ilf!«, sagte Willie und schlug wild um sich. »Ilf, ilf, ilf!«

»Aye, ich helfe dir, du kleiner Dummkopf. Also.« Jamie stellte den Eimer ab und leistete Willie Beistand, während er seinem Schutzengel dankte, dass es Willie nicht gelungen war, sich zu strangulieren. Kein Wunder, dass der kleine Drache zwei Kindermädchen brauchte, die ihn beaufsichtigten.

Geduldig entwirrte er das Zaumzeug – wie schaffte es ein Kind, dass sich noch nicht allein anziehen konnte, solche Knoten zuwege zu bringen? – und hängte es auf. Danach ermahnte er Willie, etwas Abstand zu halten, und goss das heiße Wasser in den Mashbottich.

»Möchtest du mir rühren helfen?« Er hielt Willie das große, abgenutzte Paddel hin – das fast so groß war wie Willie selbst –, und sie vermengten das Mash. Willie klammerte sich ernst an die untere Hälfte des Griffs, Jamie an die obere. Doch die Mischung war sehr fest, und Willie gab nach kurzer Zeit auf und ließ Jamie allein weiterarbeiten.

Er war fast damit fertig, das Mash zum Verteilen in kleinere Eimer umzuschöpfen, als er bemerkte, dass William etwas im Mund hatte.

»Was hast du da im Mund?«

Willie öffnete den Mund und holte einen feuchten Hufnagel heraus, den er neugierig betrachtete. Den Bruchteil einer Sekunde lang stellte Jamie sich vor, was geschehen wäre, wenn der Junge ihn verschluckt hätte, und die Panik ließ seine Worte heftiger klingen als beabsichtigt.

»Gib das her!«

»Mei!« Willie zog die Hand zurück und funkelte Jamie unter dünnen, aber doch deutlich erkennbaren Augenbrauen hervor an.

»Nnnnn«, sagte Jamie, der sich vorbeugte und das Funkeln erwiderte. »Nnnnnein.«

Williams Miene war argwöhnisch und verunsichert.

»Mei«, wiederholte er, jedoch schon weniger überzeugt.

»Es heißt ›nein‹, glaube mir«, versicherte ihm Jamie und zog den Mashbottich zu sich herüber. »Du hast doch bestimmt schon einmal gehört, wie deine Tante Isobel es sagt, oder?« Er hoffte doch, dass Isobel – oder zumindest irgendjemand – das Wort hin und wieder zu Willie sagte. Nicht oft genug, dessen war er sich sicher.

Willie schien darüber nachzudenken und hob sich dabei den Nagel geistesabwesend wieder an den Mund, um daran zu lecken. Jamie blickte argwöhnisch zur Tür, doch niemand sah ihnen zu.

»Schmeckt das gut?«, fragte er beiläufig. Diese Frage schien Willie noch gar nicht in den Sinn gekommen zu sein, denn er sah den Nagel zuerst verblüfft, dann stirnrunzelnd an, als fragte er sich, woher er gekommen sein mochte.

»Ja«, sagte er, wenn auch unsicher.

»Dann lass mich doch probieren.« Er bückte sich zu dem Kind nieder und streckte die Zunge heraus. Willie kniff die Augen zu, dann hob er gehorsam die Hand mit dem Nagel. Jamie legte seine Hand ganz sanft um Willies Faust und fuhr der Länge nach vorsichtig mit der Zunge über den Nagel. Er schmeckte natürlich nach Eisen und Pferdehuf, doch er musste zugeben, dass es kein schlechter Geschmack war.

»Gar nicht so schlecht«, sagte er und richtete sich wieder auf – ohne jedoch Willies Hand loszulassen. »Aber ich glaube, deine Zähne würden abbrechen, wenn du darauf kaust.«

Willie kicherte bei dieser Vorstellung.

»Den Pferden würden auch die Zähne abbrechen, weißt du? Deshalb lässt man so etwas nie im Stall herumliegen.« Er zeigte durch die offene Sattelkammertür auf die Boxen, aus denen zwei oder drei Pferdeköpfe hervorlugten, neugierig, wo denn ihr Abendessen blieb.

»Pferdchen«, sagte Willie ganz deutlich.

»Pferde, genau«, sagte Jamie und lächelte ihn an.

»Essen Pferdchen das?« Willie beugte sich neugierig über den Mashbottich und schnüffelte daran.

»Aye, das tun sie. Das ist gutes Futter – nicht so wie Nägel. Niemand isst Nägel.«

Willie hatte den Nagel eindeutig vergessen, obwohl er ihn immer noch in der Hand hatte. Er sah den Nagel an und ließ ihn fallen, woraufhin Jamie ihn aufhob und in seine Hose steckte. Prompt steckte Willie seine kleine Hand in das Mash, und weil es so schön klebte, lachte er und schlug ein paar Mal auf die wogende Oberfläche der mit Melasse versetzten Kleie. Jamie streckte die Hand aus und fasste ihn beim Handgelenk.

»Aber, aber«, sagte er. »Du würdest es doch auch nicht mögen, wenn Deke seinen Huf in dein Abendessen steckt, oder?«

»Hihihihi.«

»Siehst du. Jetzt wisch dir die Hand ab, dann kannst du mir helfen, das Mash zu verfüttern.« Er zog ein relativ sauberes Taschentuch aus dem Ärmel, doch Willie beachtete es nicht und leckte sich die süße, klebrige Masse stattdessen von den Fingern und schien sie sehr zu mögen.

Nun, er hatte dem Jungen ja gesagt, dass es essbar war, und es war nicht ungesund – obwohl er sehr hoffte, dass Mrs Peggy jetzt nicht auftauchte, sonst blühte ihnen beiden etwas.

Doch Peggy tauchte nicht auf, und sie verbrachten eine Viertelstunde damit, kameradschaftlich das Mash zu verteilen und dann frisches Heu von einem Stapel auf eine Schubkarre zu forken und es in den Stall zu schieben. Auf dem Rückweg begegneten sie Mr Lowens, der ein zufriedenes Gesicht machte. Worum er auch immer mit Grieves gefeilscht hatte, er glaubte, den besseren Handel gemacht zu haben.

»MacKenzie«, sagte er und nickte freundlich. Er lächelte William an, der, wie Jamie leicht bestürzt feststellte, Melasse auf dem Hemd und das Haar voller Heu hatte. »Ist das Euer Junge?«

Im ersten Moment dachte er, das Herz würde ihm geradewegs aus dem Mund springen. Doch er nahm rasch eine Lunge voll Luft und antwortete ruhig: »Nein, Sir. Dies ist der junge Graf. Der Graf von Ellesmere.«

»Ach ja?« Lowens lachte und hockte sich hin, um Willie direkt anzusprechen. »Hab deinen Vater gekannt, o ja. Ein geiler alter Bock«, sagte er zu Jamie gewandt. »Aber von Pferden hat er was verstanden, der alte Graf. Du wirst bestimmt auch ein großer Pferdekenner, nicht wahr?«, sagte er, jetzt wieder an Willie gerichtet.

»Ja!«

»Guter Junge, guter Junge.« Er streckte die Hand aus und fuhr Willie durch die Haare. Willie sah ihn finster an. »Und schon in Hosen? Ganz schön früh.« Er tat so, als schnüffelte er. »Riecht etwas streng. Ihr habt Euch doch nicht in die Hose geschissen, Mylord?« Er kicherte glucksend über seinen eigenen Witz.

William kniff die Augen zusammen – eine Miene, die Jamie lebhaft an seine Schwester kurz vor einem Wutausbruch erinnerte. Einmal mehr dankte er Gott dafür, dass das Gesicht des Jungen so rundlich und stupsnasig war, und hielt sich bereit, ihn zu packen, falls er versuchte, Mr Lowens vor das Schienbein zu treten.

Stattdessen jedoch funkelte der junge Graf den Bauern einfach nur an und sagte laut und deutlich: »NNNNNNEIN

»Oh!«, sagte Lowens lachend. »Mein Fehler. Entschuldigung, Mylord.«

»Wir müssen los, Sir«, sagte Jamie hastig, bevor William auch nur einen der Gedanken, die ihm unübersehbar durch den Kopf gingen, in die Tat umsetzte. Er schwang den Jungen in die Höhe und hielt ihn kopfunter an den Füßen fest. »Zeit für den Tee, Eure Lordschaft.«