Prolog
In welchem Max der Vampirkönigin gegenübertritt
Die Höhle der Vampirkönigin lag tief verborgen in den ver schneiten Gebirgszügen der Muntii Fagaras.
Der einzige Grund, warum Maximilian Pesaro sie überhaupt hatte aufspüren können, waren die beiden nicht verheilenden Bisswunden an seinem Hals, die Lilith selbst ihm zugefügt hatte.
Sie brannten und juckten, als er sich dem Höhleneingang näherte. Das Pochen ließ nie ganz nach, aber dennoch gab es Zeiten, in denen er es nur noch ganz schwach spürte, und in denen er beinahe vergessen konnte, dass er für immer an die Vampirkönigin gebunden war.
Sein Nacken fühlte sich an, als würde ein Eisblock auf ihn niederdrücken, doch lag das nicht an dem Winter, der außerhalb der Kaverne herrschte. Die im rumänischen Gebirge viel zu früh einsetzenden und zu lange anhaltenden Stürme und starken Schneefälle, die Max die Sicht nahmen, hatten nichts mit der Kälte zu tun, die ihm den Nacken versengte - nein, es lag daran, dass Vampire in der Nähe waren. Ihm als Venator signalisierte dieses Kälteempfinden die Gegenwart von Untoten.
Hierherzukommen war ebenso töricht wie tollkühn. Max war zwar noch nie ein törichter Mann gewesen - wenngleich er seine tollkühnen Momente hatte -, aber nach allem, was er in den letzten Monaten durchgemacht hatte, war er bereit, die Konsequenzen dieses Besuchs zu tragen. Vielleicht würde er nun sterben, trotzdem ging er das Risiko ein. Denn ebenso gut konnte er die Höhle als freier Mann verlassen.
Er hatte nur deshalb so tief ins Herz von Liliths Refugium vordringen können, weil er ihr Zeichen trug. Zwar hatte sie ihn damit versklavt, zugleich jedoch mit einem grotesken Schutz gegen die Untoten ausgestattet, die ihr Versteck bewachten.
Max passierte einen weiteren von Liliths Wächtervampiren, die sich durch ihre blassrubinfarbenen Augen und ihre speziellen Fangzähne, die bei Bedarf ein starkes Gift freisetzten, von den anderen Untoten unterschieden. Die Vampirfrau öffnete die schwere Holztür, die zu Liliths Privatkammer führte, dann trat sie zur Seite, um ihn einzulassen.
»Maximilian.« Liliths Stimme war ein Schnurren, und ihre blauen Augen mit den roten Rändern um die Iris funkelten gierig, als sie den Blick über seinen Körper gleiten ließ. »Ich glaube, dies ist das erste Mal, dass du aus eigenem Antrieb zu mir kommst. Was für eine freudige Überraschung.«
Ihr Unterschlupf lag eingelassen in die Tiefen des Berges, so weit wie möglich von der Sonne entfernt, die ihr die Haut vom Körper schälen würde. Ansonsten unterschied sich das Interieur durch nichts von jedem gut eingerichteten Haus in der zivilisierten Welt Londons, Roms oder Budapests. Nur dass es keine Fenster hatte.
Der große, hohe Raum war mit bequemen Sitzmöbeln ausgestattet. Die Tische, auf denen lose verstreut Pergamentrollen lagen, wurden von Lampen beleuchtet, und die Bänke waren mit gemütlichen Kissen gepolstert. Dicke Perserteppiche bedeckten den kalten Steinboden. An einer Wand hing eine riesige Tapisserie, die die Unsterblichmachung Judas Ischariots, des ersten echten Vampirs, darstellte. Eine weitere zeigte ihn dabei, wie er den Urvater aller Vampirjäger, den Venator Gardeleus, niedermetzelte.
Es war das erste Mal gewesen, dass ein Vampir einen Venator getötet hatte, wenn auch nicht, wie Max nun grimmig dachte, das letzte Mal. Zum Glück hatte es über die Jahrhunderte zahlreiche andere von Gardeleus abstammende Vampirjäger gegeben, die hier und da dem weit verzweigten Familienstammbaum entsprossen. Und dann waren da noch einige wenige wie Max, die kein Gardella-Blut in sich trugen, sondern den Beruf des Venators freiwillig gewählt und sich der Prüfung auf Leben oder Tod unterzogen hatten. Er hatte sie bestanden, und so war ihm die Ehre zuteil geworden, das heilige Stärkeamulett der Vampirjäger zu tragen: die vis bulla.
Trotzdem schützte es ihn nicht davor, von einem Vampir gebissen und selbst in einen verwandelt zu werden, wenngleich die Macht der vis bulla es dem Blut eines Vampirs erschwerte, einen Venator zu infizieren und ihn zu einem Untoten zu machen. Max war schon immer der Überzeugung gewesen, dass Gardeleus’ Schicksal dieser Alternative bei weitem vorzuziehen war.
Es war warm in der Kammer, und die Lampen sorgten für eine schummrige Beleuchtung. In einem Kamin, der sich über eine ganze lange Wand erstreckte, brannte ein großes Feuer, das schwarze und rote Schatten an die Mauern warf.
Lilith selbst lag wie hingegossen auf einer Chaiselongue, in ein durchscheinendes, eisblaues Gewand gehüllt, das ihre bleichen Füße und Arme unbedeckt ließ. Ihr rotes Haar, das so strahlend leuchtete, als würde es in Flammen stehen, fiel in sanften Wellen über ihre bleiche Haut und erinnerte Max an die kupferfarbenen Locken einer Medusa. Obwohl sie schon seit über tausend Jahren auf der Erde weilte, war Liliths Gesicht noch immer elfengleich schön, und sie besaß den Körper einer Dreißigjährigen. Ihre Pose wirkte entspannt, doch ein flüchtiger Blick in ihre gefährlichen Augen genügte, um diesen Eindruck Lügen zu strafen.
Max war froh, wenigstens das Überraschungsmoment auf seiner Seite zu haben.
Sobald sich die Tür hinter ihm schloss, trat er in die Mitte des Raums und blieb abwartend dort stehen, um seinen kleinen Vorteil weiter auszunutzen.
»Du bist nicht tot«, bemerkte Lilith, nachdem sich das Schweigen eine Weile in die Länge gezogen hatte.
Sie streckte ihren langen, geschmeidigen Körper, dann setzte sie sich auf. Beherrscht wie immer.
»Dann weißt du auch, dass ich Akvans Obelisken zerstört habe«, entgegnete Max. »Dass ich meinen Teil der Abmachung erfüllt habe, indem ich Nedas daran hinderte, sich seine Macht anzueignen.« Lilith hatte Nedas, den Sohn eines ihrer Vasallen im zehnten Jahrhundert, aufgezogen und ihn im Alter von zwanzig Jahren zu einem Untoten gemacht.
Als sie nun lächelte, blitzten ihre oberen Fangzähne auf. »Also deswegen bist du gekommen.«
Sie erhob sich und trat auf ihn zu. Max’ Bissmale begannen erneut zu brennen, und der Duft von Rosen hüllte ihn ein. Er fühlte, wie ihre süßliche, stickige Präsenz in ihn hineinsickerte und seine Atmung verlangsamte. Träger machte.
Obwohl er es vermied, ihr in die Augen zu sehen, spürte er tief unter seiner Haut den ersten Anflug eines Muskelzuckens.
»Du hast versprochen, mich von deinem Bann zu befreien, wenn ich deinen Auftrag durchführe.« Er atmete tief, bewusst gleichmäßig. »Allerdings hattest du wohl nicht damit gerechnet, dass es mir gelingen würde.«
Lilith neigte den Kopf zur Seite und musterte ihn mit durchtriebener Miene. »Ganz im Gegenteil, Maximilian. Ich war sicher, dass du es schaffen würdest. Tatsächlich hatte ich nicht den geringsten Zweifel daran. Denn schließlich -«, sie streckte die Hand aus und fuhr ihm mit einem langen Fingernagel über die Wange, »- sind es genau diese Eigenschaften, die ich so anziehend finde an dir. Deine Stärke, deine Entschlossenheit, deine Integrität.«
Max zuckte noch nicht einmal zusammen, als der tödlich scharfe Nagel eine dünne Linie in seine Haut ritzte. Sein Herzschlag war noch immer sein eigener, und auch wenn seine Kehle trocken war, fühlte er sich innerlich ruhig. Gern wäre er von ihr weggetreten, doch er tat es nicht. Er hatte sich Lilith schon früher gestellt; er würde sich ihr auch dieses Mal stellen.
Ihre Hand lag nun auf einer Seite seiner Brust, und sie standen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber - er und die Vampirkönigin, die so groß war wie er selbst, und deren Hand sein Hemd zu versengen schien. »Und das hier natürlich«, fügte sie hinzu und streichelte mit der Handfläche über seinen muskulösen Oberkörper. Mit der Berührung begann die Macht ihres Banns zu wirken, der versuchte, seine Atmung zu beherrschen, das Rasen seines Herzens, den Blutstrom in seinen Adern. Sein Verlangen.
»Wirst du dein Wort halten und mich freigeben?« Max schloss die Augen. Er wusste, dass es unklug gewesen war herzukommen, aber er hatte den Versuch einfach wagen müssen. Tatsächlich hatte er nichts mehr zu verlieren. Selbst Victoria gegenüber hatte er es zugeben müssen: Er glaubte nicht daran, dass Lilith ihn freilassen würde.
Sie berührte ihn nun mit beiden Händen, indem sie ihm flach die Arme hinauf und über die Schultern strich, bevor sie sie dann um die nackte Haut seines Halses wölbte. Max fühlte das leise, warme Tröpfeln von Blut auf der Wange, in die sie ihn geschnitten hatte, und dann die unerträgliche Nähe, als sie sich nach vorn beugte, um den geöffneten Mund auf das blutige Rinnsal entlang seiner Kinnlinie zu legen.
Der Rausch der Empfindungen, die dabei auf ihn einstürmten, ließ ihn taumeln. Ihre Lippen - eine kalt und fest, die andere warm und weich - liebkosten seine Haut und brachten seine Hände zum Zittern. Glatt und geschmeidig wanderten ihre Zähne über seinen Kiefer, bevor sie sanft an seinem Fleisch knabberten. Ihm stockte der Atem, und er musste sich zwingen, tief Luft zu holen, während er gleichzeitig spürte, wie ihm die Knie weich wurden und er weiter unten zu reagieren begann. Seine Lippen teilten sich, und er keuchte leise.
Als sie ihn küsste, schmeckte er sein eigenes Blut, und er erwiderte ihren Kuss. Unwillkürlich und gleichzeitig ganz bewusst.
Dann erinnerte er sich trotz der Benommenheit, die ihn umfing, plötzlich daran, wer er noch immer war. Es gelang ihm, die Hand zwischen ihren beiden Körpern nach oben zu schieben, wo sie Liliths Brust berührte, als er sie gegen sein Hemd presste. Er riss an den Bändern, dann schloss er die Finger um das winzige Silberkreuz, das von seinem Warzenhof hing.
Die Energie der vis bulla durchströmte ihn, und zum ersten Mal, seit Lilith sich ihm genähert hatte, konnte er wieder klar denken. Er löste den Mund von ihrem und trat zurück. Als ihr bewusst wurde, was geschehen war, riss sie sein Hemd auf, dann zuckte sie mit einem überraschten Aufschrei zurück.
»Also bist du bewaffnet gekommen.« Zuerst konnte sie ihn nicht ansehen, konnte den Anblick das großen, silbernen Kruzifixes, das an einer schweren Kette um seinen Hals hing, nicht ertragen. Unter seinem Hemd verborgen, war es die einzige Waffe gewesen, die er mit Ausnahme der vis bulla in ihren Schlupfwinkel hatte schmuggeln können. Es war zwar nicht so wirksam wie ein Eschenholzpflock, hatte aber dennoch den gewünschten Effekt.
»Ich bin nicht so dumm, unvorbereitet zu dir zu kommen.« Max’ Stimme war nun ruhiger, auch wenn sein Blut noch immer in Wallung und seine Brust wie zugeschnürt war. »Ich hätte einen Pflock bevorzugt, aber deine Wächtervampire wollten mich damit nicht einlassen. Ich habe es versucht.«
»Etwas anderes hätte ich auch nicht von dir erwartet, Maximilian.« Sie blieb auf Distanz, hielt die Augen leicht abgewandt, trotzdem war sie auf keinen Fall so angeschlagen, wie es ein weniger mächtiger Vampir gewesen wäre. Die Überraschung hatte sie zurückweichen lassen, aber der bloße Anblick des Kruzifixes reichte nicht aus, um einen Vampir ihres Formats auf Dauer abzuwehren. So wie sich die Augen an plötzliches Licht in der Dunkelheit gewöhnen, so würde sie schon bald wieder in der Lage sein, ihn anzusehen.
Trotzdem würde das große Silberkreuz sie davon abhalten, ihn zu berühren; oder zumindest daran hindern, ihn intensiv zu berühren. Außerdem verlieh ihm seine vis bulla - die aus dem Silber des Heiligen Landes geschmiedet und mit Weihwasser gesegnet worden war - die für einen Venator typische Schnelligkeit, Kraft und rasche Genesungsfähigkeit. Wenngleich auch nichts davon Lilith in irgendeiner Weise gefährlich werden konnte.
Als sie ihn nun mit zusammengekniffenen Augen wieder anschaute, schien sie den Blick auf seine halb entblößte Brust zu fokussieren. »Das ist nicht deine eigene vis bulla«, stellte sie plötzlich fest.
Max starrte sie wortlos an.
»Du bist überrascht, dass es mir aufgefallen ist. Aber warum denn, Maximilian? Mir entgeht nichts an dir.« Ihre Stimme war wieder ein Schnurren, und trotz des handgroßen Kruzifixes um seinen Hals trat sie erneut auf ihn zu. »Die hier ist anders. Sie ist kleiner.«
»Aber nicht weniger machtvoll.« Lilith hatte Recht. Er hatte seine vis bulla einen Monat zuvor Victoria gegeben und war in den Straßen Roms untergetaucht. Als er sich dann später zu dieser wahnwitzigen Reise entschloss, hatte er sie durch eine andere ersetzt, eine, die nicht ihm selbst gehörte.
»Ja, davon gehe ich aus. Aber dennoch.« Ihre Augen wurden wieder schmal, als sie versuchte, seinen Blick einzufangen, aber Max ging ihr nicht ins Netz. »Du bist nicht tot, dafür trägst du die vis bulla eines anderen«, sinnierte sie. »Und du verlangst, dass ich mich deinem Wunsch beuge. Du faszinierst mich über alle Maßen, Maximilian. Bist du ganz sicher, dass du nicht hier bei mir bleiben willst? Für immer?«
»Ich verspüre kein Verlangen nach Unsterblichkeit.«
»Es gab eine Zeit, da hast du anders darüber gedacht.«
»Das stimmt. Vor vielen, vielen Jahren.« Das war die ungeschönte Wahrheit. Aber Max hatte gelernt, mit seinen Entscheidungen zu leben.
»So lange ist es gar nicht her. Höchstens fünfzehn oder sechzehn Jahre. Und die letzten zwölf Monate hast du im Kreise der Tutela verbracht. Hat das kein neues Verlangen in dir geweckt?«
Das Zeichen der Tutela war ihm in sein Schulterblatt gebrannt worden, als er ein naiver, sechzehnjähriger Jüngling gewesen war und törichterweise beschlossen hatte, sich der Geheimgesellschaft und ihrer Sache zu verpflichten - mit anderen Worten: in der Hoffnung auf Macht und Unsterblichkeit den Vampiren zu dienen und sie zu beschützen. Nun schien die Tätowierung des sich krümmenden Hundes unablässig auf seiner Haut zu jucken, und Max dachte, wie passend das Symbol gewählt worden war. Denn nichts anderes stellte die Tutela dar: Sie waren Sterbliche, die als hündische Sklaven und Huren der Untoten fungierten.
Das letzte Jahr, als er wieder innerhalb der Tutela gelebt hatte, war für ihn die Hölle auf Erden gewesen. Max hatte nicht nur vortäuschen müssen, einer von ihnen zu sein und wie sie nach Macht und Unsterblichkeit zu streben, während er gleichzeitig vor dem Vampir Nedas katzbuckelte. Er war außerdem gezwungen gewesen, die Scharade einer Verlobung mit Sarafina aufrechtzuerhalten, der Tochter des Conte Regalado, seines Zeichens Anführer der Tutela.
»Ich habe getan, was du verlangt hast. Du hattest versprochen, mich im Gegenzug freizugeben, sobald ich deinen Auftrag erfolgreich ausgeführt hätte. Nun bin ich gekommen, damit du dein Versprechen einlöst.«
»Und was ist mit der Frau, die du liebst? Du hast sie verlassen?«
Max hob fragend die Brauen, erwiderte jedoch nichts.
»Dieses Mädchen, das du heiraten wolltest. Muss ich eifersüchtig auf sie sein? Ist sie der Grund, weshalb du frei sein willst?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass du auf eine Sterbliche eifersüchtig sein würdest.«
»Ihr Vater ist mittlerweile ein Vampir, und es ist sehr gut möglich, dass er sie zu seinesgleichen macht.«
»Aber sie wird jung und schwach sein.«
»Das ist wahr.« Lilith betrachtete sein Gesicht, dann streckte sie die Hand aus und berührte seinen Arm. »Ich kann dich nicht gehen lassen, Maximilian, mein Venatoren-Schoßhündchen.«
»Dann hast du also gelogen.« Er hatte es gewusst, hatte gewusst, dass sie ihn nicht freigeben würde. »Ich habe deine Forderung erfüllt, aber du hast nie auch nur daran gedacht, dein Versprechen einzulösen.«
»Nun komm schon, Maximilian. Du weißt doch selbst, dass die Geheimnisse, in die ich dich eingeweiht habe, all das Wissen, das dich dazu befähigte, Akvans Obelisken zu zerstören, ebenso sehr zu deinem Vorteil - und dem deiner Rasse - waren wie zu meinem. Ich würde nicht behaupten, dass du bei unserem Handel schlecht weggekommen bist.«
Bitterkeit stieg in ihm hoch. Ja, nur zu welchen Handlungen er gezwungen gewesen war, um Liliths Wünsche zu erfüllen, um Rom und die Welt vor der heimtückischen Macht des Obelisken zu retten … er hatte Eustacia hinrichten und ihr selbstloses Opfer akzeptieren müssen, indem er vor Nedas’ Augen eigenhändig das Schwert gegen sie führte. Es war der einzige Weg gewesen, der Tutela seine Ergebenheit zu beweisen, die einzige Möglichkeit, nahe genug an den Obelisken heranzukommen, um ihn vernichten zu können.
Und dann war da noch Victoria. Sie war Zeugin seiner Tat geworden und würde ihm niemals vergeben.
Natürlich hatte er das einzig Richtige getan, aber es war abscheulich gewesen. Herzzerreißend.
Und das war der Grund, warum er seine vis bulla abgelegt und Victoria und den Venatoren den Rücken gekehrt hatte. Und warum er so kühn gewesen war hierherzukommen.
Er mochte ein Held sein, aber es war eine grauenhafte Form des Heldentums.
»Ach, Maximilian.« Lilith berührte ihn nun wieder und vergrub die Finger in seinem Haar, das ihm bis auf die Schultern reichte, sodass ihm kleine Schauder über die Kopfhaut jagten. »Ich mag es, wenn es so lang ist. Es lässt dich so viel wilder aussehen. Du würdest einen prächtigen Vampir abgeben.«
Er schloss die Augen. Wartete. Ignorierte das Rauschen in seinen Venen, das hartnäckige Bewusstsein ihres Sogs, das Zittern seiner Finger. Den unerträglichen Geruch nach Rosen, den die scheußliche Kreatur verströmte. Die Reaktion seines Körpers auf den ihren und das Wissen, dass dieses Begehren nicht nur von ihren Bissen kam.
»Ich werde niemals dein Blut trinken.«
Lilith seufzte an seinem Ohr, doch ihr Atem roch nicht faulig, wie man es von einer Untoten erwarten würde; stattdessen haftete ihm dieselbe blumige Note an wie dem Rest ihres Körpers. Aber natürlich hatte sie auch nicht gerade kurz zuvor Blut getrunken. »Und das, mein Schoßhündchen, ist für mich die Enttäuschung des Jahrhunderts. Na schön, Maximilian, so ungern ich es auch tue, ich werde meinen Bann von dir nehmen.«
Sie ließ ihn los, und er öffnete die Augen. Argwöhnisch.
Als Lilith von ihm wegtrat, wirkte sie beinahe fröhlich. »Ich werde dich freigeben. Es gibt da eine Salbe, einen Balsam für deine Bisse … meine Bisse«, fügte sie hinzu, wobei ihre blau-roten Augen wieder schmal wurden. »Es wird sie dauerhaft heilen. Wir werden nicht länger aneinander gebunden sein.«
»Und weiter?«
Ihr Lächeln erreichte ihre Augen, doch ihre Lippen blieben davon fast unberührt. »Mit dem Verschwinden meiner Zeichen an dir wird auch deine Überlegenheit als Venator der Vergangenheit angehören. Die vis bulla wird dir nichts mehr nützen. Du wirst die Angehörigen meiner Rasse nicht länger erkennen können.«
Max war aus freien Stücken Venator geworden; er konnte dieselbe Entscheidung noch einmal treffen. Er würde sich ein weiteres Mal der Prüfung auf Leben und Tod unterziehen und sich all die Fähigkeiten zurückholen, die er verloren hätte.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen - vielleicht tat sie das tatsächlich mit derselben Leichtigkeit, mit der sie auch die leisesten Veränderungen an ihm bemerkte -, fuhr Lilith fort: »Doch bedenke, dass meine Bisse, die du so sehr verachtest, dich und dein Blut vergiftet haben. Du stammst nicht von den Gardellas ab. Deshalb wirst du den Test nicht ein weiteres Mal bestehen können, um deine Fähigkeiten zurückzuerlangen. Aber keine Sorge: Du wirst nicht nur deine Macht, sondern auch jede Erinnerung an unsere gemeinsamen Zeiten, an deine Zeit als Venator verlieren. Es wird alles von dir genommen werden.«
»Ich werde dann nichts mehr von Venatoren oder Vampiren wissen?«
»Nein. Du wirst mit Ahnungslosigkeit gesegnet sein.«
Er konnte vergessen, was geschehen war. Ein normales Leben führen.
»Du hast deine Pflicht erfüllt, Maximilian. Mehr als das. Du hast alles getan, was von dir verlangt wurde. Ich werde dich natürlich vermissen...«
Dann begriff er. »Und anschließend könntest du mich einfach wie einen reifen Pfirsich pflücken.«
»Aber nein, Maximilian. Du wärst dann wie jeder andere sterbliche Mann. Keine Herausforderung mehr. Keine aufregende Mischung aus Wonne -«, sie streichelte über seine Wange, »- und Schmerz.« Ihre Hand glitt unter sein Hemd und strich über seine vis bulla, bevor die qualvolle Empfindung sie mit einem atemlosen Lachen zurückzucken ließ. »Ich hätte dann kein Interesse mehr an dir.«
Sein Herz hämmerte. »Warum nicht?«
Lilith legte ihm beide Hände an die Brust. »Ich würde dann nicht länger gegen meine größte Bedrohung kämpfen müssen: gegen dich, den Venator.«
Er packte ihre Handgelenke - es war das erste Mal, dass er sie aus eigenem Antrieb anfasste - und stieß sie von sich.
»Was also wählst du, Maximilian? Ein Leben in Freiheit und Unwissenheit oder deine vis bulla und mich?«