9

Eros erhebt sich

Es hatte zu regnen begonnen, und die Gossen hatten sich in Bäche verwandelt. John Grey war nass bis auf die Haut und dampfte. Er stapfte über die Mornmouth Street, ohne den peitschenden Regen, die knöcheltiefen Pfützen und seine triefenden Rockschöße zu bemerken, die ihm um die Oberschenkel klatschten.

Er war schon so lange unterwegs, dass es ihm wie Stunden erschien – er hatte gedacht, die Anstrengung würde vielleicht seine Wut abkühlen, so dass es ihm möglich sein würde, mit seinem Bruder zu sprechen, ohne auf ihn einzuschlagen. Doch dem war nicht so. Wenn überhaupt, wurde er mit jedem Schritt wütender.

Selbst für Hal, für den Willkür das Natürlichste der Welt war, war das krass. Nicht nur, dass er Johns unmissverständliche Worte in Bezug auf Jamie Fraser ignoriert hatte, sondern auch, dass er einfach beschlossen hatte, Fraser nach London holen zu lassen – ohne ihm nur irgendetwas davon zu sagen, womit er seine Autorität als die desjenigen Offiziers ignorierte, der von Gesetz wegen für den Strafgefangenen zuständig war … und dann – dann ! – seine Tat auf die Spitze zu treiben, indem er John mitteilte – nicht in Form einer Frage, o nein, in Form eines Befehls –, dass er in Frasers Begleitung nach Irland zu reisen habe … Er hätte Hal am liebsten den Hals umgedreht.

Das Einzige, was ihn davon abhielt, war Jamie Frasers Anwesenheit in Argus House.

Wenn er gerecht sein wollte, konnte er Fraser die gegenwärtige Lage nicht vorwerfen. Er bezweifelte, dass der Mann darüber irgendwie glücklicher war als er selbst. Doch mit Gerechtigkeit hatten die Gefühle, die ihn drängten, wenig zu tun.

Der Regen verwandelte sich kurz in Hagel; kleine Eiskugeln prallten ihm von Kopf und Schultern ab, und ein paar Orangenverkäuferinnen huschten an ihm vorbei. Sie kreischten halb bestürzt, halb erheitert und ließen einen herrlichen Duft nach gekühlten Orangen zurück. Einem der Mädchen war eine Frucht aus ihrem Kasten gefallen; sie rollte ihm vor die Füße, ein Farbklecks auf dem Bordstein, und er hob sie auf und drehte sich, um ihr nachzurufen, doch die Mädchen waren fort.

Die kalte runde Orange schmeichelte seiner Hand, und der nachlassende Hagel hatte sein Blut zumindest ein wenig abgekühlt. Er warf die Frucht in die Luft und fing sie wieder auf.

Das letzte Mal hatte er versucht, aus Wut auf Hal einzuschlagen, als er fünfzehn war. Es hatte nicht gut geendet. Jetzt jedoch würde er wahrscheinlich mehr Erfolg haben. Hal war immer noch schnell, war ein exzellenter Schwertkämpfer, doch er war jetzt fast vierzig, und die jahrelangen Feldzüge hatten ihre Spuren hinterlassen. Dennoch, welchen Zweck würde es haben, auf seinen Bruder einzuhämmern oder ihn auch nur auf kurze Distanz mit einer Orange zu bewerfen? Die Situation würde stets dieselbe bleiben. Er steckte die Orange ein und patschte übellaunig die überflutete Straße entlang, während er nach dahintreibenden Kohlblättern trat.

»Lord John!« Der schrille Ausruf ließ ihn genau in dem Moment aufblicken, in dem er von einer großen Schmutzwasserwoge überspült wurde, die sich von den Rädern einer Kutsche erhob. Hustend und spuckend wischte er sich Schlamm und Abfallreste aus dem Gesicht und erblickte eine junge Frau im Fenster der Kutsche, die ihrerseits das Gesicht vor Lachen verzog.

»Oh, Eure Lordschaft – wie nass Ihr doch seid!«, brachte sie kichernd heraus und schützte die roten Samtblumen auf ihrem modischen Hut mit einem ausgebreiteten Fächer vor dem heftigen Regen.

»Ja. Ich bin nass«, sagte er und warf Nessie einen vielsagenden Blick zu. Agnes war ihr Name; eine junge schottische Hure, die er vor drei Jahren kennengelernt hatte. Offensichtlich hatte sie es seitdem zu einigem gebracht. »Ist das Eure Kutsche?«

»Och, nein«, sagte sie bedauernd. »Wenn es so wäre, würde ich Euch anbieten, Euch mitzunehmen. Ich bin auf dem Weg zu einem neuen Freier; er hat sie geschickt, um mich holen zu lassen.«

»Nun, ich möchte ja Eurem Kunden nicht die Polster ruinieren«, sagte er mit ausgewählter Höflichkeit.

»Ihr holt Euch noch den Tod, wenn Ihr da stehen bleibt«, ermahnte sie ihn, ohne seine Worte zu beachten. »Aber es ist nicht weit bis zu meinem neuen Haus. Am Ende der Brydges Street. Wenn Ihr dort hingeht, gibt Euch Mrs Donoghue einen Schluck gegen die Kälte. Und vielleicht ein Handtuch«, fügte sie hinzu und betrachtete ihn kritisch.

»Ich danke Euch für den Rat, Madam.«

Sie lächelte ihn strahlend an und wedelte mit ihrem Fächer.

»Kostet nichts. Jetzt fahr schon weiter, du alter Saufbold, bevor ich ertrinke!«, rief sie dem Kutscher zu, zog den Kopf ein und klappte abrupt das Fenster zu.

Er sprang mit einem Satz zurück, doch nicht schnell genug, um der erneuten Ladung kalten Wassers und nasser Pferdeäpfel zu entgehen, als sich die Kutsche ruckartig in Bewegung setzte.

Triefend und schwer atmend stand er still, doch dann begriff er, dass Nessies Vorschlag durchaus sein Gutes hatte. Er sollte sich tatsächlich einen Unterschlupf suchen, wenn er nicht an einer Rippenfellentzündung sterben oder sich die Grippe holen wollte. Und das Einzige, was schlimmer sein würde, als in Jamie Frasers Begleitung nach Irland zu reisen, war, es mit einer heftigen Erkältung zu tun.

Nicht in einem Bordell, wo der Schnaps und das Handtuch wahrscheinlich Wucherpreise kosten würden und man ihm außerdem weibliche Gesellschaft aufdrängen würde, die er nicht wollte. Doch seine Begegnung mit Nessie hatte ihn aus seiner schlechten Laune gerissen und ihm seine Umgebung zu Bewusstsein gebracht; er befand sich nicht mehr als ein paar Straßen vom Beefsteak entfernt, seinem Lieblingsclub. Dort konnte er sich ein Zimmer nehmen – trockene Kleider bekommen, vielleicht ein Bad. Und mit Sicherheit etwas zu trinken.

Er machte kehrt und schritt entschlossen die Coptic Street entlang, während ihm das Wasser über den Rücken rann.

FRISCH GEBADET, IN TROCKENEN, wenn auch etwas zu großen Kleidern und nach dem Konsum zweier großer Gläser Brandy, sah er die Dinge eine Stunde später schon deutlich philosophischer.

Das Wichtigste war, Siverly zu finden und ihn zurückzuholen.Es ging um seine Ehre, wegen des Versprechens, das er Charlie Carruthers gegeben hatte, aber auch wegen seiner Pflicht als Offizier der Armee Seiner Majestät. Es war nicht das erste Mal, dass die Erfüllung dieser Pflicht ihm Unangenehmes abverlangte. Diesmal würde es nicht anders sein.

Es war durchaus beruhigend, sich klarzumachen, dass sich Fraser dabei genauso unwohl fühlen würde wie er selbst. Das würde zweifellos verhindern, dass es zu peinlichen Worten kam.

Er fand, dass er mit seinen philosophischen Überlegungen recht gut vorankam, dass ihm aber etwas zu essen durchaus guttun würde; in der Aufregung nach seinem Gespräch mit Hal hatte er den Tee versäumt, und allmählich spürte er die Wirkung des Brandys auf leeren Magen. Er überzeugte sich mit einem Blick in den Spiegel, dass er wirklich alle Mistkrümel aus seinem noch feuchten Haar entfernt hatte, zupfte sich den schlecht sitzenden grauen Überrock zurecht und begab sich nach unten.

Es war früh am Abend, und im Beefsteak war es ruhig. Noch wurde kein Abendessen serviert; es war niemand im Raucherzimmer, und nur in der Bibliothek lag ein Clubmitglied schlafend in einem Sessel, eine Zeitung über dem Gesicht. Im Schreibzimmer drehte ein Mann, der die Schultern konzentriert hochgezogen hatte, auf der Suche nach Inspiration mit dem Federkiel Däumchen.

Zu Greys Überraschung stellte sich heraus, dass der verkrampfte Rücken Harry Quarry gehörte. Gerade richtete sich Quarry mit abwesender Miene auf, entdeckte Grey im Korridor und klatschte alarmiert ein Stück Löschpapier über das Blatt auf dem Schreibtisch.

»Ein neues Gedicht, Harry?«, fragte Grey freundlich und betrat das Schreibzimmer.

»Was?« Harry versuchte, sich ein unschuldiges und verwundertes Aussehen zu geben, was ihm gründlich misslang. »Ein Gedicht? Ich? Ein Brief an eine Dame.«

»Ach ja?«

Grey tat so, als wollte er das Löschpapier anheben, und Quarry schnappte sich eiligst beide Blätter und presste sie fest an seine Brust.

»Wie könnt Ihr es wagen, Sir?«, sagte er mit aller ihm zu Gebote stehenden Würde. »Die Privatkorrespondenz eines Mannes ist heilig!«

»Einem Mann, der ›Apassionatus‹ und ›Cunnilingus‹ reimt, ist gar nichts heilig, das versichere ich Euch.«

Wahrscheinlich hätte er das nie gesagt, wenn ihm nicht der Brandy, der sein Blut wärmte, gleichzeitig die Zunge gelöst hätte. Doch als er sah, wie Harry fast die Augen aus dem Kopf quollen, hätte er trotz seines Bedauerns am liebsten gelacht.

Harry sprang auf und ging zur Tür, um sich wild im Flur umzusehen, bevor er sich umdrehte und Grey anfunkelte.

»Ich würde gern sehen, wie Ihr es besser macht. Wer zum Teufel hat Euch das erzählt?«

»Wie viele Leute wissen denn davon?«, konterte Grey. »Ich habe es erraten.« Das stimmte zwar nicht, doch er wollte seine Informationsquelle nicht preisgeben, denn es war seine Mutter.

»Und Ihr habt es gelesen?« Harrys Gesicht nahm allmählich wieder seine übliche gesunde Farbe an.

»Nun, nein«, räumte Grey ein. »Aber Monsieur Diderot hat einige ausgewählte Passagen laut vorgelesen.« Er grinste unwillkürlich bei der Erinnerung an M. Diderot, der – ziemlich betrunken – einige Verse aus Harrys anonym veröffentlichtem Bändchen Einige Verse zum Thema Eros vortrug, während er in Lady Jonas’ literarischem Salon hinter einer spanischen Wand urinierte.

Harry betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen.

»Mmmpf«, sagte er. »Ihr könntet doch im Leben keinen Daktylus von Eurem linken Daumen unterscheiden. Benedicta hat es Euch erzählt.«

Greys Augenbrauen fuhren in die Höhe. Nicht aus gekränkter Ehre, weil Harry sein literarisches Urteilsvermögen beleidigt hatte – das entsprach ja mehr oder weniger der Wahrheit –, sondern aus Überraschung. Die Tatsache, dass Harry Greys Mutter bei ihrem Vornamen genannt hatte – und damit von allein zugegeben hatte, dass sie von den Gedichten wusste –, verriet Schockierendes über die Intimität ihrer Bekanntschaft.

Er hatte sich schon gefragt, woher seine Mutter wusste, dass Harry erotische Lyrik schrieb. Er zahlte Harry seinen finsteren Blick mit Zinsen heim.

Harry, der zu spät begriff, was er gerade verraten hatte, blickte so unschuldig drein, wie es einem achtunddreißigjährigen Oberst mit weitreichenden Gepflogenheiten, einem lüsternen Appetit und beträchtlicher Erfahrung nur möglich war. Um diesen Unschuldseindruck zu manifestieren, wandte er sich dem Schreibtisch zu und legte die beiden krampfhaft festgehaltenen Seiten erneut dorthin, so als ob wirklich alles völlig harmlos sei.

Grey überlegte indes kurz, ob er eine Staatsaffäre aus diesem Blick machen sollte, doch schließlich war seine Mutter inzwischen unverbrüchlich mit General Stanley verheiratet, und weder sie noch der General würden es ihm danken, wenn er einen Skandal auslöste – und außerdem widerstrebte es ihm ehrlich, Harry Quarry herauszufordern.

So begnügte er sich damit, sich weitere Indiskretionen zu verbitten, indem er sagte: »Die Dame ist meine Mutter, Sir«, und Harry war so anständig, eine verlegene Miene aufzusetzen.

Bevor sie weitersprechen konnten, öffnete sich die Eingangstür, und ein kalter Luftzug wirbelte durch den Flur, hob nun beide Papiere vom Schreibtisch und verstreute sie zu Greys Füßen. Er bückte sich rasch, um sowohl das Löschpapier als auch die beschriebene Seite aufzuheben, bevor Harry danach greifen konnte.

»Himmel, Harry!« Sein Blick huschte über die saubere Handschrift.

»Gebt das zurück!«, knurrte Harry und schnappte nach dem Blatt.

Er hielt Harry mit einer Hand auf Abstand und las laut vor: »Der Schenkel Tau und schäumende Scham – Himmel, Harry, schäumend

»Es ist eine verflixte Rohfassung!«

»O ja, es ist roh, das stimmt!« Er trat behände in den Flur zurück, um Harry zu entwischen, und stieß heftig mit einem Herrn zusammen, der gerade hereingekommen war.

»Lord John! Ich bitte untertänigst um Verzeihung! Ist etwas passiert?«

Im ersten Moment blinzelte Grey den blonden Hünen, der sich besorgt über ihm aufgebaut hatte, verständnislos an, dann richtete er sich von der getäfelten Wand auf, an der er schändlich zusammengesunken war.

»Von Namtzen!« Er packte die Hand des kräftigen Hannoveraners und war geradezu absurd erfreut, ihn wiederzusehen. »Was führt dich nach London? Was führt dich hierher? Kannst du mit mir zu Abend essen?«

Hauptmann von Namtzens auf strenge Weise schönes Gesicht lächelte ihn an, doch Grey sah, dass es von Strapazen gezeichnet war, denn die Falten zwischen Nase und Mund waren tiefer als zuvor, und tiefe Höhlen zeichneten sich unter seinen Wangenknochen und seinen Augen ab. Er drückte Grey die Hand, um seine Freude über das Wiedersehen auszudrücken, und Grey spürte, wie ein paar seiner Knochen nachgaben, auch wenn keiner davon tatsächlich brach.

»Das würde ich gern tun«, sagte von Namtzen. »Aber ich bin verabredet …« Er drehte sich suchend um und wies auf einen gut gekleideten Herrn, der ein Stück entfernt stehen geblieben war. »Kennst du Mr Frobisher? Seine Lordschaft John Grey«, erklärte er Frobisher, der näher gekommen war und sich verneigte.

»Gewiss«, erwiderte der Mann höflich. »Es wäre mir ein Vergnügen, Lord John, wenn Ihr mit uns speisen würdet. Ich habe zwei Rebhühner bestellt, einen frisch gefangenen Lachs und danach eine gewaltiges Sherry-Trifle – Hauptmann von Namtzen und ich werden dieser Menge gewiss nicht gewachsen sein.«

Grey, der einige Erfahrung mit von Namtzens Fassungsvermögen hatte, war zwar überzeugt, dass der Hannoveraner die gesamte Mahlzeit mit links verspeisen und dann noch einen raschen Happen benötigen würde, bevor er zu Bett ging. Doch bevor er sich entschuldigen konnte, riss ihm Harry das entführte Papier aus der Hand, so dass er bei dieser Aktion nicht umhinkam, ihn Frobisher und von Namtzen vorzustellen, und am Ende des Kuddelmuddels gingen sie alle vier gemeinsam essen und bestellten einen großen Vorspeisenteller sowie ein paar Flaschen guten Burgunder, um die Mahlzeit abzurunden.

HIMMEL, ES WAR DIE REINE SEUCHE. Er hatte das Gespräch während der Suppe auf das Thema Lyrik gebracht, weil er Harry necken wollte, doch dies hatte zunächst zu einer Deklamation eines Gedichtes aus Brockes’ Irdisches Vergnügen in Gott geführt, das Frobisher hingerissen auf Deutsch vortrug, und dann zu einer erhitzten Diskussion zwischen von Namtzen und Frobisher, ein bestimmtes deutsches Versmaß betreffend und die Frage, ob dies der Ursprung des englischen Sonetts war.

Als man Harry nach seiner Meinung fragte, grinste er Grey über seinen Suppenlöffel hinweg an.

»Ich?«, sagte er ausdruckslos. »Oh, ich bin doch gewiss nicht qualifiziert, mich dazu zu äußern. Weiter als bis ›Mary hatt’ ein kleines Lamm‹ kenne ich mich damit nicht aus. Aber Grey, er ist der Mann fürs Gereimte; am besten fragt Ihr ihn.«

Grey hatte empört alle derartigen Kenntnisse geleugnet, was jedoch wiederum dazu geführt hatte, dass der ganze Tisch »Reime suchen« zu spielen begann, wobei sie sich der Reihe nach abwechselten, bis der jeweilige Kandidat kein weiteres Reimwort mehr finden konnte, woraufhin der nächste dann ein neues Wort wählte.

Sie waren von einfachen Dingen wie »Sohn/Lohn/Mohn/Patron/Baron« bis zu der komplexeren Frage gekommen, ob man »Champagner« auf »oranger« reimen durfte, wobei Letzteres wohl nur bedingt als existierendes Wort zu betrachten war. Das Schlimmste daran war, dass ihn die Unterhaltung – gepaart mit dem Anblick von Namtzens, der ihm gegenübersaß, das breite Gesicht durch die Wortspiele ein wenig erheitert, das helle Haar sanft um die Ränder seiner Ohren geringelt – dazu verleitete, insgeheim tatsächlich selbst mit dem Reimen anzufangen. Zunächst nur simple Wörter, doch dann hatte ein kleiner Paarreim – er hoffte, dass das die richtige Bezeichnung war – in seinem Kopf zu summen begonnen.

Es verblüffte ihn. War das die Art, wie Harry es machte? Ließ er die Worte einfach auftauchen und selbst etwas beginnen?

Die Worte, die in seinem eigenen Kopf aufgeblitzt waren, hatten sich zu einem irritierenden kleinen Küchenreim zusammengefügt: Kannst nicht sein der Meister mein/doch soll ich dein Meister sein?

Das brachte ihn aus der Fassung, denn sein Verhältnis – oder seine Gefühle – gegenüber von Namtzen hatten nichts an sich, worauf sich das anwenden ließ, und er begriff sehr wohl, dass es mit Jamie Frasers Anwesenheit in Argus House zusammenhing.

Wirst du wohl verschwinden, zum Kuckuck?, dachte er aufgebracht. Ich bin noch nicht so weit.

Das Zimmer kam ihm furchtbar warm vor, und an seinem Haaransatz sammelte sich der Schweiß. Glücklicherweise lenkten die Ankunft der Vorspeisen und das Durcheinander, unter dem sie serviert wurden, die Tischgesellschaft vom Reimen ab, und er verlor sich dankbar in der Glorie des Blätterteigs und den köstlichen Säften von Wild, Ente und Trüffeln.

»WAS FÜHRT EUCH NACH LONDON, SIR?«, fragte Harry von Namtzen beim Salat. Es war eindeutig nur dazu gedacht, das verdauungsfördernde Schweigen nach der Vorspeise zu brechen, doch ein Schatten legte sich auf das Gesicht des Hannoveraners, und er senkte den Blick auf den Teller mit grünen Blättern und Essig.

»Ich assistiere dem Hauptmann bei einigen Geschäften«, warf Frobisher hastig ein und warf von Namtzen einen Blick zu. »Papiere, die unterzeichnet werden müssen, Ihr wisst schon …« Eine Geste seiner Hand deutete umfangreiche juristische Erfordernisse an.

Grey richtete den Blick neugierig auf von Namtzen – der nicht nur sein eigenes Regiment befehligte, sondern auch Graf von Erdberg war. Er wusste genau, dass der Graf jemanden in England hatte, der seine Geschäftsinteressen vertrat; so hielten es alle reichen Ausländer, und er war von Namtzens Vermögensverwalter sogar schon selbst begegnet.

Ob von Namtzen seine Neugier bemerkt hatte oder einfach nur das Gefühl hatte, dass weitere Erklärungen vonnöten waren … Er hob den Kopf und atmete heftig aus.

»Meine Frau ist gestorben«, sagte er und schluckte. »Letzten Monat. Ich – meine Schwester ist in London.« Wieder schluckte er. »Ich habe die … meine Kinder … zu ihr gebracht.«

»Oh, mein werter Sir«, sagte Harry. Er legte von Namtzen die Hand auf den Arm, und seine Stimme war von tiefem Mitgefühl erfüllt. »Das tut mir so leid.«

»Danke«, murmelte von Namtzen, dann erhob er sich plötzlich und stürzte mit einem Geräusch aus dem Zimmer, das genauso gut ein Wort der Entschuldigung wie ein unterdrücktes Schluchzen hätte sein können.

»Oje«, sagte Frobisher bestürzt. »Der Arme. Ich wusste gar nicht, dass es ihn so mitnimmt.«

Grey auch nicht.

Nach einer peinlichen Pause aßen sie ihren Salat weiter, und Grey wies den Steward an, von Namtzens Teller zu entfernen. Frobisher wusste nichts Näheres über den traurigen Verlust, den der Hauptmann erlitten hatte, und das Gespräch wandte sich Allgemeinplätzen über die Politik zu.

So konnte Grey, der nicht das geringste Interesse an diesem Thema hatte, über Stephan von Namtzen nachdenken und unterdessen automatisch Geräusche des Interesses oder der Zustimmung beisteuern, je nachdem, was der Rhythmus des Gesprächs verlangte.

Er dachte kurz an Louisa von Lowenstein, die außerordentlich lebhafte – nicht, dass ihm keine besseren Worte eingefallen wären, aber die Frau war nun einmal tot – Sachsenprinzessin, die von Namtzen vor drei Jahren geheiratet hatte. Gott schenke ihrer Seele Frieden, dachte er und meinte es ernst – doch seine eigentliche Sorge galt Stephan.

Hätte man ihn gefragt, so hätte er geschworen, dass diese Ehe allein auf beiderseitigem Nutzen beruhte. Außerdem hätte er geschworen, dass Stephans Vorlieben sich in andere Richtungen bewegten. Es hatte Momente zwischen ihm und Stephan gegeben, die … Nun, es stimmte, es hatte sich nichts Explizites ereignet, keine Deklarationen – zumindest keine derartigen Deklarationen –, und doch konnte er sich unmöglich vollständig irren. Dieses Gefühl, das zwischen ihnen herrschte …

Er erinnerte sich an den Abend, an dem er Stephan im Freien geholfen hatte, sein Hemd auszuziehen, an dem er den Stumpf seines frisch amputierten linken Arms betrachtet – und geküsst – hatte, daran, wie die Haut des Mannes im magischen Licht der Dämmerung geleuchtet hatte. Sein Gesicht lief heiß an, und er beugte den Kopf über seinen Teller.

Dennoch. Möglich, dass Stephan aufrichtig an Louisa gehangen hatte, ganz gleich, wie die wahre Natur ihrer Ehe ausgesehen hatte. Und es gab ja Männer, die sich zu beiden Geschlechtern hingezogen fühlten. Was das betraf, so kannte auch Grey diverse Frauen, deren Tod ihn zutiefst bestürzen würde, selbst wenn er keine andere Beziehung zu ihnen unterhielt als die der Freundschaft.

Von Namtzen kehrte zurück, als die Käseteller abgeräumt wurden, und schien zu seinem üblichen Gleichmut zurückgefunden zu haben, auch wenn seine Augen rot gerändert waren. Bei Port und Brandy schwenkte das Gespräch reibungslos erst zum Thema Pferderennen und dann zur Pferdezucht über – von Namtzen unterhielt ein bemerkenswertes Gestüt in Waldesruh – und verharrte auf neutralem Boden, bis sie sich schließlich erhoben.

»Soll ich dich nach Hause begleiten?«, fragte Grey von Namtzen leise, während sie im Flur darauf warteten, dass der Steward ihnen ihre Umhänge brachte. Er konnte sein Herz in seinen Ohren klopfen hören.

Stephans Blick huschte zu Frobisher hinüber, doch der Mann war ganz in sein Gespräch mit Harry vertieft.

»Ich würde die Gesellschaft sehr schätzen, Lord John«, sagte er, und obwohl die Worte formell klangen, war der Blick seiner rot geränderten Augen warm.

In der Kutsche sprachen sie nicht. Es hatte aufgehört zu regnen, und sie ließen die Fenster offen, die Luft wehte ihnen kalt und frisch in die Gesichter. Greys Gedanken waren ungeordnet – durch den Wein, den er zum Abendessen getrunken hatte, mehr noch durch den Tumult der Gefühle des heutigen Tages … und vor allem durch Stephan, so dicht in seiner Nähe. Er war ein kräftiger, hochgewachsener Mann, und seine Knie vibrierten mit den Bewegungen der Kutsche, dicht neben Greys.

Als er Stephan aus der Kutsche folgte, wehte ihm von Namtzens Duftwasser in die Nase, schwach und würzig – Nelken, dachte er, und fühlte sich absurd an Weihnachten erinnert und an mit Nelken besteckte Orangen, die ihren festlichen Duft im Haus verbreiteten.

Seine Hand schloss sich um die Orange, kühl und rund in seiner Tasche, und er dachte an andere rundliche Dinge, die in seine Hand passen würden, diesmal warm.

»Narr«, murmelte er zu sich selbst. »Denk erst gar nicht daran.«

Es war natürlich unmöglich, nicht daran zu denken.

Nachdem er den gähnenden Butler zu Bett geschickt hatte, der sie einließ, führte Stephan Grey in ein kleines Wohnzimmer, in dem die Kohle des Feuers noch im Kamin glühte. Er deutete auf einen bequemen Sessel und griff selbst nach dem Schüreisen, um die Glut wieder zum Leben zu erwecken.

»Möchtest du etwas trinken?«, fragte er und wies kopfnickend hinter sich auf eine Anrichte, auf der Gläser und Flaschen der Größe nach sortiert in Reih und Glied standen. Grey lächelte über die typisch deutsche Ordnung, doch er schenkte sich einen kleinen Brandy ein und – mit einem Blick auf Stephans breiten Rücken – einen etwas größeren für seinen Freund.

Einige der Flaschen waren halb leer, und er fragte sich, wie lange Stephan wohl schon in London war.

Sie nahmen vor dem Kamin Platz, tranken ihren Brandy in kameradschaftlichem Schweigen und beobachteten die Flammen.

»Es war gütig von dir, mit mir zu kommen«, sagte Stephan schließlich. »Ich wäre heute Abend nicht gern allein gewesen.«

Grey winkte schulterzuckend ab. »Ich bedaure höchstens, dass es eine Tragödie sein muss, die uns wieder zusammenführt«, sagte er, und es war auch so gemeint. »Fehlt … dir deine Frau sehr?«

Stephan spitzte ein wenig die Lippen. »Ich – nun … Natürlich trauere ich um Louisa«, sagte er um einiges förmlicher, als Grey es erwartet hätte. »Sie war eine tüchtige Frau.« Ein schwaches, trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. »Nein, es sind meine armen Kinder, um die ich mich gräme.«

Der Schatten, der Grey vorhin schon aufgefallen war, verfinsterte das breitkantige Gesicht, das sich im Schimmer des Kamins so deutlich abmalte wie das eines teutonischen Heiligen. »Elise und Alexander … Sie haben ihre eigene Mutter verloren, als sie noch ganz klein waren, und sie hatten Louisa sehr lieb; sie war eine wundervolle Mutter und war zu ihnen genauso gut wie zu unserer kleinen Bärbel oder zu ihrem eigenen Sohn.«

»Ah«, sagte Grey. »Siggy?« Er war Siegfried, Louisas Sohn aus erster Ehe, einmal begegnet und lächelte bei der Erinnerung daran.

»Siggy«, bejahte von Namtzen und lächelte ebenfalls ein wenig, doch das Lächeln schwand bald dahin. »Er muss natürlich in Lowenstein bleiben; er ist ja der Erbe. Und das ist wiederum traurig für Lise und Sascha – sie hängen sehr an ihm, und jetzt fehlt auch er ihnen. Bärbel ist noch zu klein, das alles mitzubekommen, aber … Es ist besser für sie, wenn sie bei meiner Schwester leben. Ich konnte sie nicht in Lowenstein lassen, doch ihre Gesichter, als ich mich heute Nachmittag von ihnen verabschieden musste …«

Sein Gesicht verzog sich flüchtig, und Grey tastete automatisch nach einem Taschentuch, doch von Namtzen vergrub seinen Schmerz kurz in seinem Glas und fasste sich dann wieder.

Grey erhob sich und wandte ihm taktvoll den Rücken zu, um sich nachzuschenken. Dabei sagte er etwas Beiläufiges über Cromwell, das Kind seiner Cousine Olivia, inzwischen fast zwei Jahre alt und der Schrecken des Haushalts.

»Cromwell?« Von Namtzen räusperte sich und klang verwundert. »Ist das ein englischer Name?«

»Er könnte nicht englischer sein.« Eine Erläuterung der Geschichte des Lordprotektors trug sie wieder in weniger gefährliche Gewässer – obwohl dieses Thema wiederum Grey einen kleinen Stich versetzte; er konnte nicht an den kleinen Cromwell denken, ohne sich an Percy zu erinnern, seinen Stiefbruder, der gleichzeitig sein Geliebter gewesen war. Sie waren beide zufällig bei Cromwells Geburt zugegen gewesen, und seine Beschreibung dieses haarsträubenden Ereignisses brachte Stephan zum Lachen.

Das Haus war still, und das kleine Zimmer schien fernab von allem zu sein, eine warme Zuflucht in den Tiefen der Nacht. Er fühlte sich, als seien sie beide Schiffbrüchige, die sich, von den Stürmen des Lebens gemeinsam auf eine Insel gespült, gegenseitig die Zeit vertrieben, indem sie sich Geschichten erzählten.

Es war nicht das erste Mal. Nach seiner Verletzung in der Schlacht von Crefeld hatte man ihn zur Genesung auf Stephans Jagdanwesen in Waldesruh gebracht, und sobald er in der Lage war, ein Gespräch zu führen, das länger als zwei Sätze andauerte, hatten sie sich oft bis spät in die Nacht unterhalten.

»Geht es dir wieder gut?«, fragte Stephan plötzlich und griff seinen Gedanken auf, wie es enge Freunde manchmal tun. »Deine Verletzungen – schmerzen sie dich noch?«

»Nein«, sagte er. Er hatte noch Verletzungen, die schmerzten, doch sie waren nicht von körperlicher Art. »Und dein Arm?«, fragte er auf Deutsch.

Stefan lachte vor Vergnügen, ihn seine Muttersprache sprechen zu hören, und hob sacht den Stumpf seines linken Arms.

»Nein. Eine Unannehmlichkeit, mehr nicht.«

Er beobachtete Stephan, als sie jetzt in beiden Sprachen weiterredeten, sah, wie sich das Licht auf seinem Gesicht bewegte, als sie von Humor zu Ernstem wechselten und wieder zurück, sah das Mienenspiel wie Feuer und Schatten auf seinen breiten Teutonenzügen. Grey war ebenso verblüfft wie gerührt über das Ausmaß der Gefühle gewesen, die Stephan für seine Kinder hegte – doch eigentlich hätte er das nicht sein sollen. Schließlich war ihm der scheinbare Widerspruch im teutonischen Charakter, der von kalter Logik und wildem Kampfgeist zur tiefster Romantik und Sentimentalität wechseln konnte, doch nichts Neues.

Leidenschaft, so mochte man es wohl nennen. Merkwürdigerweise erinnerte es ihn an die Schotten, die den Deutschen emotional sehr ähnlich waren, auch wenn sie sich dabei weniger diszipliniert verhielten.

Meister mein, dachte er. Oder soll ich dein Meister sein?

Und bei diesem beiläufigen Gedanken regte sich etwas tief in seinem Innersten. Nun, wenn er ehrlich war, regte es sich schon seit geraumer Zeit. Doch genau bei diesem Gedanken verschmolz der Reiz, den Stephan auf ihn ausübte, plötzlich mit den Dingen, die er nur mit Mühe über Jamie Fraser nicht gedacht – oder empfunden – hatte, und er stellte fest, dass ihm die Röte ins Gesicht stieg und er sich beklommen fühlte.

Begehrte er Stephan nur wegen der körperlichen Ähnlichkeiten zwischen ihm und Fraser? Beide waren kräftige Männer, hochgewachsen und gebieterisch, die Sorte Mann, nach der sich die Leute umdrehten. Und sie anzusehen, bewegte ihn zutiefst.

Doch es war etwas völlig anderes. Stephan war sein Freund, sein guter Freund, und Jamie Fraser würde das niemals sein. Fraser jedoch war etwas, das Stephan niemals sein konnte.

»Bist du hungrig?« Ohne eine Antwort abzuwarten, erhob sich Stephan, um in einem Schrank zu kramen, und brachte einen Teller Gebäck und ein Töpfchen Orangenmarmelade zum Vorschein.

Grey lächelte, weil er sich an seine Vorahnung in Bezug auf von Namtzens Appetit erinnerte. Eher aus Höflichkeit denn aus Hunger nahm er sich ein Mandelplätzchen und sah voll Zuneigung zu, wie Stephan Plätzchen mit Orangenmarmelade vertilgte.

Doch unter diese Zuneigung mischte sich der Zweifel. Es herrschte ein Gefühl großer Nähe zwischen ihnen, hier in der Nacht, völlig allein – daran gab es keinen Zweifel. Doch was für eine Art von Nähe …?

Stephans Hand streifte die seine, als er nach einem Plätzchen griff, und von Namtzen drückte ihm lächelnd sacht die Finger, bevor er wieder losließ und nach dem Marmeladenlöffel griff. Die Berührung lief Grey über den Arm und den Rücken, und in ihrem Gefolge richteten sich seine Härchen auf.

Nein, dachte er und rang um Logik. Ich kann es nicht.

Es würde nicht richtig sein. Nicht richtig, Stephan zu benutzen, zu versuchen, seine körperlichen Bedürfnisse mit Stephan zu stillen und damit vielleicht ihre Freundschaft aufs Spiel zu setzen. Und doch war die Versuchung da, daran gab es keinen Zweifel. Nicht nur das unmittelbare Verlangen – das verdammt groß war –, sondern zudem der schmachvolle Gedanke, dass er auf diese Weise vielleicht die Macht, die Fraser über ihn besaß, auslöschen oder zumindest schmälern könnte. Es würde viel einfacher sein, Fraser gegenüberzutreten, ruhig mit ihm umzugehen, wenn das körperliche Begehren zumindest gedämpft, wenn schon nicht gänzlich verschwunden war.

Doch … Er blickte Stephan an, die Güte und Traurigkeit in seinem breiten Gesicht, und wusste, dass er es nicht konnte.

»Ich muss gehen«, sagte er plötzlich. Er stand auf und strich sich die Krümel von den Rüschen seines Hemdes. »Es ist schon spät.«

»Du musst?« Stephan klang überrascht, aber er erhob sich ebenfalls.

»Ich – ja. Stephan – ich bin so froh, dass wir uns heute Abend begegnet sind«, sagte er impulsiv und streckte die Hand aus.

Stephan ergriff sie, doch statt sie zu schütteln, zog er ihn an sich, und plötzlich hatte er den Geschmack der Orangen in seinem Mund.

»WAS DENKST DU?«, fragte er schließlich, nicht sicher, ob er die Antwort hören wollte oder ob er Stephan einfach nur sprechen hören musste.

Zu seiner Erleichterung lächelte Stephan, die Augen immer noch geschlossen, und fuhr Grey mit seinen großen, warmen Fingern sanft über die gewölbte Schulter und den Unterarm, wo sie sich um sein Handgelenk schlangen.

»Ich frage mich, wie groß wohl das Risiko ist, dass ich vor dem Fest der heiligen Katharina sterbe.«

»Was? Warum denn? Und wann ist denn das Fest der heiligen Katharina?«

»In drei Wochen. Dann kommt Vater Gehring aus Salzburg zurück.«

»Ach ja?«

Stephan ließ sein Handgelenk los und öffnete die Augen.

»Wenn ich nach Hannover zurückkehre und Vater Fenstermacher das hier beichte, muss ich wahrscheinlich ein Jahr lang jeden Tag zur Messe gehen oder nach Trier pilgern. Vater Gehring ist um einiges … weniger anspruchsvoll.«

»Ich verstehe. Und wenn du stirbst, bevor du die Beichte ablegst …«

»Komme ich natürlich in die Hölle«, sagte Stephan nüchtern. »Aber das riskiere ich gern. Es ist ein langer Fußweg bis nach Trier.« Er hustete und räusperte sich.

»Das – was du gerade getan hast. Mit mir.« Er wich Greys Blicken aus, und eine tiefe Röte stieg ihm in die breiten Wangen.

»Ich habe vieles mit dir getan, Stephan.« Grey bemühte sich, das Lachen aus seiner Stimme zu drängen, doch ohne großen Erfolg. »Was genau? Das hier?« Er beugte sich vor und küsste von Namtzens Mund, genoss es, wie von Namtzen bei der Berührung seiner Lippen kurz zusammenzuckte.

Stephan küsste häufig Männer – auf seine überschwängliche deutsche Art. Doch er küsste sie nicht so.

Zu spüren, wie sich die Kraft dieser breiten Schultern unter seiner Hand erhob und dann langsam dahinschmolz, als Stephans Mund weich wurde und sich ihm ergab …

»Besser als dein hundertjähriger Brandy«, flüsterte Grey.

Stephan seufzte tief. »Ich möchte dir Vergnügen schenken«, sagte er schlicht und sah Grey zum ersten Mal in die Augen. »Was würde dir gefallen?«

Grey war sprachlos. Nicht so sehr angesichts dieser Erklärung, so bewegend sie auch war – sondern angesichts der Vielzahl von Bildern, die dieser Satz heraufbeschwor. Was ihm gefallen würde?

»Alles, Stephan«, sagte er, und seine Stimme war heiser. »Alles. Ich – ich meine – dich zu berühren – dich einfach nur anzusehen, bereitet mir Vergnügen.«

Bei diesen Worten verzog sich Stephans Mund.

»Du kannst mich ansehen«, versicherte er Grey. »Aber wirst du dich von mir berühren lassen?«

Grey nickte. »O ja«, sagte er.

»Gut. Aber was ich wissen möchte – wie es am besten geht?« Er streckte die Hand aus, ergriff Greys halb steifes Glied und betrachtete es kritisch.

»Wie?«, krächzte Grey. Sämtliches Blut war ihm ganz plötzlich aus dem Kopf gewichen.

»Ja. Soll ich meinen Mund nehmen? Ich weiß nicht, was ich dann tun soll, wie es richtig geht. Ich begreife, dass eine gewisse Kenntnis dazu gehört, die ich nicht besitze. Und du bist noch nicht ganz bereit, oder?«

Grey öffnete den Mund, um anzumerken, dass sich dieser Zustand gerade rapide änderte, doch Stephan drückte sacht zu und fuhr fort.

»Es ist direkter, wenn ich mein Glied von hinten in dich stecke und dich so nehme. Ich bin bereit, und ich denke, dass ich das kann; es ist so ähnlich wie das, was ich mit meiner – mit Frauen tue.«

»Ich – ja, ich bin mir sicher, dass du es kannst«, sagte Grey sehr schwach.

»Aber ich glaube, ich könnte dir dabei wehtun.« Stephan ließ Grey los und ergriff sein eigenes Glied. Er runzelte die Stirn, als er sie verglich. »Es hat wehgetan, anfangs, als du es mit mir gemacht hast. Hinterher nicht mehr – es war sehr schön«, versicherte er Grey hastig. »Aber anfangs. Und ich bin … ziemlich groß.«

Greys Mund war so trocken, dass es ihn Mühe kostete zu sprechen. »Ziem …lich«, brachte er heraus. Er richtete den Blick auf Stephans Glied, das sich wieder voll aufgerichtet hatte, dann wandte er ihn ab. Dann sah er langsam wieder hin, und sein Blick wurde angezogen wie Eisen von einem Magneten.

Es würde wehtun. Sehr. Anfangs … zumindest …

Er schluckte hörbar. »Wenn … ich meine … wenn du …«

»Ich werde es sehr langsam tun, ja?« Stephan lächelte so plötzlich, als bräche die Sonne hinter Wolken hervor, und griff nach dem großen Kissen, das sie vorhin schon benutzt hatten. Er warf es zu Boden und klopfte darauf. »Komm her und beuge dich vor. Ich öle dich ein.«

Er hatte Stephan von hinten genommen, weil er glaubte, dass Stephan auf diese Weise weniger befangen sein würde, während er selbst den Anblick des breiten, glatten Rückens genoss, der kräftigen Taille und der Gesäßmuskeln, die so vollständig ihm gehörten. Er spürte, wie sich sein eigenes Gesäß bei dem Gedanken daran leicht verkrampfte.

»Nicht – so.« Er schob das Kissen an das Kopfende und richtete sich zum Sitzen auf, so dass er die Schultern fest abstützen konnte. »Du hast gesagt, ich kann dich ansehen.« Außerdem würde ihm diese Position ein wenig Kontrolle gewähren – und zumindest die Chance, ernstere Verletzungen zu vermeiden, falls Stephans Enthusiasmus die Oberhand über seine Vorsicht gewann.

Bist du verrückt?, fragte er sich und wischte sich die verschwitzten Handflächen am Bettüberwurf ab. Du brauchst das nicht zu tun, weißt du. Du magst es doch noch nicht einmal, wenn … Gott, du wirst eine Woche etwas davon haben, selbst wenn er nicht

»O Gott!«

Stephan, der gerade etwas Öl in eine Schale goss, hielt überrascht inne. »Ich habe doch noch gar nicht angefangen. Geht es dir gut?« Ein kleines Stirnrunzeln zog seine Augenbrauen zusammen. »Du hast … das doch schon einmal getan?«

»Ja. Ja, ich … Es ist alles gut. Ich … nur … Vorfreude.«

Stephan beugte sich vor, ganz sanft, und küsste ihn. Er lernte wirklich schnell. Als er nach einer Weile zurückwich, betrachtete er Grey, der am ganzen Körper bebte, obwohl er versuchte, sich zu beherrschen, und schüttelte mit einem kleinen Lächeln den Kopf. Dann schnalzte er leise mit der Zunge und fuhr Grey mit der Hand über das Haar, streichelte ihn einmal, zweimal. Beruhigte ihn.

Es stimmte, dass Stephans Erfahrung begrenzt war, dass er keine Kunstfertigkeit besaß und nur wenig natürliche Kenntnis. Doch Grey hatte vergessen, dass Stephan ein Pferdekenner war, dass er Hunde züchtete und ausbildete. Er brauchte keine Worte, um zu begreifen, was ein Tier – oder ein Mensch – fühlte. Und er wusste, was »langsam« hieß.