8
Ehrenschulden
Er war so erschüttert, dass er sprachlos weiter stehen blieb und den Mann anstarrte wie ein Trottel. Melton – oder besser Pardloe – betrachtete ihn konzentriert von oben herab, die Stirn leicht gerunzelt.
Als er sich schließlich erholt hatte, setzte sich Jamie abrupt hin. Der vergoldete Stuhl fühlte sich zerbrechlich und seltsam unter ihm an. Pardloe setzte sich ebenfalls, und ohne den Blick von Jamies Gesicht abzuwenden, rief er: »Pilcock! Hierher!«
Dies brachte einen Dienstboten zum Vorschein – Jamie sah sich nicht nach dem Mann um, doch er hörte die unterwürfigen Schritte, das gemurmelte »Eure Durchlaucht?« in seinem Rücken.
»Holt uns Whisky, Pilcock«, sagte Pardloe, den Blick immer noch auf Jamie gerichtet. »Und Gebäck – nein, kein Gebäck, sondern etwas Gehaltvolleres.«
Pilcock stieß ein fragendes Geräusch aus, woraufhin der Herzog seinen Blick auf ihn richtete und eine gereizte Miene zog.
»Woher soll ich das wissen? Pastete. Was vom Braten übrig ist. Gegrillten Fasan, zum Kuckuck. Geht die Köchin fragen; geht Eure Herrin fragen!«
»Ja, Eure Durchlaucht!«
Pardloe schüttelte den Kopf, dann richtete er den Blick wieder auf Jamie.
»Habt Ihr Euch jetzt gefangen?«, erkundigte er sich in völlig normalem Ton, als nähme er ein unterbrochenes Gespräch wieder auf. »Ich meine – Ihr erinnert Euch doch an mich?«
»Ja.«
In der Tat, und die Erinnerung erschütterte ihn fast so sehr wie die Tatsache, dass er Pardloe hier angetroffen hatte statt des Herzogs von Cumberland. Er klammerte sich an die Sitzfläche des Stuhls, um sich gegen die Erinnerung zu wappnen.
Zwei Tage nach der Schlacht, und der dichte Qualm der brennenden Leichen hing über dem Moor, ein rußiger Nebel, der auch in die Kate drang, in die sich die verletzten jakobitischen Offiziere geflüchtet hatten. Sie hatten das Feld der Gemetzelten gemeinsam überquert, blutend, frierend, stolpernd … hatten sich gegenseitig geholfen, sich gegenseitig in die vorübergehende – und völlig illusionäre – Sicherheit geschleppt.
Eigentlich hatte er das Ganze wie eine Illusion empfunden. War auf dem Feld erwacht, überzeugt, dass er tot war, erleichtert, dass es vorbei war, die Schmerzen, das Leid, der fruchtlose Kampf. Dann war er vollends erwacht und hatte begriffen, dass Jack Randall tot auf ihm lag und das Gewicht des Hauptmanns die Blutzufuhr zu seinem verwundeten Bein abgeschnitten und ihn vor dem Verbluten gerettet hatte – eine letzte unglückliche Wendung, eine letzte Entwürdigung.
Seine Freunde hatten ihn gefunden, ihn gezwungen aufzustehen, ihn zu der Kate gebracht. Er hatte sich nicht gewehrt; er hatte gesehen, was noch von seinem Bein übrig war, und gewusst, dass es nicht lange dauern würde.
Länger als er dachte; es waren zwei Tage voller fiebriger Schmerzen gewesen. Dann war Melton gekommen, und man hatte seine Freunde einen nach dem anderen ins Freie geführt und erschossen. Ihn hatte man heimgeschickt, nach Lallybroch.
Der Blick, den er auf Lord Harold Melton – inzwischen Herzog von Pardloe – richtete, war nicht besonders freundlich.
»Ich erinnere mich an Euch.«
PARDLOE ERHOB SICH VON seinem Schreibtisch und wies mit einem Schulterzucken auf zwei Armsessel am Kamin und lud ihn ein, sich zu setzen. Jamie ließ sich vorsichtig auf dem rosa gestreiften Satinstoff nieder, doch das Möbelstück war stabil gebaut und trug sein Gewicht, ohne zu ächzen.
Der Herzog wandte sich der offenen Tür der Bibliothek zu und brüllte: »Pilcock! Wo zum Teufel bleibt Ihr?«
Doch es war weder ein Dienstbote noch der Butler, der erschien. Die Frau, deren Gesicht er unten kurz im Korridor gesehen hatte, trat mit flüsternden Röcken ein. Jetzt konnte er ihr Gesicht sehr viel besser sehen, und er dachte, ihm würde das Herz stehen bleiben.
»Pilcock ist beschäftigt«, sagte sie zum Herzog. »Was willst du?« Sie war sichtlich älter geworden, aber immer noch hübsch mit ihren sanft geröteten Wangen.
»Beschäftigt? Womit denn?«
»Ich habe ihn auf den Dachboden geschickt«, erwiderte die Frau gefasst. »Wenn du den armen John nach Irland schickst, braucht er doch wenigstens eine Reisetasche.« Sie warf Jamie einen kurzen Blick zu, bevor sie sich wieder dem Herzog zuwandte, und Jamie sah, wie sich ihre gepflegte Augenbraue fragend hob.
Himmel. Die beiden sind also verheiratet, dachte er, als er begriff, was sie mit dieser Geste kommunizierte, und sah, wie der Herzog bestätigend das Gesicht verzog. Sie ist seine Frau. Die grün bedruckte Tapete hinter dem Herzog begann zu flackern, und seine Wangen wurden kalt. Mit geistesabwesendem Entsetzen stellte er fest, dass er im Begriff war, in Ohnmacht zu fallen.
Der Herzog stieß einen Ausruf aus, und die Frau fuhr zu ihm herum. Schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen und wurden größer, doch nicht so groß, dass er ihre Miene nicht gesehen hätte. Beunruhigung – und eine Warnung.
»Geht es Euch nicht gut, Mr Fraser?« Die kühle Stimme des Herzogs durchdrang das Summen in seinen Ohren, und er spürte eine Hand in seinem Genick, die ihm den Kopf niederdrückte. »Legt den Kopf zwischen die Knie. Minnie, Liebes …«
»Ich hab’s schon. Hier.« Die Stimme der Frau klang atemlos, und er hörte Glas klirren und roch scharfen Brandygeruch.
»Nicht doch, noch nicht. Mein Schnupftabak – auf dem Kaminsims.« Er fühlte, dass ihn der Herzog an den Schultern festhielt, damit er nicht umfiel. Das Blut floss langsam in seinen Kopf zurück, doch ihm war immer noch schwarz vor Augen, und sein Gesicht und seine Finger waren kalt.
Er hörte das Geräusch leichter, rascher Schritte – das Gehör versagte immer zuletzt, dachte er dumpf. Es klapperte auf dem Parkett, wurde von einem Teppich gedämpft, eine Pause, dann eilten die Schritte zurück. Die Stimme des Herzogs murmelte drängend, es klickte, ein kurzes, leises Plop!, und Ammoniak schoss ihm brennend in die Nase.
Er keuchte auf und versuchte krampfhaft, sich abzuwenden, doch eine Hand hielt seinen Kopf fest und zwang ihn zum Einatmen, dann schließlich ließ sie ihn los und gestattete ihm, sich hustend und spuckend aufzusetzen. Seine Augen tränten so heftig, dass er die Gestalt der Frau kaum ausmachen konnte, die über ihn gebeugt stand, das Riechsalzgläschen in der Hand.
»Armer Kerl«, sagte sie. »Ihr müsst ja halb tot von der Reise sein und hungrig dazu – die Zeit für den Tee ist schon vorbei, und ich wette, Ihr habt seit Stunden nichts mehr gegessen. Also wirklich, Hal …«
»Ich habe ja Essen bestellt. Ich war gerade im Begriff, die Bitte zu wiederholen, als er bleich geworden ist und umkippte«, protestierte der Herzog entrüstet.
»Nun, dann sag der Köchin Bescheid«, befahl seine Frau. »Ich gebe Mr …« Erwartungsvoll wandte sie sich Jamie zu.
»Fraser«, brachte Jamie heraus und wischte sich mit dem Ärmel über das tränende Gesicht. »James Fraser.« Der Name fühlte sich seltsam auf seinen Lippen an; er hatte ihn seit Jahren nicht mehr ausgesprochen.
»Ja. Natürlich. Ich gebe Mr Fraser etwas Brandy. Sag der Köchin, wir wollen Sandwiches und Kuchen und eine Kanne starken, heißen Tee, und zwar schnell.«
Der Herzog sagte etwas Vulgäres auf Französisch, doch er schritt davon. Die Frau hatte ein Glas Brandy in der Hand, das sie ihm an die Lippen hielt. Doch er nahm es ihr ab und sah sie über den Rand hinweg an.
Die leise Röte war ihr aus den Wangen gewichen. Sie war blass und hatte ihre sanften Lippen grimmig aufeinandergepresst.
»Um des Zieles willen, das einmal das unsere war«, sagte sie sehr leise, »bitte ich Euch, nichts zu sagen. Noch nicht.«
ER WAR ZUTIEFST VERLEGEN – und noch tiefer bestürzt. Es war nicht das erste Mal, dass er vor Schreck oder Schmerz in Ohnmacht fiel. Doch es war auch noch nicht oft vorgekommen, und noch nie vor einem Feind. Und nun saß er hier, trank Tee aus einer goldgeränderten Porzellantasse und aß gemeinsam mit besagtem Feind Sandwiches und Kuchen von einem ganz ähnlich verzierten Teller. Er war verwirrt, verärgert und völlig überrumpelt. Es gefiel ihm nicht.
Andererseits war das Essen ausgezeichnet, und er war tatsächlich ausgehungert. Sein Bauch war ein einziger Knoten gewesen, seit sie in Sichtweite Londons kamen, also hatte er nicht gefrühstückt.
Man musste Pardloe zugestehen, dass er nicht versuchte, die Schwäche seines Gastes auszunutzen. Er sagte nichts außer einem gelegentlichen »Noch etwas Schinken?« oder »Gebt mir doch bitte den Senf« und aß mit der konzentrierten Manier eines Soldaten. Weder suchte er Jamies Blick noch wich er ihm aus.
Die Frau war ohne ein weiteres Wort gegangen und nicht zurückgekehrt. Wenigstens eines, wofür er dankbar war.
Er hatte sie als Mina Rennie gekannt; der Himmel wusste, wie ihr Name wirklich lautete. Sie war die siebzehnjährige Tochter eines Buchhändlers in Paris gewesen, der mit Informationen handelte, und sie hatte mehr als einmal Botschaften zwischen ihrem Vater und Jamie hin- und hergetragen, damals, während jener Tage der Intrige vor dem Aufstand. Paris erschien ihm so fern wie der Planet Jupiter. Die Entfernung zwischen einer jungen Spionin und einer Herzogin jedoch schien noch größer zu sein.
»Um des Zieles willen, das einmal das unsere war.« War das wirklich so gewesen? Er hatte sich keine Illusionen gemacht, was den alten Rennie betraf; seine Loyalität hatte einzig dem Gold gegolten. Hatte sich seine Tochter tatsächlich als Jakobitin betrachtet? Er aß ein Stück Kuchen und genoss geistesabwesend die knusprigen Walnüsse und den köstlichen, exotischen Geschmack nach Kakao. Seit Paris hatte er keine Schokolade mehr zu Gesicht bekommen.
Er nahm an, dass es wohl möglich war. Die Sache der Jakobiten hatte so manches romantische Gemüt angelockt – wie so manches Unternehmen, das zum Scheitern verurteilt war. Das ließ ihn abrupt an Quinn denken, und die Haare auf den Unterarmen standen ihm zu Berge. Himmel. In der Aufregung der letzten Tage hatte er den Iren und seine schwachsinnigen Pläne fast vergessen. Was würde Quinn wohl denken, wenn er hörte, dass er von englischen Soldaten verschleppt worden war?
Nun, in diesem Moment konnte er weder in Bezug auf Quinn noch auf die Herzogin von Pardloe das Geringste unternehmen. Eins nach dem anderen. Er leerte seine Tasse, beugte sich vor und stellte sie leise klirrend auf die Untertasse – das Signal, dass er jetzt bereit war zu reden.
Der Herzog stellte seine Tasse ebenfalls ab, wischte sich den Mund mit einer Serviette ab und sagte ohne Umschweife: »Würdet Ihr sagen, dass Ihr in meiner Schuld steht, Mr Fraser?«
»Nein«, sagte er ohne jedes Zögern. »Ich habe Euch nicht darum gebeten, mir das Leben zu retten.«
»Nein, das habt Ihr nicht«, sagte Pardloe trocken. »Ihr habt sogar verlangt, dass ich Euch erschieße, wenn ich mich recht erinnere.«
»So ist es.«
»Macht Ihr mir Vorwürfe, weil ich es nicht getan habe?« Der Ton der Frage war ernst, und Jamie antwortete auch genauso.
»Damals ja. Doch heute nicht mehr, nein.«
Pardloe nickte.
»Nun denn.« Er hielt beide Hände hoch und klappte einen Daumen ein. »Ihr habt das Leben meines Bruders verschont.« Der andere Daumen verschwand. »Ich das Eure.« Ein Zeigefinger. »Ihr hattet Einwände dagegen.« Der andere Zeigefinger. »Doch inzwischen habt Ihr diese zurückgezogen?« Er zog die Augenbrauen hoch, und Jamie verkniff sich den zögerlichen Impuls zu lächeln. Stattdessen neigte er kaum merklich den Kopf, und Pardloe nickte und ließ die Hände sinken.
»Dann stimmt Ihr mir zu, dass es zwischen uns keine offene Rechnung mehr gibt? Kein schleichendes Gefühl, dass Euch Unrecht getan wurde?«
»So weit würde ich nicht gehen«, erwiderte Jamie seinerseits sehr trocken. »Ihr habt ja noch drei Finger. Aber es gibt keine offene Rechnung mehr, nein. Nicht zwischen uns.«
Der Mann war nicht dumm; die schwache Betonung auf dem »uns« entging ihm nicht.
»Eure etwaigen Meinungsverschiedenheiten mit meinem Bruder kümmern mich nicht«, sagte Pardloe. »Solange sie der Abmachung nicht im Weg sind, die ich Euch vorschlagen möchte.«
Jamie fragte sich, was genau John Grey seinem Bruder über ihre Meinungsverschiedenheit erzählt hatte – doch wenn es Pardloe nicht kümmerte, kümmerte es ihn ebenfalls nicht.
»Dann sprecht«, sagte er und spürte plötzlich einen Krampf in seinem Bauch. Das waren genau die Worte, die er zu John Grey gesagt hatte und die jenen letzten fatalen Wortwechsel losgetreten hatten. Er hatte das dumpfe Gefühl, dass das kommende Gespräch ebenfalls kein gutes Ende nehmen würde.
Pardloe holte tief Luft, als machte er sich für etwas bereit, dann stand er auf.
»Kommt mit mir.«
SIE BEGABEN SICH IN EIN KLEINES Studierzimmer ein Stück weiter den Flur entlang. Anders als die elegante Bibliothek, die sie gerade verlassen hatten, war das Studierzimmer dunkel, klein und mit Büchern, Papieren, kleinen Gegenständen ohne besonderen Zweck und abgenutzten Federkielen übersät, die aussahen, als hätte jemand daran gekaut. Dies war eindeutig das persönliche Reich des Herzogs, und das Eindringen der Dienstboten war hier nur selten geduldet. Jamie, der selbst aus Gewohntheit ordentlich war, nicht jedoch, weil es seine Art war, fand dieses Zimmer seltsam sympathisch.
Pardloe wies mit einer knappen Geste auf einen Stuhl, dann bückte er sich, um die untere Schublade des Schreibtischs aufzuschließen. Was mochte wohl so delikat oder so wichtig sein, dass es solcher Vorsichtsmaßnahmen bedurfte?
Der Herzog holte ein Bündel von Papieren hervor, die von einem Band zusammengehalten wurden. Ungeduldig schob er die Gegenstände auf dem Tisch beiseite, um Platz zu haben, und legte ein einzelnes Blatt Papier vor Jamie hin.
Dieser runzelte schwach die Stirn, ergriff das Blatt Papier, neigte es dem Fenster zu, um besseres Licht zu haben, und las es langsam durch.
»Könnt Ihr es lesen?« Der Herzog sah ihn gebannt an.
»Mehr oder weniger, aye.« Verblüfft legte er das Blatt hin. »Ihr wollt wissen, was da steht, ist es das?«
»Ja. Ist es die Sprache der schottischen Highlands?«
Jamie schüttelte den Kopf.
»Nein, aber es ist ähnlich. Es ist Gaeilge. Irisch. Für viele ist es dasselbe«, fügte er mit einem Unterton der Verachtung gegenüber solchem Unwissen hinzu.
»Irisch! Ganz sicher?« Der Herzog stand auf, und sein Gesicht glühte geradezu vor Wissbegier.
»Ja. Ich kann nicht behaupten, dass ich es fließend kann, aber es hat genug Ähnlichkeit mit Gàidhlig – das wäre dann meine eigene Sprache«, sagte er betont, »dass ich dem Text folgen kann. Es ist ein Gedicht – zumindest ein Teil davon.«
Pardloes Gesicht wurde ausdruckslos, dann nahm es seine konzentrierte Miene wieder an.
»Was denn für ein Gedicht? Was steht darin?«
Jamie fuhr sich langsam mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken, während er die Seite überflog.
»Es ist kein spezielles Gedicht – keins, das einen Namen hat, meine ich –, zumindest keins, das ich kenne. Aber es ist eine Geschichte von der Wilden Jagd. Sagt Euch das etwas?«
Im Gesicht des Herzogs spielten sich faszinierende Veränderungen ab.
»Die Wilde Jagd?«, sagte er vorsichtig. »Ich … habe davon gehört. In Deutschland. Nicht in Irland.«
Jamie zuckte mit den Achseln und schob das Blatt fort. Ein schwach vertrauter Geruch hing in dem kleinen Studierzimmer – ein süßlicher Mief, der ihn aufhusten ließ.
»Findet man Spukgeschichten denn nicht überall? Oder Märchen?«
»Spukgeschichten?« Pardloe blickte stirnrunzelnd auf das Blatt, dann nahm er es in die Hand und sah es finster an, als wollte er es zwingen, zu ihm zu sprechen.
Jamie wartete und fragte sich, ob dieses Blatt mit irischer Lyrik wohl etwas mit den Worten der Frau zu tun hatte. »Wenn du den armen John nach Irland schickst …« Von ihm aus konnte John Grey zum Teufel gehen, von Irland ganz zu schweigen, doch da ihm auch Quinn und seine Pläne nicht aus dem Kopf gingen, ließ die wiederholte Erwähnung dieses Ortes James Fraser allmählich die Haare zu Berge stehen.
Pardloe ballte das Blatt plötzlich zu einer Kugel zusammen und warf es mit einem groben Ausruf auf Griechisch gegen die Wand.
»Und was hat das mit Siverly zu tun?«, wollte er wissen und funkelte Jamie an.
»Siverly?«, erwiderte er verblüfft. »Wer, Gerald Siverly?« Dann hätte er sich auf die Zunge beißen können, als er sah, wie sich das Gesicht des Herzogs erneut veränderte.
»Ihr kennt ihn«, sagte Pardloe. Er sprach leise wie ein Jäger mit seinem Begleiter, wenn das Wild in Sicht kommt.
Es hatte wenig Zweck, es zu verneinen. Jamie zog eine Schulter hoch.
»Ich habe einmal jemanden gekannt, der so hieß, aye. Und?«
Der Herzog lehnte sich zurück und betrachtete Jamie. »Und, genau. Würdet Ihr mir erzählen, unter welchen Umständen Ihr einem gewissen Gerald Siverly begegnet seid?«
Jamie überlegte, ob er antworten sollte oder nicht. Doch er schuldete Siverly nicht das Geringste, und es war vielleicht verfrüht, sich querzustellen, da er ja keine Ahnung hatte, weshalb ihn Pardloe hergeholt hatte. Und der Herzog hatte ihm zu essen gegeben.
Als hätte der Herzog seine Gedanken gelesen, griff er in einen Schrank und holte eine bauchige braune Flasche und ein paar abgenutzte Zinnbecher heraus.
»Das ist keine Bestechung«, sagte er und stellte die Gegenstände mit einem flüchtigen Lächeln auf den Schreibtisch. »Wenn es um Siverly geht, kann ich mich nicht beherrschen, ohne etwas zu trinken, und wenn ich in Gegenwart von jemandem trinke, der nichts hat, komme ich mir wie ein Säufer vor.«
Da er sich noch an die Wirkung des Weins nach der langen Abstinenz erinnerte, hatte Jamie zwar bei Whisky erst recht Bedenken – er konnte ihn riechen, sobald die Flasche entkorkt war –, doch er nickte trotzdem.
»Siverly«, sagte er langsam und ergriff den Becher. Und woher wusstet Ihr, dass ich ihn kenne, frage ich mich? Die Antwort darauf folgte der Frage auf dem Fuße. Mina Rennie, auch bekannt als die Herzogin von Pardloe. Er schob den Gedanken vorerst beiseite und atmete langsam die süßen, durchdringenden Dämpfe des Whiskys ein.
»Der Mann, den ich kannte, war eigentlich kein Ire, obwohl er Land in Irland besaß, und ich glaube, seine Mutter ist Irin gewesen. Er war ein Freund von O’Sullivan, der später Proviantmeister gewesen ist bei … Charles Stuart.«
Pardloe sah ihn scharf an, denn sein Zögern war ihm nicht entgangen – um ein Haar hätte er »Prinz Charles« gesagt – doch er wies ihn kopfnickend an fortzufahren. »Verbindungen zu den Jakobiten«, merkte Pardloe an. »Selbst aber kein Jakobit?«
Jamie schüttelte den Kopf und trank vorsichtig einen Schluck. Er brannte in seiner Kehle und sank in kleinen Wirbeln in seinem Körper hinunter wie ein Tropfen Tinte in Wasser. O Gott. Vielleicht war es allein das ja wert, wie ein Krimineller fortgeschleppt zu werden. Andererseits …
»Er hat damit kokettiert. Hat oft an Stuarts Tafel in Paris diniert, und man hat ihn oft zusammen mit O’Sullivan oder einem der anderen irischen Freunde des Prinzen gesehen – aber weiter ist es nicht gegangen. Ich bin ihm einmal gemeinsam mit Lord George Murray in einem Salon begegnet, doch von Mar oder Tullibardine hat er sich immer ferngehalten.« Er verspürte einen leisen Stich bei dem Gedanken an den kleinen, fröhlichen Herzog von Tullibardine, der genau wie sein eigener Großvater nach dem Aufstand auf dem Tower Hill hingerichtet worden war.
Er hob seinen Becher zum stillen Salut und trank, bevor er fortfuhr. »Dann war er plötzlich verschwunden. Ob er Angst bekommen hat, es sich anders überlegt hat, keinen Profit gesehen hat – ich hatte nie genug mit ihm zu tun, um zu sagen, warum. Doch er war weder in Glenfinnan an Charles Stuarts Seite noch hinterher.«
Er trank einen weiteren Schluck. Er hatte ein ungutes Gefühl; die Erinnerungen an den Aufstand waren zu lebhaft. Er spürte Claire unmittelbar neben sich, hatte Angst, sich umzusehen..
»Keinen Profit«, wiederholte der Duke. »Nein, davon kann man wohl ausgehen.« Sein Ton war bitter. Einen Moment lang saß er da und schaute in seinen Becher, dann schüttete er den restlichen Whisky hinunter, räusperte sich, stellte den Becher hin und griff nach dem Papierbündel.
»Lest das. Wenn Ihr so freundlich wärt«, fügte er hinzu und besann sich etwas spät auf die Gebote der Höflichkeit.
Jamie blickte auf die Papiere und verspürte eine obskure Beklommenheit. Doch auch jetzt gab es keinen Grund, sich zu weigern, und trotz seines Widerstrebens ergriff er die oberen paar Seiten und begann zu lesen.
Der Herzog schien ein Mensch zu sein, der nicht gut stillsitzen konnte. Er zuckte nervös, hustete, stand auf und zündete die Kerze an, setzte sich wieder hin … hustete heftiger. Jamie seufzte und versuchte, sich trotz dieser Ablenkung zu konzentrieren.
Siverly schien seine Armeezeit in Kanada weidlich ausgenutzt zu haben. Jamie missbilligte sein Verhalten zwar aus Prinzip und bewunderte die leidenschaftliche Eloquenz des Mannes, der darüber geschrieben hatte, doch er empfand keine persönliche Feindseligkeit. Als er jedoch die Stelle erreichte, an der geschildert wurde, wie die Eingeborenendörfer geplündert und terrorisiert wurden, spürte er, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Siverly mochte ja ein Schurke sein, wie er im Buche stand, doch dies war nicht die Schurkerei eines Einzelnen.
Es war die Art der Krone. Die Art, wie man mit widersetzlichen Eingeborenen umging. Diebstahl, Vergewaltigung, Mord … und Feuer.
So hatte es Cumberland gemacht, als er die Highlands nach Culloden »gesäubert« hatte. Und James Wolfe hatte es ebenso gemacht – um die Zitadelle Quebec von der Unterstützung aus dem Hinterland abzuschneiden. Vieh geraubt, die Männer getötet, Häuser niedergebrannt … und die Frauen verhungern und erfrieren lassen.
Herr, lass sie gerettet sein!, dachte er in plötzlicher Pein und schloss eine Sekunde die Augen. Und das Kind mit ihr.
Er blickte von der Seite auf. Der Herzog hustete immer noch, doch er hatte jetzt eine Pfeife aus dem Durcheinander gezogen und stopfte sie mit Tabak. Lord Melton hatte in Culloden Soldaten befehligt. Diese Soldaten – und der Mann, der vor ihm saß – waren danach mit großer Wahrscheinlichkeit geblieben, um sich an der Säuberung der Highlands zu beteiligen.
»Kein schleichendes Gefühl, dass Euch Unrecht getan wurde«, hatte er gesagt. Jamie murmelte etwas ausgesprochen Rüdes auf Gàidhlig und setzte seine Lektüre fort, obwohl er feststellen musste, dass er immer noch abgelenkt war.
Blutdruck. So hatte Claire es genannt. Es hatte damit zu tun, wie fest das Herz eines Menschen schlug und mit welcher Gewalt es das Blut durch den Körper trieb. Wenn einem das Herz den Dienst versagte und das Blut nicht mehr bis zum Gehirn drang, fiel man in Ohnmacht, sagte sie. Und wenn es heftig schlug, im Griff der Angst oder der Leidenschaft, dann spürte man, wie einem das Blut in den Schläfen pochte und die Brust anschwoll, bereit für das Bett oder für die Schlacht.
Sein persönlicher Blutdruck ging gerade in die Höhe wie eine Rakete, und er hatte gewiss kein Verlangen, mit Pardloe ins Bett zu gehen.
Der Herzog nahm einen Holzspan aus einer Keramikschale und hielt ihn an die Kerzenflamme, dann zündete er die Pfeife damit an. Draußen war es dunkel geworden, und der Geruch nahenden Regens drang durch das halb geöffnete Fenster herein und vermischte sich mit dem süßlich würzigen Geruch des Tabaks. Pardloes hagere Wangen wurden hohl, als er an der Pfeife sog, seine Augenhöhlen lagen im Schatten des Lichts, das auf Stirn und Nase fiel. Er sah aus wie ein Totenschädel.
Abrupt legte Jamie die Papiere hin.
»Was wollt Ihr von mir?«, fragte er.
Pardloe nahm die Pfeife aus dem Mund und atmete träge Rauchschwaden aus.
»Ich will, dass Ihr diesen irischen Text übersetzt. Und mir mehr erzählt – alles, was Ihr noch von Gerald Siverlys Werdegang und seine Verbindungen wisst. Darüber hinaus …« Die Pfeife lief Gefahr zu erlöschen, und der Herzog nahm einen kräftigen Zug.
»Und Ihr glaubt, das tue ich, wenn Ihr einfach danach fragt?«
Pardloe sah ihn gelassen an, während ihm der Rauch von den Lippen aufstieg.
»Ja, das glaube ich. Warum nicht?« Er hob den Mittelfinger einer Hand. »Ich würde es als Schuld betrachten, die ich zu bezahlen habe.«
»Steckt diesen verflixten Finger weg, bevor ich ihn Euch in den Hintern ramme.«
Der Mund des Herzogs zuckte, doch er ließ den Finger kommentarlos wieder sinken.
»Außerdem hatte ich den Wunsch, Euch zu sehen, um entscheiden zu können, ob Ihr uns dabei helfen könnt, Major Siverly seiner gerechten Strafe zuzuführen. Ich glaube, das könnt Ihr. Und was ich vor allem will, ist Gerechtigkeit.«
Gerechtigkeit.
Jamie holte tief Luft und hielt kurz den Atem an, um nichts Voreiliges zu sagen.
»Inwiefern helfen?«
Nachdenklich stieß der Herzog ein bläuliches Rauchwölkchen aus, und Jamie begriff plötzlich, woher der süße, durchdringende Geruch kam. Es war gar kein Tabak; der Herzog rauchte Hanf. Er kannte den Geruch; ein Arzt in Paris hatte es einem Bekannten verschrieben, der an Lungenbeschwerden litt. War der Herzog krank? Er sah nicht so aus.
Er hörte sich auch nicht so an.
»Siverly hat sich von seinem Regiment beurlauben lassen und ist verschwunden. Wir glauben, dass er sich auf sein Anwesen in Irland begeben hat. Ich will, dass er aufgespürt und zurückgeholt wird.« Pardloes Stimme war gelassen, genau wie sein Blick. »Mein Bruder wird zu diesem Zweck nach Irland reisen, doch er wird Hilfe benötigen. Er …«
»Hat er Euch etwa gesagt, dass Ihr mich herbringen sollt?« Jamies Hände hatten sich zu Fäusten geballt. »Glaubt er etwa, dass ich …«
»Ich weiß nicht, was er glaubt, und nein, er hat keine Ahnung davon, dass ich Euch herbringen ließ«, sagte Pardloe. »Ich bezweifle sogar, dass er darüber erfreut sein wird«, fügte er nachdenklich hinzu, »doch wie ich schon sagte – ganz gleich, was für Meinungsverschiedenheiten zwischen Euch existieren, sie kümmern mich nicht.« Er legte die Pfeife beiseite, verschränkte die Hände und sah Jamie direkt in die Augen.
»Ich tue das nicht gern«, sagte er. »Und ich bedaure die Notwendigkeit.«
Jamie starrte Pardloe an und spürte, wie sich seine Brust zuschnürte. »Es ist nicht das erste Mal, dass mich ein Engländer in den Hintern fickt«, sagte er tonlos. »Erspart mir den Kuss, aye?«
Pardloe atmete durch die Nase ein und legte beide Hände flach auf den Schreibtisch.
»Ihr werdet Oberstleutnant Grey nach Irland begleiten und ihm jede nötige Hilfe dabei leisten, Major Siverly aufzuspüren und zur Rückkehr nach England zu zwingen sowie weitere Beweismittel zu seiner Verurteilung ausfindig zu machen.«
Jamie saß da wie ein Stein. Er konnte das Keuchen seines eigenen Atems hören.
»Oder Eure Strafaussetzung wird zurückgenommen. Man wird Euch in den Tower bringen – heute noch – und dort einkerkern, so lange es Seiner Majestät gefällt.« Der Herzog hielt inne. »Benötigt Ihr einen Moment, um die Situation zu überdenken?«, fragte er höflich.
Jamie stand abrupt auf. Pardloe erstarrte und wäre um ein Haar zurückgezuckt.
»Wann?«, fragte Jamie und war überrascht über seinen ruhigen Ton.
Pardloes Schultern entspannten sich beinahe unmerklich.
»In ein paar Tagen.« Zum ersten Mal schweifte sein Blick von Jamies Gesicht ab und überflog ihn von Kopf bis Fuß. »Ihr werdet Kleider brauchen. Ihr werdet als der Herr reisen, der Ihr seid. Unter Ehrenwort natürlich.« Er hielt inne, und sein Blick richtete sich wieder auf Jamies Gesicht. »Und ich werde mich als in Eurer Schuld stehend betrachten, Mr Fraser.«
Jamie sah ihn voller Verachtung an und machte auf dem Absatz kehrt.
»Wohin geht Ihr?«, sagte Pardloe. Er klang verblüfft.
»Aus«, sagte Jamie und griff nach dem Türknauf. Er sah sich finster um. »Unter Ehrenwort. Natürlich.« Er riss die Tür auf.
»Das Abendessen ist um acht«, sagte die Stimme des Herzogs hinter ihm. »Kommt bitte nicht zu spät, ja? Das stört die Köchin.«