28
Amplexus
Jamie weigerte sich zuzulassen, dass Grey versuchte, Pferde zu mieten, da die Iren genauso gern tratschten wie die Highlandschotten. Denn wenn man Grey in seiner Uniform sah, würde es die Burg bis zum Mittag des folgenden Tages erfahren.
Also wanderten sie von Lough Ree aus durch die Nacht, zogen sich in der Dämmerung auf die Felder zurück, ruhten sich bei Tag im Wald aus – und Jamie besorgte in Ballybonaggin etwas zu essen –, um sich dann in der Dunkelheit wieder auf die Straße zu begeben, wo sie gut vorankamen, beleuchtet von einem mitfühlenden Mond, der sich riesig, hell und gefleckt wie eine glänzende Alabasterkugel über ihnen erhob.
Die Landschaft war menschenleer – und auch sonst verlassen.
Sie waren jetzt von offenen Feldern in eine waldige Gegend gelangt. Die dunklen Bäume standen dicht gedrängt; ihre Wurzeln ragten aus der Straße hervor, und die Zweige hingen tief, so dass sie durch ein Meer aus Dunkelheit gingen, in dem sie die Straße unter ihren Füßen nicht sehen konnten, um immer wieder plötzlich an eine lichtere Stelle zu kommen, wo die Bäume ein wenig zurückwichen und der Mondschein unvermittelt in einem Gesicht oder auf einem Hemd aufblitzte, auf dem glitzernden Knauf eines Schwertes.
Selbst das Geräusch ihrer Schritte ging im Murmeln des Waldes unter, als sich später ein frischer Wind erhob und im Frühlingslaub raschelte. John empfand die Nacht wie etwas Wildes, das sich über ihn stahl, als stiege ihm die Macht des Frühlings aus dem Boden in die Füße, die Beine, als rase er ihm durch den Körper hindurch, bis ihm das Blut in den Fingern pochte und in seiner Brust pulsierte.
Vielleicht war es die Freiheit, das Glücksgefühl, entkommen zu sein. Vielleicht die Erregung der nächtlichen Jagd, der Abenteuer und Gefahren, die vor ihnen lagen. Oder das Wissen, dass er ein Gesetzloser war – die Verfolger und die Gefahr im Nacken.
Die Straße war schmal, und hin und wieder stießen sie aneinander, geblendet vom Kontrast zwischen dem dunklen Wald und dem Gleißen des aufgehenden Mondes. Er konnte Jamie atmen hören, zumindest glaubte er das – er schien Teil des sanften Windes zu sein, der sein Gesicht berührte. Er konnte Jamie riechen, den Moschus seines Körpers, den getrockneten Schweiß und den Staub in seinen Kleidern, und er fühlte sich plötzlich wild wie ein Wolf, und die Sehnsucht verwandelte sich geradewegs in Hunger.
Er begehrte.
Meister mein, dachte er und holte tief Luft, oder soll ich dein Meister sein?
Die Gräben in den Sümpfen jenseits der Bäume waren voller Frösche. Ihre Rufe erklangen hoch und tief, schrill und dröhnend, und sie überschlugen sich in einem endlosen, vibrierenden Chor. Wenn man auf einer gepflegten Rasenfläche saß, zusah, wie die Sterne aufgingen, und dieser Chor in einigem Abstand die Hintergrundmusik bildete, mochte dieser Gesang die Pastorale sein, der Gesang des Frühlings.
So aus der Nähe war er zwar nach wie vor der Gesang des Frühlings, doch er entpuppte sich als das, was er für die Heiden immer schon gewesen war – der blinde Drang zu packen, sich zu paaren, die Erde achtlos mit Blut und Samen zu begießen, sich in zerdrückten Blumen zu wälzen, sich in den Säften von Gras und Erde zu winden.
Die verdammten Frösche kreischten vor Leidenschaft, triumphierend und mit rauen Kehlen. Hunderte. Der Lärm war ohrenbetäubend.
Abgelenkt durch die Vorstellung, wie sich die Amphibien im dunklen Wasser zu Tausenden in einer schleimigen Orgie umklammerten, stolperte er über eine Wurzel und stürzte mit voller Wucht.
Fraser, der dicht neben ihm herging, spürte ihn fallen und streckte den Arm nach ihm aus. Er bekam ihn um die Taille zu fassen und riss ihn wieder hoch.
»Habt Ihr Euch verletzt?«, fragte er leise, sein Atmen warm auf Greys Wange.
»Uh-quak-quak-n-duh …«, sagte er atemlos und leicht benommen. Fraser hielt ihn weiter am rechten Arm fest, um ihn zu stützen.
»Was?«
»Ein Kinderlied. Ich singe es Euch später vor.«
Fraser stieß ein Geräusch aus, das vielleicht Verachtung war, vielleicht Belustigung – vielleicht auch beides –, und ließ Greys Arm los. Daraufhin schwankte der und wäre fast erneut gestolpert. Hastig streckte er deshalb die Hand in Jamies Richtung aus, um sich wieder zu fangen. Er berührte Frasers Brust, warm und solide unter seinen Kleidern, schluckte krampfhaft und zog die Hand wie verbrannt fort.
»Das scheint mir die Art von Nächten zu sein, in denen man der Wilden Jagd begegnen könnte«, sagte Grey und setzte sich wieder in Bewegung. Seine Haut kribbelte und zuckte, und es hätte ihn nicht im Mindesten überrascht zu sehen, wie die Feenkönigin aus dem Wald geritten kam, so hell und gespenstisch wie der dahinsegelnde Mond, eine gnadenlose Jägerin, begleitet von einem Rudel junger Männer, so wendig, scharfzähnig und hungrig wie Wölfe. »Was glaubt Ihr, wonach sie jagen?«
»Nach Menschen«, sagte Fraser, ohne zu zögern. »Seelen. Ich habe gerade genau dasselbe gedacht. Obwohl man sie eher in stürmischen Nächten sieht.«
»Ihr habt sie tatsächlich schon gesehen?« In diesem Moment hielt er es durchaus für möglich, und seine Frage war vollkommen ernst gemeint. Zu Greys großer Überraschung verstand Fraser sie auch so.
»Nein«, sagte er, doch in seinem Ton schwang Zweifel mit. »Zumindest – das heißt …«
»Erzählt es mir.«
Sie gingen eine Weile schweigend weiter, doch er konnte spüren, wie Fraser seine Gedanken sammelte, und er schwieg seinerseits abwartend, während er dem Rhythmus des kräftigen Schotten lauschte, der sich leichten Fußes über den unebenen Boden bewegte.
»Vor Jahren«, sagte Fraser schließlich. »Es war nach der Schlacht von Culloden. Ich habe damals auf meinem Land gelebt, doch in einem Versteck. In einer kleinen Höhle in den Felsen. Doch des Nachts bin ich ins Freie gegangen, um zu jagen. Und manchmal musste ich weit laufen, wenn es – wie so oft – keine Beute gab.«
Sie waren auf eine Stelle hinausgetreten, an der die Bäume ein Stück zurückwichen, und der Mondschein leuchtete so hell, dass Grey sah, wie Fraser den Kopf zurücklegte, wie um den Mond zu betrachten.
»Eigentlich war es eine ganz andere Nacht«, sagte er. »Überhaupt kein Mond, und der Wind fuhr einem durch die Knochen und heulte einem wie tausend verlorene Seelen in den Ohren. Doch es – es war wild, könnte man sagen. So wild wie das hier«, fügte er mit etwas gesenkter Stimme hinzu und wies mit einer kurzen Geste auf die dunkle Landschaft ringsum. »Eine Nacht, in der man damit rechnet, Wesen zu begegnen, wenn man sich ins Freie wagt.«
Sein Ton war ganz sachlich, als sei es vollkommen normal, dass man »Wesen« begegnete. In einer Nacht wie dieser glaubte Grey das sofort, und er fragte sich plötzlich, in wie vielen Nächte sein Begleiter wohl allein unter den Sternen oder einem bewölkten Firmament umhergestreift war, von niemandem berührt außer dem rauen Wind.
»Ich hatte einem Hirsch nachgestellt und ihn erlegt«, sagte Fraser, als sei auch das normal. »Und ich hatte mich neben den Kadaver gesetzt, um vor dem Gralloch wieder zu Atem zu kommen – dem Ausweiden. Ich hatte ihm natürlich die Kehle durchgeschnitten, um das Fleisch ausbluten zu lassen, aber ich hatte das Gebet noch nicht gesprochen, das dazu gehört – hinterher habe ich mich gefragt, ob es das war, was sie angelockt hat.«
Grey fragte sich, ob sich »das« auf den scharfen Geruch des ausströmenden Blutes bezog oder auf den fehlenden Segen, doch er wollte es nicht riskieren, die Erzählung aufzuhalten, indem er nachfragte.
»Sie?«, sagte er nach ein paar Sekunden ermunternd.
Fraser zog die Schultern hoch. »Vielleicht«, sagte er. »Es war nur so, dass ich ganz plötzlich Angst hatte. Nein, schlimmer noch. Ich hatte Todesangst, und dann habe ich es gehört. Dann habe ich es gehört«, betonte er noch einmal. »Ich hatte schon Angst, bevor ich es – sie – gehört habe.«
Das, was er gehört hatte, war der Klang von Hufen und Stimmen, halb verschluckt vom Stöhnen des Windes.
»Wäre es einige Jahre zuvor gewesen, hätte ich es wohl für die Männer der Black Watch gehalten«, sagte er. »Doch die gab es nach Culloden nicht mehr. Mein nächster Gedanke war, dass es englische Soldaten waren – aber ich konnte keine englischen Worte hören, und normalerweise erkenne ich Englisch selbst aus einigem Abstand schnell. Es klingt anders als Gàidhlig, selbst wenn man die Worte nicht ausmachen kann.«
»Das ist wohl so«, murmelte Grey.
»Das andere war«, fuhr Fraser fort, als hätte Grey nichts gesagt, »dass ich nicht sagen konnte, aus welcher Richtung die Geräusche kamen. Und ich hätte es erkennen müssen. Der Wind war zwar kräftig, aber er kam beständig von Nordwesten. Und doch kamen die Geräusche manchmal mit dem Wind, aber auch genauso oft von Süden oder Osten. Dann verschwanden sie immer wieder und kehrten regelmäßig zurück.«
Inzwischen war er aufgestanden und hatte sich an der Seite des erlegten Hirsches gefragt, ob er wohl weglaufen sollte, und wenn ja, in welche Richtung?
»Und dann hörte ich einen Frauenschrei. Sie … äh.« Frasers Stimme klang ein wenig seltsam, plötzlich vorsichtig. Warum?, fragte sich Grey. »Es … war kein Schrei der Angst oder der Wut. Es … äh … nun ja, es war so, wie Frauen manchmal aufschreien, wenn sie … befriedigt sind.«
»Ihr meint im Bett.« Es war keine Frage. »Männer auch. Manchmal.«
Du Idiot! Musstest du ausgerechnet das sagen …
Er hätte sich noch weiter Vorwürfe gemacht, weil er das Echo seiner unglückseligen Bemerkung im Stall von Helwater heraufbeschworen hatte, dieser unüberlegten – dieser geradezu kriminell dummen Bemerkung.
Doch Fraser gab nur ein tiefes »Mmphm« von sich und schien nichts Böses hinter Greys gegenwärtiger Bemerkung zu vermuten.
»Im ersten Moment dachte ich, vielleicht eine Vergewaltigung … Aber es waren keine englischen Soldaten in der Gegend …«
»Und Schotten sind keine Vergewaltiger?«, fragte Grey scharf, verärgert über sich selbst.
»Selten«, sagte Fraser knapp. »Nicht in den Highlands. Aber wie ich sagte, es klang auch nicht danach. Und dann habe ich noch mehr Lärm gehört – ein großes Gekreische, und wiehernde Pferde, aye, aber es war auch kein Kampflärm. Eher wie Leute, die sturzbetrunken sind – und ihre Pferde ebenso. Und es kam immer näher.«
Es war der Gedanke an betrunkene Pferde, der Jamie auf die Idee mit der Wilden Jagd gebracht hatte. Es war keine weitverbreitete Sage der Highlands, doch er kannte solche Geschichten. Und hatte als junger Mann von seinen Söldnerkameraden in Frankreich noch mehr solcher Geschichten gehört.
»Die Königin, so heißt es, reitet einen herrlichen Schimmel, so weiß wie der Mond«, sagte er leise. »Er leuchtet im Dunklen.«
Jamie hatte genug Zeit in den Mooren und auf den Hügeln zugebracht, um zu wissen, wie viel in diesem Land verborgen lag, wie viele Geister und Gespenster dort lauerten, wie viel der Mensch nicht wusste – und die Vorstellung übernatürlicher Geschöpfe war ihm alles andere als fremd. Sobald ihm der Gedanke an die Wilde Jagd gekommen war, verweilte er keine Sekunde länger bei dem toten Hirsch, sondern machte sich davon, so schnell er konnte.
»Ich dachte ja, sie hätten das Blut gerochen«, erklärte er. »Ich hatte den Segen noch nicht gesprochen. Also hielten sie es für ihre rechtmäßige Beute.«
Der sachliche Ton dieser Worte ließ John die Nackenhaare zu Berge stehen.
»Ich verstehe«, sagte er schwach. Er konnte sich die Szene zur allzu gut vorstellen: das Heranrauschen der Geister, das Fell der Pferde und die Gesichter der Feen, die im Dunklen leuchteten, während sie aus der Finsternis kamen und blutrünstig heulten wie der Wind. Das Kreischen der vor Lust verrückten Frösche erschien ihm jetzt anders; er hörte den blinden Hunger darin.
»Sidhe«, sagte Fraser leise. Für Grey hörte sich das Wort an wie shiieee, wie das Seufzen des Windes.
»Es ist dasselbe Wort auf Gàidhlig und Gaeilge. Es steht für die Kreaturen der anderen Welt. Doch manchmal, wenn sie aus den Felsen kommen, wo sie leben – kehren sie nicht allein zurück.«
Er war zu einem Bach geflüchtet, weil er irgendwie im Kopf hatte, dass die sidhe kein fließendes Gewässer überqueren konnten, hatte sich über die Uferböschung geworfen und sich unten zwischen die Felsen gehockt, während er gegen die Gewalt des Wassers ankämpfte, das ihm bis zum Oberschenkel reichte, war in der Gischt halb ertrunken, blind in der Dunkelheit, doch er hatte die Augen ohnehin fest geschlossen.
»Man darf sie nicht ansehen«, sagte er. »Wenn man das tut, können sie einen zu sich rufen. Einen verzaubern. Und dann ist man verloren.«
»Töten sie Menschen?«
Fraser schüttelte den Kopf.
»Sie nehmen sie mit«, verbesserte er. »Locken sie an. Entführen sie in die Felsen, hinunter in ihre eigene Welt. Manchmal …«, er räusperte sich, »manchmal kehren die Geraubten zurück. Aber sie kommen zweihundert Jahre später. Und alle – alle, die sie gekannt und geliebt haben – sind tot.«
»Wie furchtbar«, sagte John leise. Er konnte Fraser schwer atmen hören wie einen Mann, der mit den Tränen kämpfte, und er fragte sich, warum ihn dieser Aspekt der Sage wohl so bewegte.
Fraser räusperte sich erneut, diesmal heftig.
»Aye, nun ja«, sagte er, jetzt wieder mit ruhiger Stimme. »Also habe ich den Rest der Nacht in dem Bach zugebracht und wäre fast erfroren. Wenn es nicht schon kurz vor dem Morgengrauen gewesen wäre, als ich ins Wasser gestiegen bin, wäre ich nicht wieder herausgekommen. Ich konnte mich auch so kaum bewegen, und ich musste warten, bis die Sonne hoch genug stand, um mich zu wärmen, bevor ich zu der Stelle zurückkehren konnte, an der ich meinen Hirsch zurückgelassen hatte.«
»War er denn noch dort?«, fragte Grey neugierig. »So wie Ihr ihn zurückgelassen hattet?«
»Zum Großteil ja. Irgendetwas – irgendjemand«, verbesserte er sich, »hatte ihn blitzsauber ausgeweidet und den Kopf, die Eingeweide und eine Keule mitgenommen.«
»Den Anteil des Waidmannes«, murmelte Grey, doch Fraser hörte ihn.
»Aye.«
»Und habt Ihr Spuren gesehen? Abgesehen von den Euren, meine ich?«
»Nein«, sagte Fraser knapp und präzise. Er musste es ja wissen, dachte Grey. Wer auf diese Weise einen Hirsch jagen konnte, konnte mit Sicherheit auch Spuren lesen. Trotz seines Versuchs, die Sache logisch zu sehen, überlief ihn ein Schauder, als er sich den kopflosen Kadaver vorstellte, sauber zerlegt, den blutdurchtränkten Boden, frei von jeder Spur im Morgennebel, abgesehen von den tiefen Abdrücken des flüchtenden Hirsches und des Mannes, der ihn zur Strecke gebracht hatte.
»Habt Ihr – den Rest an Euch genommen?«
Fraser zuckte mit der Schulter.
»Ich konnte ihn nicht liegen lassen«, sagte er schlicht. »Ich hatte schließlich eine Familie zu ernähren.«
Dann gingen sie schweigend weiter, ein jeder allein mit seinen Gedanken.
DER MOND GING BEREITS UNTER, als sie Glastuig erreichten, und die Anstrengung hatte Greys Lebensgeister ein wenig beruhigt. Sie erwachten jedoch abrupt wieder, als sie die Pforte zwar geschlossen, aber nicht verriegelt vorfanden und im Durchgehen einen Lichtschein auf dem Rasen sahen. Er kam aus einem der Fenster auf der rechten Hausseite.
»Wisst Ihr, welches Zimmer das ist?«, murmelte er Jamie zu und wies kopfnickend auf das beleuchtete Fenster.
»Aye, die Bibliothek«, erwiderte Fraser genauso leise. »Was habt Ihr vor?«
Grey holte tief Luft und überlegte. Dann berührte er Jamies Ellbogen und wies erneut auf das Haus.
»Wir gehen hinein. Kommt mit mir.«
Vorsichtig näherten sie sich dem Haus. Sie gingen am Rand des Rasens entlang und hielten sich in der Nähe der Büsche, doch es war keine Spur von irgendwelchen Dienstboten oder Wachtposten zu sehen. Einmal hob Fraser zwischendurch den Kopf und schnüffelte. Er holte zwei- oder dreimal tief Luft, bevor er auf eins der Nebengebäude zeigte und flüsterte: »Dort ist der Stall. Die Pferde sind fort.«
Das bestätigte das Ergebnis von Jamies vorsichtigen Erkundigungen; im Dorf erzählte man sich, dass sämtliche Dienstboten das Anwesen verlassen hatten. Grey nahm an, dass man die Tiere im Dorf untergebracht hatte.
Konnte der nächtliche Besucher der Vermögensverwalter sein? Grey konnte sich zwar keinen Grund vorstellen, warum ein legitimer Nachlassverwalter dem Anwesen einen Geheimbesuch abstatten musste – aber möglicherweise war der Mann ja bei Tageslicht gekommen, wie es sich gehörte, und hatte sich dann zu lange bei seiner Arbeit aufgehalten? Er blickte zum Mond hinauf; Mitternacht war vorbei. Das zeugte allerdings von größerer Dienstbeflissenheit, als er sie sonst von Anwälten kannte. Vielleicht übernachtete der Mann einfach im Haus und war auf der Suche nach einem Buch, weil er nicht schlafen konnte, dachte Grey und zuckte innerlich mit den Achseln. Meistens war die einfachste Antwort die richtige.
Sie befanden sich jetzt in Schussweite des Hauses. Grey sah sich um und trat dann auf den Rasen, wobei er sich furchtbar beobachtet fühlte, weil der Rasen so hell erleuchtet war wie eine Bühne. Kein Hund bellte, niemand rief ihn an, um zu erfahren, was er hier wollte, und doch bewegte er sich mit lautlosen Schritten vorsichtig über den vernachlässigten Rasen.
Die Fensterbänke befanden sich oberhalb seiner Augenhöhe. Irritiert sah er, dass Fraser, der geräuschlos hinter ihn getreten war, ins Innere des Hauses spähen konnte, wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte. Er reckte den Hals und trat von einem Fuß auf den anderen, um etwas sehen zu können – und erstarrte. Er sagte etwas, nicht nur laut, sondern zu allem Überfluss auch noch auf Gälisch. Aus seinem Tonfall und seiner deutlich sichtbaren Miene schloss Grey, dass es ein Fluch sein musste.
»Was seht Ihr denn?«, zischte er und zupfte Fraser ungeduldig am Ärmel. Der Schotte ließ sich auf die Fersen zurücksinken und starrte auf ihn hinunter.
»Es ist dieser kleine Gauner Twelvetrees«, sagte er. »Er geht Siverlys Papiere durch.«
Den zweiten Teil des Satzes hörte Grey kaum noch; er war schon auf dem Weg zur Eingangstür und erweckte ganz den Eindruck, als sei er bereit, sie einzutreten, wenn sie ihm auch nur den geringsten Widerstand leistete.
Das tat sie nicht. Auch diese Tür war nicht abgeschlossen, und er schob sie mit solcher Gewalt auf, dass sie gegen die Wand der Eingangshalle krachte. Gleichzeitig mit diesem Geräusch erklang ein erschrockener Aufschrei in der Bibliothek, und Grey stürmte durch die offene Tür, aus der das Licht fiel. Er nahm kaum wahr, dass ihm Fraser dicht auf dem Fuße folgte und in drängendem Ton sagte: »Ich hole Euch nicht noch einmal aus dieser vermaledeiten Burg heraus, vergesst das ja nicht!«
Es folgte ein noch lauterer Aufschrei, als er in die Bibliothek platzte, wo Edward Twelvetrees neben dem Kaminsims hockte und mit beiden Händen das Schüreisen umklammerte wie einen Kricketschläger.
»Legt das weg, Schwachkopf!«, sagte Grey und blieb gerade außerhalb der Reichweite des Schüreisens stehen. »Was zum Teufel macht Ihr hier?«
Twelvetrees richtete sich auf, und seine Miene verwandelte sich von Alarmbereitschaft in Entrüstung.
»Was zum Teufel macht Ihr denn hier, Ihr gemeiner Bösewicht?«
Fraser lachte, und Grey und Twelvetrees sahen ihn finster an.
»Verzeihung, die Herren«, sagte er geduldig, obwohl sein breites Gesicht immer noch belustigt wirkte. Er winkte mit den Fingern wie jemand, der ein kleines Kind drängt, einen betagten Verwandten zu begrüßen. »Fahrt nur fort. Kümmert Euch gar nicht um mich.«
Jamie sah sich um, hob einen kleinen Armsessel auf, den Grey bei seinem überstürzten Eintreten umgeworfen hatte, und setzte sich mit einer Miene zufriedener Erwartung darauf.
Twelvetrees’ Blick funkelte zwischen Grey und Fraser hin und her, doch ein Hauch von Unsicherheit stahl sich in sein Gesicht. Er sah verdattert aus wie eine Ratte, der man die Käserinde stibitzt hat, und auch Grey verkniff sich trotz seiner Wut das Lachen.
»Ich wiederhole«, wiederholte er gelassener, »was macht Ihr hier?«
Twelvetrees legte seine Waffe nieder, doch an seiner feindseligen Haltung änderte sich nichts.
»Und ich wiederhole – was macht Ihr denn hier? Wie könnt Ihr es wagen, das Haus des Mannes zu betreten, den Ihr so brutal ermordet habt?«
Grey blinzelte. Während der letzten Stunden war er so vom Zauber der monderhellten Nacht gefangen gewesen, dass er ganz vergessen hatte, dass er ein Gesetzloser war.
»Ich habe Major Siverly nicht ermordet«, sagte er. »Ich wüsste allerdings sehr gern, wer es gewesen ist. Wart Ihr es?«
Twelvetrees klappte der Mund auf. »Alter … Mistkerl!«, sagte er. Er griff wieder nach dem Schüreisen und zielte damit nach Greys Schädel.
Grey packte ihn mit beiden Händen am Handgelenk, und es gelang ihm, den Mann aus dem Gleichgewicht zu bringen, als er zum Sprung ansetzte, so dass Twelvetrees schwankte und stolperte, dann jedoch stehen blieb und Grey den freien Ellbogen ins Gesicht rammte.
Mit tränenden Augen wich Grey einem tollkühnen Hieb des Schüreisens aus, sprang zurück und blieb mit dem Absatz an einer Teppichkante hängen. Jetzt stolperte er ebenfalls, und Twelvetrees hieb mit einem triumphierenden Grunzlaut nach seiner Taille.
Er traf zwar nicht richtig, aber Grey blieb dennoch die Luft weg, und er setzte sich abrupt auf den Boden. Unfähig zu atmen, wälzte er sich zur Seite, um einem weiteren Hieb auszuweichen, der scheppernd an den Schieferplatten des Kamins abprallte. Dann packte er Twelvetrees am Knöchel und zog, so fest er konnte. Mit einem Aufschrei fiel der andere Mann rückwärts um, und das Schüreisen flog durch die Luft und zerschmetterte eins der Fenster.
Twelvetrees schien vorübergehend betäubt zu sein, da er sich den Kopf am Kaminsims gestoßen hatte. Er lag mit ausgestreckten Armen und Beinen auf der Kaminplatte, die Hand gefährlich nah an den Flammen des ungeschützten Feuers. Mit einem Keuchlaut fand Grey wieder zu Atem und lag reglos da, während er Luft holte. Durch die Bodendielen spürte er die Vibrationen kräftiger Schritte, und nachdem er sich mit dem Ärmel über das nasse Gesicht gewischt hatte – gottverdammt, der Schuft hatte ihm eine blutige Nase verpasst; er hoffte, dass sie nicht gebrochen war –, sah er, wie Fraser vorsichtig die Hand ausstreckte und Twelvetrees aus der Nähe des Feuers zog. Dann runzelte Fraser die Stirn, erhob sich rasch, griff nach der Ascheschaufel und hob eine qualmende Masse von Papieren aus dem Kamin, die er hastig auf dem Boden verstreute. Dabei ergriff er jene Blätter, die noch kein Feuer gefangen hatten, und trennte sie von dem Klumpen brennender Seiten. Er riss sich den Rock vom Leib und warf ihn über die halb verkohlten Papiere, um die Funken zu ersticken.
Twelvetrees stieß einen leisen Protestlaut aus und griff nach den Papieren, doch Fraser schleifte ihn hoch und setzte ihn mit Nachdruck auf eine Bank, die mit blau-weiß gestreifter Seide gepolstert war. Er sah sich nach Grey um, als wollte er sich erkundigen, ob dieser ähnlichen Beistand benötigte.
Grey schüttelte den Kopf und erhob sich umständlich. Leise keuchend, eine Hand auf seine Rippen gepresst, humpelte er zu dem Sessel hinüber.
»Ihr hättet mir ruhig helfen können«, sagte er zu Fraser.
»Ihr seid doch bestens allein zurechtgekommen«, versicherte Fraser ihm ernst, und Grey musste zu seiner Verlegenheit feststellen, dass ihn dieses Lob extrem freute. Er hustete und wischte sich die Nase vorsichtig am Ärmel ab, was eine lange Blutspur hinterließ.
Twelvetrees stöhnte und hob mit benommener Miene den Kopf.
»Das darf ich … dann wohl … als Nein auffassen … ja?«, brachte Grey heraus. »Ihr sagt, Ihr habt Major Siverly nicht umgebracht?«
»Nein«, antwortete Twelvetrees mit ausdrucksloser Miene. Dann fand er den Verstand wieder, und sein Blick richtete sich mit einem Ausdruck extremer Abneigung auf Grey.
»Nein«, wiederholte er, diesmal schärfer. »Natürlich habe ich Gerald Siverly nicht umgebracht. Was für ein hanebüchener Unfug ist das?«
Grey dachte kurz daran, sich zu erkundigen, ob es mehr als eine Sorte hanebüchenen Unfugs gab und falls ja, wie die Kategorien lauteten, doch er überlegte es sich anders und ignorierte die Frage als rhetorisch. Bevor er seine nächste Frage formulieren konnte, fiel ihm auf, dass Fraser in aller Seelenruhe damit beschäftigt war, die Papiere auf dem Schreibtisch durchzugehen.
»Legt das hin!«, bellte Twelvetrees und erhob sich schwankend. »Hört sofort auf damit!«
Fraser blickte mit hochgezogener Augenbraue zu ihm auf.
»Wie wollt Ihr mich daran hindern?«
Twelvetrees schlug sich an die Taille, wie es Männer tun, die gewöhnlich ein Schwert tragen. Dann setzte er sich langsam wieder hin. Er hatte begriffen, dass es sinnlos war.
»Ihr habt kein Recht, diese Papiere zu untersuchen«, sagte er zu Grey, ruhig im Vergleich zu seinen anfänglichen Ausbrüchen. »Ihr seid ein Mörder und offenbar auch ein entkommener Gesetzloser – denn ich darf doch bezweifeln, dass man Euch offiziell entlassen hat?«
Grey begriff, dass diese Worte sarkastisch gemeint waren, und würdigte sie keiner Antwort. »Mit welchem Recht habt Ihr sie denn untersucht, wenn ich fragen darf?«
»Mit gutem Recht«, erwiderte Twelvetrees prompt. »Ich bin Gerald Siverlys Nachlassverwalter und habe den Auftrag, mich um die Begleichung seiner Schulden und die Verteilung seines Eigentums zu kümmern.«
Nimm das, du Schuft, fügte seine Miene hinzu. Grey war tatsächlich verblüfft über diese Enthüllung.
»Gerald Siverly war mein Freund«, fügte Twelvetrees hinzu, und seine Lippen pressten sich kurz aufeinander. »Mein ganz persönlicher Freund.«
Das hatte Grey schon von Harry Quarry gewusst, doch er war nicht auf den Gedanken gekommen, dass Twelvetrees Siverly so nahe stand, dass er zum Nachlassverwalter ernannt wurde. Hatte Siverly denn keine Verwandten außer seiner Frau?
Und wenn ihm Twelvetrees so nahestand – was wusste er über Siverlys Treiben?
Was auch immer es war, er hatte offenbar nicht vor, es Grey anzuvertrauen. John erhob sich, wobei er sich tapfer bemühte, in der verräucherten Luft nicht zu keuchen. Er schritt zum Erkerfenster hinüber und warf den Deckel der Deckentruhe zurück. Die eisenbeschlagene Truhe war fort.
»Was habt Ihr mit dem Geld gemacht?«, wollte er wissen und fuhr wieder zu Twelvetrees herum. Der Mann funkelte ihn hasserfüllt an.
»Bedaure«, fauchte er verächtlich. »Es ist an einem Ort, an dem Ihr es nie in Eure Diebesfinger bekommen werdet.«
Jamie war dabei, die halb verkohlten Blätter aufzusammeln, die er vor dem Feuer gerettet hatte. Er behandelte sie äußerst vorsichtig, doch bei diesen Worten sah er auf und blickte von Twelvetrees zu Grey.
»Soll ich das Haus durchsuchen?«
Greys Blick war auf Twelvetrees gerichtet, und er sah, wie sich die Nasenlöcher des Mannes weiteten und er angewidert den Mund verzog – doch in seinen rot geränderten Augen war keine Spur von Nervosität oder Angst zu sehen.
»Nein«, sagte Jamie und sprach aus, was Grey dachte. »Er hat recht; er hat es schon abtransportiert.«
»Ihr macht Euch wirklich gut als Gesetzloser«, sagte Grey trocken.
»Aye, nun ja. Ich habe Übung darin.« Der Schotte hielt eine kleine Ansammlung angesengter Papiere in der Hand. Vorsichtig zog er eines davon heraus und reichte es Grey.
»Ich denke, das ist das Einzige, was von Interesse ist, Mylord.«
Es war eine andere Handschrift, doch Grey erkannte sofort, was es war. Es war das Gedicht von der Wilden Jagd – und er fragte sich, wo zum Teufel der Rest war; warum nur diese eine, angesengte und mit Asche verschmierte Seite?
»Warum …«, begann er, doch dann sah er, wie Fraser mit dem Kinn ruckte, und drehte das Blatt um. Er hörte, wie Twelvetrees zischend einatmete, doch er beachtete ihn nicht.
Die Wilde Jagd
Ronald Dougan
Wm. Scarry Spender
Robert Wilson Bishop
Fordham O’Toole
Èamonn Ò Chriadh
Patrick Bannion Laverty
Grey pfiff leise durch die Zähne. Er kannte zwar keinen der Namen auf der Liste, doch er konnte sich denken, was das war – ein Gedanke, der durch den Ausdruck der Rage in Twelvetrees’ Gesicht bestätigt wurde. Er würde nicht mit völlig leeren Händen zu Hal zurückkehren.
Wenn er sich nicht irrte, war das, was er in der Hand hatte, eine Liste von Verschwörern, mit ziemlicher Sicherheit irische Jakobiten. Irgendjemand – war es Fraser gewesen oder er selbst? – hatte ja schon vermutet, dass das Gedicht von der Wilden Jagd ein Erkennungszeichen war. Damals hatte er sich gefragt, ein Zeichen für wen? Hier war seine Antwort – zumindest ein Teil davon. Männer, die einander nicht persönlich kannten, würden andere Mitglieder ihrer Gruppe erkennen, indem sie ihnen das Gedicht zeigten – oberflächlich betrachtet ein paar unfertige, unschuldige Verse, in Wirklichkeit jedoch ein Code, den alle lesen konnten, die den Schlüssel besaßen.
Fraser nickte beiläufig in Twelvetrees’ Richtung. »Möchtet Ihr, dass ich irgendetwas aus ihm herausprügele?«
Twelvetrees riss die Augen auf. Grey hätte trotz allem am liebsten gelacht, tat es aber nicht.
»Die Versuchung ist groß«, sagte er. »Doch ich bezweifle, dass sich das Experiment als produktiv erweisen würde. Haltet ihn nur bitte hier fest, während ich mich rasch umsehe.«
Er konnte an Twelvetrees’ mürrischer Miene sehen, dass im Haus nichts mehr zu finden war, doch der Form halber durchsuchte er den Schreibtisch und die Bücherregale und unternahm mit einer Kerze einen kurzen Abstecher nach oben, für den Fall, dass Siverly etwas Geheimes in seinem Schlafzimmer aufbewahrt hatte.
Es bedrückte ihn zutiefst, durch das leere, dunkle Haus zu schreiten, und er fühlte sich beinahe traurig, als er im Gemach des Toten stand. Die Dienstboten hatten das Bett abgezogen, die Matratze zusammengerollt und die Möbelstücke mit Staubhüllen bedeckt. Der Schein der Kerze, der sich über die Damasttapete bewegte, war das einzige Lebenszeichen.
Er fühlte sich merkwürdig leer, als sei er selbst ein Geist, der empfindungslos auf die Überreste seines Lebens schaute. Die Hitze und die Aufregung seiner Konfrontation mit Twelvetrees waren erloschen und hatten Mattigkeit hinterlassen. Es gab nichts mehr, was er hier tun konnte; er konnte Twelvetrees weder festnehmen noch Antworten von ihm erzwingen. Was auch immer sich sonst noch herausstellen würde; es blieb dabei, dass Siverly tot war und seine Verbrechen mit ihm.
»Und seine Heimat kennt ihn nicht mehr«, sagte er leise, und die Worte verhallten zwischen den schweigenden Umrissen der schlafenden Möbelstücke. Er wandte sich um und ging. Hinter der geöffneten Tür blieb nur Dunkelheit zurück.