Kapitel 13
In welchem unsere Heldin eine
überraschende Entdeckung macht
Ein verärgerter Ausdruck
zuckte über Sebastians Gesicht, dann verschwand er so schnell, wie
er gekommen war. Als er von dem Brunnen wegtrat, prangte auf seinem
leichten Hemd der Abdruck seiner nassen Hand.
»Du bist viel früher zurückgekehrt, als ich
erwartet hatte.« Wie schnell er sich von seinem Schock erholt
hatte, bewies das neckische Lächeln, das er ihr nun schenkte. »Ich
hätte vielleicht ein wenig länger warten sollen, bevor ich hier
herunterkam; allerdings kann ich nicht gerade behaupten, dass ich
es bedaure, dich nun endlich allein zu treffen. Schließlich war die
letzte Nacht im Kerker zusammen mit Maximilian wohl kaum -«
»Antworte mir, Sebastian.« Victorias Herz begann
überlaut zu pochen, und ihre bloße Überraschung wich blinder Panik,
als sie mit einem Mal realisierte, was seine Anwesenheit bedeutete.
Ihr Mund war so trocken geworden wie eine Erbse in der Sonne; ihre
Finger zitterten, und Übelkeit krampfte ihr den Magen zusammen. Wie
war das möglich? »Sag mir, dass du deinen
Großvater nicht hierher gebracht hast«, flüsterte sie mit einer
Stimme, die ihr nicht zu gehören schien, während sie noch immer
versuchte, mit ihrem schrecklichen Verdacht fertig zu werden. Er
konnte das nicht getan haben.
Das Konsilium, ihr sicherer, geheimer Hafen, war
entdeckt worden.
Nein. Nicht unter ihrer Aufsicht. Nicht nach
zwei Jahrtausenden der Geheimhaltung.
Nein.
Victoria fühlte, wie Angst und Zorn - Regungen,
die sie unter Kontrolle zu halten versucht hatte - sie nun
übermannten und jeden klaren Gedanken vernebelten, während sie an
Sebastian vorbeistürzte, um zu dem Lagerraum - und zu Wayrens
Bibliothek - zu gelangen, bevor ihre Schätze geplündert werden
konnten.
Sein spitzbübisches Lächeln verschwand. »Ich bin
alleine hier.« Sein leiser, angespannter Tonfall ließ sie
innehalten. »Ich würde doch niemals -«
Ihre Panik flaute gerade weit genug ab, dass
ihre Stimme wieder selbstsicher klang, als sie fauchte: »Du würdest
was niemals? Unseren Zufluchtsort ausspionieren? Wie hast du von
ihm erfahren? Sag mir die Wahrheit!«
Aber nein, natürlich war Beauregard nicht hier,
wurde ihr nun, als ihr Verstand wieder zu arbeiten begann,
verspätet klar. Sie hätte ihn im selben Moment gewittert, als sie
die Santo Quirinus betreten hatte. Das zumindest war eine gute
Nachricht.
Die Augen von dem sanften Lichtschein
verdunkelt, der seine goldblonden Locken von hinten beleuchtete und
ihm
ein absurd heiliges Aussehen verlieh, starrte Sebastian sie an. Er
schien darauf zu warten, dass sie etwas sagte.
Seine Brust hob und senkte sich in gleichmäßigem
Rhythmus, aber die spürbare Anspannung zwischen ihnen machte
Victoria unruhig und unwillig, seine Scharade des Schweigens
mitzuspielen. »Antworte mir, Sebastian. Oder verrate mir zumindest,
wie du von diesem Ort erfahren hast und wie du ihn ausgerechnet
während meiner Wache entdecken konntest.«
Er kam auf sie zu. »Hab keine Angst, ma chère. Dein Geheimnis ist bei mir sicher. Ich
weiß schon ziemlich lange von diesen unterirdischen Kammern, aber
ich habe bisher niemandem davon erzählt.«
Ein schiefes Grinsen teilte seine Lippen, als er
nach ihren Schultern griff und mit den Knöcheln über ihr
Schlüsselbein streichelte, bevor er die Finger locker um ihren
Nacken legte. »Weißt du denn noch immer nicht, dass ich niemals
etwas tun würde, das dich in Gefahr bringen könnte? Aber da wir nun
schon einmal hier sind und es unwahrscheinlich ist, dass man uns
stören wird, vielleicht fallen uns da noch ein paar andere Dinge
ein, die wir tun könnten. Dinge, die zumindest ich sehr vermisst
habe.« Sein träges, sinnliches Lächeln spiegelte den Ausdruck
seiner Augen wider - einen Ausdruck, den sie schon mehr als einmal
an ihm gesehen hatte. Trotz ihrer Wut und Verwirrung verfehlte das
Verlangen in seinem Blick nicht seine Wirkung auf sie, sodass sich
nun ein wohliges Kribbeln in ihrem Bauch ausbreitete. »Immerhin
hast du mich gesucht, Victoria.«
»Es war reine Notwendigkeit, Sebastian.«
»Dann möchtest du mir jetzt vielleicht auch
sagen, was für
eine Notwendigkeit dich getrieben hat, meinen Großvater zu küssen,
nur um mir eine Nachricht zu schicken?« In seinen Worten lag eine
unüberhörbare Schärfe.
Victoria schob seine Hand weg, bevor er sie um
ihre Schulter legen konnte. »Bemüh dich gar nicht erst, den
eifersüchtigen Liebhaber zu mimen, Sebastian. Damit schlägst du den
falschen Ton an. Und der Grund, weshalb ich mit dir sprechen muss,
ist meine Tante. Du musst gesehen haben, wie sie … wie sie …«
Verdammt. Ihre Stimme war heiser, und in
ihren Augen sammelten sich Tränen. »Du hast mir ihre vis bulla geschickt. Aber es gab da noch ein
Armband, das sie immer trug. Es ist wirklich sehr wichtig. Hast du
es gesehen, als …«
»Aus Silber? Weit oben an ihrem Arm?«, fragte
er. »Ja, das habe ich auch an mich genommen. Es war ihr einziger
Schmuck, und gleichzeitig das Einzige, das ich sonst noch für sie
tun konnte.«
»Wo ist es? Was hast du damit gemacht?«
»Mir war nicht klar, dass es eine so große
Bedeutung für dich hat. Es ist … ich habe es hier versteckt, damit
niemand … es klemmt hinter Catherine Gardellas Porträt.
Offensichtlich hatte die Dame ein Faible für Schmuck.«
Eine Welle der Erleichterung durchflutete
Victoria, dicht gefolgt von einem Gefühl leiser Verärgerung. »Aber
warum hast du es mir nicht zusammen mit ihrer vis bulla geschickt?«
Er wandte kurz den Blick ab, dann richtete er
ihn mit einem Hauch von Beschämung in der Miene wieder auf sie.
»Ich dachte, dass es nicht dasselbe … Flair hätte, wenn ich beides
auf einmal schicken würde. Die vis bulla -
nun ja, sie war ein wenig intimer.« Ein leises Lächeln umspielte
seine Mundwinkel.
Dann fiel der letzte Rest von Verlegenheit von
ihm ab, und er griff wieder nach ihr; dieses Mal gelang es ihm,
beide Hände um Victorias Oberarme zu legen. »Und außerdem: Was
wäre, wenn ich einen Grund gebraucht hätte, um wieder mit dir in
Kontakt zu treten?«, murmelte er und zog sie dabei so eng an sich,
dass ihre Röcke gegen seine Hose streiften. »Ich bin niemand, der
sein Blatt immer sofort ausspielt.«
Sein Griff war fest, überraschend fest. Victoria
war versucht, ihm einen Stoß zu versetzen, sodass er rücklings auf
dem Steinboden landete und sich bei seinem Sturz hoffentlich den
Kopf an einem der Tische anschlug, doch gleichzeitig stellte sie
fest, dass sie den Blick nicht von seinen Lippen nehmen konnte. Sie
waren so nah, und sie erinnerte sich nur allzu gut daran, wie es
sich anfühlte, wenn sie sinnlich über ihre glitten. Warm und flink,
raffiniert und verführerisch.
Vielleicht wäre es sogar von Vorteil, ihn
gewähren zu lassen. Vorteilhaft und voller Wonne … anschließend
könnten sie dann wieder zu den wichtigeren Themen übergehen.
Aber offensichtlich hatte Sebastian
ausnahmsweise andere Pläne, denn der aufreizende Ausdruck
verschwand von seinem Gesicht, und er wurde plötzlich ganz ernst,
als wäre ihm gerade etwas Wichtiges eingefallen. »Victoria, du
musst sehr vorsichtig sein. Er hat keinen Zweifel daran gelassen,
dass er dich für sich selbst will.« Sebastian blieb auf Abstand,
während er sprach; allerdings machte er den Eindruck, als könnte
sich das jeden Moment ändern.
Zuerst wusste Victoria nicht, wen er meinte. Sie
nahm den Blick von seinem Mund und sah ihm in die Augen.
»Beauregard«, erklärte Sebastian mit gepresster
Stimme, der
nichts mehr von ihrer typischen Leichtigkeit anhaftete. »Ich
spreche von Beauregard. Obwohl man sich erzählt, dass du keine Zeit
verloren hast, dich auch mit harmloseren Männern einzulassen. Wie
zum Beispiel diesem rothaarigen Schotten.«
Nun versetzte sie ihm doch noch einen Stoß gegen
seine muskulöse Brust; Sebastian ließ sie los und stolperte einen
Schritt nach hinten, blieb dabei jedoch mühelos auf den Beinen. »Du
mimst tatsächlich den eifersüchtigen Liebhaber. Wie kann das sein,
Sebastian, nachdem du in all den Monaten doch gar nicht mehr mein
Liebhaber warst? Nachdem sich die Sache zwischen uns am Ende doch
nur als kurzes Strohfeuer entpuppt hat?«
Die Verärgerung in seinen Zügen wich einem
wissenden Lächeln. »Also hast du mich tatsächlich vermisst.«
Triumph spiegelte sich in seinen bernsteinfarbenen Augen wider, als
er jetzt zum dritten Mal nach ihr fasste.
Dieses Mal ließ sie zu, dass er sie an sich
drückte, sodass sie Brust an Brust, Schenkel an Schenkel
aneinandergeschmiegt dastanden und selbst ihre Füße sich berührten.
Wärme überzog ihre Haut und wanderte von ihrem Gesicht zu ihrem
Hals und dann weiter nach unten. Es war gut, ihn wieder zu spüren,
die Hitze und kraftvolle Umarmung eines männlichen Körpers zu
fühlen.
»Wohl kaum.« Sie wussten beide, dass sie
log.
Sie hätte ihn nicht vermissen sollen - sie
konnte ihm nicht vertrauen, denn seine Loyalität gehörte Beauregard
-, aber sie hatte ihn vermisst, und sie
vertraute ihm … in gewisser Hinsicht. Es
war zwar nicht so, als ob er je ein Ersatz sein konnte für Phillip
und die Liebe und Wertschätzung, die sie für so kurze Zeit geteilt
hatten, aber sie war eben auch nur ein Mensch.
Und sie war eine Frau. Eine Frau, die
verhätschelt von Melly und ihren Freundinnen aufgewachsen war, eine
Frau, die gerne berührt wurde und es genoss, daran erinnert zu
werden, dass sie begehrenswert war. Eine Frau, die eine Wahl
getroffen hatte und dadurch von normalen gesellschaftlichen
Konventionen isoliert worden war. Was sie zu einem Außenseiter
machte.
Sebastian weckte Gefühle in ihr. Er hatte Freude
in ein Leben gebracht, das einst einfach, heiter und angepasst
gewesen war, bevor Nüchternheit, Dunkelheit und Gewalt darin Einzug
gehalten hatten. Mit seinem unwiderstehlichen Charme und seinen
frechen Neckereien brachte er nicht nur ihr Herz dazu, schneller zu
schlagen, sondern er hatte ihren Körper auch aus seiner durch
Phillips Tod ausgelösten kummervollen Starre befreit. Selbst jetzt
spürte Victoria, als sie sich ansahen, Schmetterlinge im Bauch,
denn sie wusste, dass noch mehr folgen würde. Und sie war bereit
dafür. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen, als sie sich
vorstellte, wie seine Hände über ihre nackte Haut streicheln würden
…
»Glaube mir,Victoria, ich wollte mich nicht von
dir fernhalten.« Sein Mund schwebte vor ihrem, um seine Lippen
spielte ein verheißungsvolles Lächeln, und der Nelkenduft seines
Atems strich wie eine sanfte Brise über ihre Haut. »Ich wollte dich
lediglich beschützen.«
»Beschützen?« Sie legte den Kopf leicht in den
Nacken, um ihm direkt in die Augen zu sehen, und bemerkte sehr
wohl, dass ihre eigenen schmal waren vor Ärger. »Und vor was genau
wolltest du mich beschützen? Vor den Vampiren, die ich jede Nacht
jage? Das ist eine armselige Ausrede, mit der du ein
weiteres Mal den falschen Ton anschlägst. Kannst du nicht
ausnahmsweise einmal ehrlich sein?«
»Vor Beauregard.« Seine Stimme klang nun eisig,
und sein eben noch weicher, verführerischer Blick war hart
geworden. »Du hast ja keine Ahnung -«
»Ich kann auf mich selbst aufpassen.«
»Ich bin mir deiner venatorischen Fähigkeiten
vollkommen bewusst, nicht zuletzt, da du sie mir ja bei jeder
Gelegenheit in Erinnerung rufst - zusammen mit meinen eigenen
Unzulänglichkeiten.«
»Ich bin nun mal, wer ich bin. Erinnere dich an
das, was ich dir schon letzten Herbst gesagt habe: Ich habe meine
Wahl getroffen, und wenn du es nicht ertragen kannst, dass ich
stärker und schneller bin als du, dass ich nicht wie andere Frauen bin, die erwarten, dass die
Männer dieser Erde sich um sie kümmern, dann verschwinde aus meinem
Leben, Sebastian. Ich brauche dich nicht mehr, als du mich
brauchst.«
Plötzlich merkte sie, dass sie weinte. Lieber Himmel, sie weinte! Ihr, der Illa Gardella,
die noch nicht einmal vor Entsetzen gekeucht hatte, als ihre Tante
vor ihren Augen getötet worden war, strömten die Tränen über die
Wangen.
Jetzt war sie wirklich zornig. Sie war wütend
auf sich selbst, auf Sebastian, auf die Entscheidungen, die sie
getroffen, und die Verluste, die sie erlitten hatte. Deshalb riss
sie sich von ihm los und drehte sich weg, um sich auf etwas anderes
zu konzentrieren. Irgendetwas. Ganz egal, was.
Das perlende Wasser des Brunnens zog ihren Blick
an, dann hypnotisierte es sie mit seinem Rhythmus, seiner
wunderschönen Klarheit und tröstlichen Heiligkeit.
Und dann kam ihr plötzlich ein Verdacht … eine
Erkenntnis dämmerte herauf, die tief in ihr verschüttet gewesen
sein musste. Victoria drehte sich auf den Absätzen zu Sebastian
herum und sah, wie er die Arme ausstreckte, um sie wieder an sich
zu ziehen.
Sie ließ es bereitwillig zu, dann küsste sie ihn
mit all der Angst und Wut, die sich in ihr angestaut hatten, seit
sie diese fünf Träume gehabt hatte, durch die sie zum Venator
berufen worden war.
Ihre Münder spielten so gierig miteinander, als
wären sie plötzlich von einer großen Last befreit. Sebastian schob
die Hände hinter sie, um ihre Hüften kraftvoll an seine zu pressen,
dann zeichnete er mit einer Hand den Verlauf ihrer Wirbelsäule nach
und drängte sie noch enger an sich, während seine Lippen von ihrem
Mund zu ihrer Kinnlinie wanderten und er ihren Namen an ihrer Haut
flüsterte.
Victoria fühlte, wie sein nasses Hemd ihre Hände
befeuchtete, wie das warme, feine Leinen seine Brust modellierte.
Dann spürte sie die direkte Hitze seines Körpers unter ihren
Fingerspitzen, als sie sie unter den Saum gleiten ließ.
Sebastian stöhnte und versuchte, sich ihr sanft
zu entziehen, so wie er es jedes Mal in der Vergangenheit getan
hatte, aber sie war zu schnell für ihn. Sie fand, wonach sie
gesucht hatte.
Er zuckte zusammen und trat einen Schritt
zurück. Mit reservierter, unbeweglicher Miene sah er sie wortlos
an.
Victoria ließ die Hände sinken. »Willst du mir
nicht verraten, weshalb du eine vis bulla
an deinem Nabel trägst? Oder werde ich sowieso nur weitere Lügen
und Ausflüchte zu hören bekommen?«
Zu seiner Ehre musste gesagt werden, dass er nur
einen winzigen Moment zögerte. »Ich bin dazu geboren, eine zu
tragen. Genau wie du,Victoria.«
Ihre Kehle kratzte, als sie zu schlucken
versuchte. »Meinst du wirklich, ich würde dir abnehmen, dass jemand
wie du - ein Mann, der sich weigert, Vampire zu töten - ein Venator
ist?«
»Frag Pesaro, wenn du mir nicht glaubst. Er
kennt die Wahrheit, genau wie Wayren.«
Dann stimmte es also. Max würde sie nicht
anlügen, und Sebastian musste klar sein, dass sie ihn fragen
würde.
Victoria ließ sich auf den Stuhl sinken, über
dem sein Mantel hing. Sie hatte mit so vielen Fragen, einem
derartigen Ansturm von Emotionen zu kämpfen, dass sie nicht wusste,
wo sie beginnen sollte.
Er musste erkannt haben, was in ihr vorging,
denn er wirkte mit einem Mal so kleinlaut und betreten - was
wirklich uncharakteristisch für den sonst so forschen Sebastian war
-, dass sie beinahe weich geworden wäre. Er sah aus wie ein kleiner
Junge, den man zu seiner Beschämung dabei ertappt hatte, wie er
Kekse aus der Küche stibitzte.
Fast hätte sie gelächelt, doch ihre wachsende
Enttäuschung und Verärgerung hinderten sie daran. In ihrem Kopf
schwirrten so viele Gedanken umher, so viele Dinge, die plötzlich
Sinn ergaben. Sie pickte eines davon heraus. »Deswegen hast du dich
nie ausgezogen, wenn ich … wenn wir -«
»Ich wollte nicht, dass du es weißt«, lautete
seine schlichte Antwort. Die Finger seiner linken Hand öffneten und
schlossen sich unentwegt, während er noch immer unsicher und
verlegen zu ihr heruntersah.
Warum? Warum sollte er eine solche Sache vor ihr
verbergen? Dann glaubte sie plötzlich, es zu wissen. »Es ist wegen
Beauregard. Er weiß es auch nicht.«
Aber Sebastian schüttelte den Kopf. »Er weiß es,
und wie du dir wohl vorstellen kannst, ist er sich der Ironie des
Ganzen durchaus bewusst - der Enkel eines der mächtigsten Untoten
Italiens ist ein Vampirjäger.«
»Obwohl du zum Venator geboren wurdest, tötest
du seinetwegen keine Vampire?«
»Ganz so einfach ist es nicht.« Dann, so als
wollte er die Unbehaglichkeit der Situation mildern, legte er die
Hände auf die Stuhllehnen. Mit provozierendem Grinsen neigte er ihr
sein Gesicht zu; der Charmeur war zurück. »Aber du musst keine
Angst haben, dass unsere Blutsbande zu eng sind, um mit unserem …
früheren Zeitvertreib fortzufahren. Der Name Gardella ist schon
seit Jahrhunderten, wenn nicht gar länger, nicht mehr Teil meiner
Familie mütterlicherseits.« Er verlagerte das Gewicht auf eine
Hand, um ihr mit der anderen über die Wange zu streicheln. »Wir
beide sind nur entfernt verwandt. Und dafür bin ich zutiefst
dankbar.«
Wütend wandte Victoria sich ab. Er tat ja gerade
so, als wäre das der einzig wichtige Aspekt. »Wenn du es für
notwendig hältst, deine Berufung geheim zu halten, warum machst du
dir dann überhaupt die Mühe, eine vis bulla
zu tragen?« Das war vermutlich der Punkt, der sie am meisten
erzürnte: dass er sie trug, ohne sie zu nutzen. Das war
Blasphemie.
Gleichzeitig erklärte es vermutlich die
Abneigung, die Max für Sebastian zu empfinden schien.
Max hatte ihr seine vis
bulla gegeben, als er sich von den
Venatoren abgewandt hatte, und sie hatte ihre während des
Trauerjahres um Phillip abgelegt, da sie sich selbst nicht weit
genug über den Weg getraut hatte, um sie zu tragen. Überwältigt von
Kummer und Zorn hätte sie damals mithilfe der vis bulla um ein Haar einen Mann, einen Sterblichen,
getötet. Es war allzu einfach gewesen, sich von ihrer Rage
mitreißen zu lassen und die Kontrolle über ihre Handlungen zu
verlieren. Aber sobald sie sich wieder in den Griff bekommen hatte,
hatte sie sie, genau wie Max, von neuem eingesetzt.
»Ich bewege mich in der Welt der Vampire, und
sie alle wissen, dass ich von den Gardellas abstamme und ein
Auserwählter bin. Beauregard weiß diese Ironie, wie schon gesagt,
zu würdigen, und von den anderen werde ich respektiert. Ich habe
viel Mühe darauf verwendet, es vor Außenstehenden geheim zu
halten.«
»Deshalb hast du dich inmitten der Untoten so
wohl gefühlt, als dir damals der Silberkelch gehörte. Das Lokal gab
dir die Möglichkeit, die Freunde deines Großvaters zu
beschützen.«
Er musste die Verachtung in ihrem Gesicht, die
Verwirrung in ihren Augen bemerkt haben, denn er griff nach ihren
widerstrebenden Händen und zog sie mühelos von dem Stuhl
hoch.
Das also war der Grund, realisierte sie jetzt,
weshalb er immer so ungewöhnlich stark gewirkt hatte. Sogar ganz zu
Anfang schon.
Neue Wut erfasste sie und fachte ihre Emotionen
an, sodass ihre Wangen heiß zu brennen begannen. Er hatte sorgsam
darauf geachtet, seine Stärke zu verbergen, als sie letztes Jahr
gegen Vampire hatten kämpfen müssen: Dr. Polidori war von den
Untoten ermordet worden, weil er ein Buch geschrieben
hatte, das zu viele ihrer Geheimnisse preisgab. Sebastian hatte
sich zwar an dem darauf folgenden Kampf beteiligt, doch nur so
weit, dass sie überlebten und Victoria weiterhin glauben konnte,
sie allein hätte alle gerettet. Die Gäste des Hauses beschützt.
Beinahe wäre sie bei diesem Einsatz gestorben, und er ebenso;
dennoch hatte er es ihr nicht gesagt.
Und auch letzten Herbst in dem Opernhaus, wo
Akvans Obelisk aufbewahrt und Eustacia getötet worden war, hatte er
ihr die Wahrheit verschwiegen.
Er hatte sogar ein paar selbstironische
Vergleiche zwischen sich und Victoria, der Kriegerin, angestellt.
Wenn sie jetzt darüber nachdachte, fiel ihr auf, mit welcher
Bitterkeit er von ihren Fähigkeiten und ihrer Annahme, er selbst
verfüge über keine, gesprochen hatte.
Jeder kann einen Vampir
pfählen, hatte er ihr gegenüber einmal behauptet.
Nur, wenn man nahe genug
herankommt, war ihre lapidare Antwort gewesen, mit der sie ganz
klar impliziert hatte, dass er diese Chance nie bekommen
würde.
»Du hast einfach zugesehen, wie meine Tante
getötet wurde«, sagte sie vorwurfsvoll. »Du bist dabei gewesen und
hast nichts unternommen.«
Er hatte die Hände fest um ihre Oberarme
geschlossen, und dieses Mal machte er sich nicht die Mühe, seine
Körperkraft zu verhehlen. »Was hätte ich denn tun können? Was
hättest du tun können? Wir waren nur zu zweit - zu dritt, wenn man
Pesaro dazurechnet -, und es gab nichts, das wir hätten unternehmen
können, um den Lauf der Dinge aufzuhalten. Du weißt das so gut wie
ich.«
Er hatte Recht, trotzdem wollte ihr Zorn einfach
nicht abflauen. »In der Nacht, als Polidori starb … Sebastian, wenn
du mir gesagt hättest, dass du ein Venator bist -«
Sein kurzes, bitteres Lachen schnitt ihr das
Wort ab. »Hättest du mein Können im Umgang mit einem Schwert dann
nicht länger in Zweifel gezogen? Hättest du mehr von mir erwartet,
als das, was ich tat? Victoria, ich war derjenige, der den
Imperialvampir in Schach hielt, während dich der Wächter fast in
Stücke gerissen hätte. Wenn du weniger ichbezogen gewesen wärst,
hättest du nicht nur realisiert, dass du es allein niemals mit
einem Wächtervampir und einem Imperialen hättest aufnehmen können;
du hättest dich auch gefragt, wie ein selbstverliebter Luftikus
meines Kalibers einen Imperialvampir zum Schwertkampf herausfordern
kann.«
Obwohl auch die Wächtervampire mit ihren
pinkfarbenen Augen über beachtliche Stärke verfügten, waren die
Imperialvampire noch weitaus furchterregender. Mit ihren
höllischen, rotvioletten Iriden waren sie die brutalsten,
schnellsten und mächtigsten Geschöpfe unter den Untoten. Sie waren
oft jahrhunderte- oder sogar jahrtausendealt und konnten nicht nur
rasend schnell durch die Luft gleiten, sondern trugen auch tödliche
Schwerter bei sich.
»Ich war derjenige, der den Auftrag hatte,
Polidori zu beschützen, bis du dann auf der Bildfläche erschienen
bist und darauf bestanden hast, die Führung zu übernehmen«, fuhr er
fort.
»Und du hast sie mir bereitwillig überlassen!
Wenn jemand anders die Schmutzarbeit erledigen konnte, bist du doch
nur zu gern einen Schritt zurückgetreten, um nicht im Weg zu
stehen.
Wenn du nicht aus dem Silberkelch verschwunden - weggerannt -
wärst, als Lilith dir die Wächtervampire auf den Hals hetzte, wäre
Phillip vielleicht noch am Leben. Du hättest ihm helfen
können!«
»Möglich. Aber nicht sehr wahrscheinlich. Es
waren auf der einen Seite acht Imperialvampire, zusammen mit den
vielen Vampiren unter den Gästen, die ihnen sofort zu Hilfe
gekommen wären, und auf der anderen Seite nur Pesaro und ich. Es
tut mir wirklich leid, Victoria. Ich habe dir schon einmal gesagt,
dass ich von Herzen bedaure, was mit deinem Ehemann geschehen ist.
Du kannst mir glauben, dass ich so etwas noch nicht einmal meinem
ärgsten Feind wünschen würde.«
Ihr Gesicht war tränennass, und sie hatte den
Versuch aufgegeben, sich aus seiner Umarmung zu befreien. Aber
obwohl die Anspannung ihrer Muskeln nachließ, war sie weiterhin
wütend und enttäuscht. »Und dann diese Nacht in der Kutsche in
London. Du hast versucht, mich zu verführen, nur um mich
anschließend den Vampiren auszuliefern. Du hast zugelassen, dass
sie mich verschleppten.« Als sie damals mit Sebastian allein
gewesen war, hätte sie ihm beinahe erlaubt, sie zu lieben - bis sie
von einer aufgebrachten Vampirhorde unterbrochen worden
waren.Victoria hatte schon immer den Verdacht gehegt, dass er sie
absichtlich zu ihnen geführt hatte.
Sebastian schüttelte den Kopf. »Glaubst du
wirklich, ich würde zulassen, dass meine Verführungskünste von
etwas so Unerfreulichem wie einem Vampirangriff gestört werden? Ich
habe ihre Gegenwart im selben Moment gespürt wie du. Ich wollte
verhindern, dass sie dich entführen, aber ich konnte es nicht.
Allerdings habe ich anschließend deinen Kutscher ausfindig
gemacht und ihm gesagt, wo du bist, sodass Pesaro dich aus der
Gewalt von Liliths Schergen befreien konnte. Sie war damals zu
wütend auf mich, weil ich dir half, und behielt mich zu gut im
Auge, als dass ich es selbst hätte tun können.«
»Du meinst, du wolltest sie nicht wissen lassen,
dass du ein doppeltes Spiel triebst? Und für welche Seite wirst du
dich am Ende entscheiden, Sebastian? Für die, die gewinnt?«
Er sah aus, als hätte sie ihn mit der
gebündelten Kraft ihrer beiden vis bullae
in den Magen geboxt. »Victoria, du kannst nicht -«
»Und ob ich -«
Ein plötzliches Geräusch in ihrem Rücken ließ
Victoria herumfahren, und sie entdeckte Zavier, der offensichtlich
gerade aus dem hinteren Teil des Konsiliums herbeigerannt gekommen
war und nun abrupt stehen blieb. »Wie konntest du nur?« Sein
Gesicht war eine anklagende Maske, und er atmete schwer. »Victoria,
weißt du, was du getan hast? Du magst Illa Gardella sein, aber das
hier ist falsch.«
Mit zornrotem Gesicht und geballten Fäusten kam
er auf sie und Sebastian zu. Er hielt dabei einen Pflock in der
Hand. »Zuerst küsst du den Mann, und dann bringst du ihn auch noch
in unser Heiligtum. Jetzt sind wir enttarnt!«
»Hör auf damit, Zavier«, fuhr Victoria ihn an.
Der Aufruhr aus Wut und Enttäuschung, den Sebastian entfacht hatte,
tobte noch immer in ihr. Sie trat zwischen ihren Geliebten - ihren
einstigen Geliebten - und den aufgebrachten Schotten. »Du weißt
nicht, wovon du redest.«
Doch als sie ihm nun in die Augen sah, fand sie
hauptsächlich Schmerz in ihnen, und mit einem Mal begriff sie, wie
das
Ganze auf ihn wirken musste: wie ein romantisches Stelldichein am
geheimsten aller Orte. Als würde sie die Sicherheit des Konsiliums
und seine Mysterien wegen einer Liebelei in Gefahr bringen.
Es fiel ihr schwer, nicht wütend auf Zavier zu
werden, weil er das Schlimmste von ihr dachte, doch schließlich
gelang es ihr, die Regung - zumindest für den Moment -
beiseitezuschieben. Ihre Stimme wurde etwas freundlicher,
wenngleich noch immer eine stählerne Note in ihr mitklang. »Es ist
nicht so, wie es scheint.«
Dann roch sie das Blut und bemerkte den Fleck an
Zaviers Oberkörper.
Noch bevor sie etwas sagen konnte, ertönte ein
tiefes, wummerndes Geräusch, das dem Läuten einer Glocke ähnelte.
Dumpf und unheilvoll dröhnte es durch den Raum, und als Victoria
sich umdrehte, sah sie die große Glocke, die hoch in einer Ecke
hing. Sie war ihr nie zuvor aufgefallen, doch nun schien ihr Geläut
anzuschwellen und das ganze Gewölbe zu erfüllen. Der tiefe Ton
hallte durch ihre Glieder, die Vibration war so stark, dass alles
ins Schwingen geriet, selbst die Feder eines altmodischen
Gänsekiels, der auf einem der Tische erzitterte. Dann wurde sie
durch das Geräusch hastiger Schritte abgelenkt, als Ilias, dicht
gefolgt von Wayren, deren Kleid hinter ihr auf dem Boden schleifte,
in den Saal gestürmt kam.
»Was ist das?«
»Die Warnglocke. Jemand hat über uns in der
Kirche den Alarm ausgelöst«, erklärte Wayren, sobald sie sie
erreicht hatte. »Es sind Unbefugte ins Konsilium
eingedrungen.«
Victoria taumelte zurück, als wäre sie
geschlagen worden, dann drehte sie sich fassungslos zu Sebastian
um. »Du!«
»Ich schwöre, dass ich es nicht war, Victoria!
Ich schwöre es!« Er wirkte ebenso perplex wie sie, als er sich nun
an Wayren wandte, die offensichtlich kein bisschen überrascht war,
ihn hier zu sehen. »Es war -«
Wayren streckte den Arm aus und fasste nach der
Stelle zwischen seinem Hals und seiner Schulter. »Später,
Sebastian. Wir werden später reden.« Sie drückte die Hand zusammen,
seine Augen rollten nach hinten, und er stürzte zu Boden. Allem
Anschein nach traute Wayren ihm ebenso wenig.
Victoria sah sie scharf an - Wayren hatte das
mit Sebastian die ganze Zeit über gewusst! Warum hatte sie es ihr
nie gesagt?
»Die Vampire haben uns noch nicht aufgespürt,
aber in den umliegenden Straßen und Gebäuden schleichen Untote und
Sterbliche herum. Irgendetwas hat sie hierher gelockt.« Es war
Zavier, der gerade mit Ilias sprach, so als wäre Victoria gar nicht
anwesend. Als er sie dann schließlich doch noch ansah, war sein
sonst so joviales Gesicht düster und vorwurfsvoll. »Wir müssen sie
vertreiben.«
Er steuerte bereits auf den Alkoven zu, der zu
der Wendeltreppe führte, die Victoria erst dreißig Minuten zuvor
heruntergekommen war, als sie ihn zurückrief.
»Nein, Zavier, warte. Wir dürfen diesen Ausgang
nicht nehmen. Wenn wir plötzlich aus der Kirche kommen, werden sie
unseren Geheimgang finden.«
Ilias hielt rund um die Uhr verborgene Wachen in
der kleinen Kirche und der umliegenden Umgebung postiert. Bei jeder
Schicht tat jeweils ein Venator zusammen mit zwei Komitatoren
Dienst - Lehrern wie Kritanu, die die Vampirjäger in
Kampfkunsttechniken unterrichteten. Falls wirklich Vampire in der
Nähe waren und ihre Sicherheit bedrohten, was Victoria nicht im
Mindesten bezweifelte, so waren die Wachleute vermutlich bereits im
Einsatz. Trotzdem wäre es unklug, einfach so aus der Kirche zu
treten und den Untoten damit zu verraten, wo der Eingang zum
Konsilium lag.
»Hier entlang«, befahl Ilias mit einer scharfen
Handbewegung. Victoria und Zavier folgten dem alten Venator, der
mehr über die Geheimnisse des Konsiliums wusste als irgendjemand
sonst. Sie liefen durch einen der spitzen Torbogen, der zu einer
Kammer führte, die Victoria zuvor erst einmal betreten hatte. In
dem schmucklosen, staubigen Raum standen Truhen und mehrere
Holzkisten gegen eine der Wände gestapelt, doch Ilias eilte an
ihnen vorbei in eine der hinteren Ecken, wo er nach oben zu einem
der Wandleuchter griff und die Fackel aus ihrer Halterung nahm. Er
tastete in dem nun leeren Zylinder herum, dann zog er mit einem
zufriedenen Grunzen seine Hand zurück.
Victoria beobachtete das Ganze mit wachsender
Anspannung; am liebsten wäre sie vor lauter Ungeduld einfach die
Wendeltreppe hinaufgelaufen, denn dort oben würde sie wenigstens
hören können, ob die Bedrohung näher kam.
Doch Ilias zog nun mit der Hand, die eben noch
in der Leuchte gesteckt hatte, an dem Eisenzylinder, der sich
daraufhin von der Wand löste. Ein dumpfes, knirschendes Geräusch
ertönte, dann glitt die Mauer hinter den Truhen zur Seite.
Zavier war noch vor Victoria dort, wenn auch
nur, weil er im entsprechenden Moment in diese Richtung geschaut
hatte.
Er drückte gegen die Wand, bis die Öffnung weit genug war, dann
sprang er in die Dunkelheit dahinter.
Victoria wäre ihm gefolgt, hätte Ilias sie nicht
am Arm festgehalten. »Du kannst auf diesem Weg nicht zurückkehren,
deshalb sei vorsichtig. Er führt nur nach draußen.«
»Danke.« Als Victoria anschließend Zaviers
Verfolgung aufnahm, bemerkte sie die Blutstropfen, die er auf dem
Boden hinterlassen hatte. Sie hoffte, dass er nicht schwer verletzt
war, denn sie war auf ihn angewiesen. Sie waren nur zu zweit, neben
den drei Wachen in der Kirche über ihnen; Ilias und Wayren würden
als letzter Schutzschild des Konsiliums hier unten bleiben.
Nachdem sich die Geheimtür hinter ihr
geschlossen hatte, war es stockdunkel, trotzdem verlangsamte
Victoria ihre Schritte nicht.
Die Jägerin in ihr war bereit und ihre
Wahrnehmung geschärft, als sie vor sich plötzlich einen grauen
Schimmer sah. Mit dem Pflock in der Hand bog sie vorsichtig um eine
Ecke, dann fand sie sich am Fuße einer Steintreppe wieder. Während
sie sie erklomm, wurden Zaviers Absätze vor ihr sichtbar und der
penetrante Geruch der Schirmmachereien intensiver.
Sie folgte ihm durch ein Steinportal, das auf
die Straße vor der Santo Quirinus führte. Mondlicht fiel auf das
Kopfsteinpflaster. Die Sonne musste schon vor geraumer Zeit
untergegangen sein.
Als Victoria durch den Borgo rannte und dann die
fünf Stufen hinauf zur Straße, nahm sie zweierlei wahr: zum einen
den blutigen Haufen, der einst ein Komitator gewesen war,
zum anderen denselben modrig-fauligen Verwesungsgeruch, den sie
schon in der Vornacht gerochen hatte.
Dämonen.
Sebastian hatte Dämonen zum Konsilium
geführt!
Diese Erkenntnis schien sich zu bestätigen, als
Victoria sah, wie Michalas - er musste bei Zavier gewesen sein,
bevor er die Alarmglocke betätigt hatte - gerade seinen Pflock in
die Brust einer rotäugigen Kreatur stieß. Doch als er ihn wieder
herauszog und zurücktrat, stürzte sich die Bestie vollkommen
unversehrt von neuem auf ihn. Victoria war mit einem Satz bei ihnen
und versetzte dem Dämon einen derart heftigen Tritt, dass er die
Balance verlor und gegen eine Hauswand krachte.
Sie sprang wieder auf die Füße und sah sich nach
etwas um, das sich als Klinge benutzen ließ; einen Dämon musste man
köpfen. Da traf sie mit voller Wucht etwas von hinten, und Victoria
stürzte bäuchlings zu Boden, wobei sie sich im Fallen das Knie an
einem großen Stein verdrehte. Sie rollte sich zur Seite, ignorierte
ihre Verletzung und trat mit aller Kraft beider Beine nach dem
Dämon mit den Vampiraugen, der sie gerade ein weiteres Mal
attackierte.
Sie versuchte, die Schreie und Kampfgeräusche um
sich herum auszublenden, während sie sich mit dem Dämon, der ebenso
stark war wie sie, einen brutalen Kampf lieferte.
Abgesehen von den roten Augen und seinem üblen,
muffigen Geruch schien dieser Untote menschlich zu sein. Ihre Arme
schmerzten von seinem Klammergriff; ihr Magen brannte, als er ihr
den Ellbogen hineinstieß. Er warf den Kopf nach hinten, als sie ihm
den Unterarm gegen die Kehle rammte, dann taumelte er, nachdem sie
ihm mit einem scharfen
Tritt in die Kniekehlen den Rest gegeben hatte, zu Boden.
Kurzerhand schleuderte sie ihn in ein niedriges Gebüsch, dann hielt
sie weiter nach irgendeiner Art von Klinge Ausschau.
»Victoria!« Sie hörte ihren Namen und drehte
sich um, als sie auch schon etwas Langes, Glänzendes in der
Dunkelheit auf sich zufliegen sah. Mit einem kurzen, dankbaren
Blick zu Zavier fing sie das Schwert in der Luft auf, wobei sie
kaum spürte, wie es ihr in die Handfläche schnitt.
Einen Augenblick später stürzte sie sich, die
Finger sicher hinter dem Handschutz verborgen, auf die Kreatur und
durchtrennte ihr mit einer weit ausholenden Bewegung den Hals.
Anstatt zu beobachten, wie der Dämon erstarrte und zu einer dunklen
Masse verschrumpelte, die in der Erde und dem alten Gras
versickerte, nutzte Victoria ihren Schwung, um sich den nächsten
Gegner vorzuknöpfen. Aus ihrer Wunde quoll noch immer Blut, doch
sie ignorierte es.
Ein Kick, ein Stoß, ein Kreiseln und ein Hieb,
schon hatte sie dem ogergesichtigen Dämon den Kopf von seinem
hundeartigen Körper geschlagen. Als sie sich wieder umdrehte, war
bis auf das abgehackte Atmen ihrer Gefährten alles still geworden.
Michalas, aus dessen dichten Locken Schweißperlen tropften, hockte
keuchend auf der Türschwelle eines Hauses.
»Zum Henker …« Zaviers breiter Brustkorb hob und
senkte sich. Er lehnte an der Ecke eines kleinen Gebäudes, das
aussah, als würde es jeden Moment unter der gewaltigen Körperkraft
des Schotten einstürzen.
»Es ist Stanislaus, auf den Stufen der
Ikonengalerie«, ertönte plötzlich eine Stimme. Ilias trat mit
ernstem, erschöpftem Gesicht aus dem niedrigen Kirchenportal. »Er
ist tot. Aber die Tür
war hinter ihm geschlossen, der geheime Zugang durch den
Beichtstuhl ist also unentdeckt geblieben. Den Blutspuren auf den
Fliesen nach zu urteilen, ist er in den Gang gekrochen, um zu
sterben … und den Alarm auszulösen.«
»Sie hätten unser Versteck fast gefunden!«,
explodierte Zavier und blickte mit zornigen Augen um sich. »Wenn
wir nicht hier gewesen wären, dann wären sie ins Konsilium
eingedrungen.« Nie zuvor hatte er so groß und grimmig gewirkt wie
jetzt.
Dann begriff Victoria plötzlich; sie ging auf
Zavier zu, als sie im selben Moment zu seinen Füßen einen weiteren
leblosen Körper bemerkte. Er hatte langes, zu einem unordentlichen
Zopf geflochtenes Haar, und sein mahagonifarbenes Gesicht zeigte
zur Seite.
»Zavier, es tut mir so leid.« Victoria kniete
sich neben den Mann. Es gab nichts, das man noch für ihn hätte tun
können; das viele Blut und der unnatürlich abgewinkelte Kopf
sprachen für sich. Mansur war ein Komitator gewesen, den man erst
kürzlich zu einem der Wächter der Santo Quirinus ernannt hatte,
doch zuvor hatte er mit Zavier zusammengearbeitet. Sie stand auf
und legte die Hand auf den Arm des Schotten. »Es tut mir sehr, sehr
leid.«
Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen
aus. Hätten sie Mansurs Tod verhindern können? Und den von
Stanislaus, des anderen Venators? Hatte sie die falsche
Entscheidung getroffen, indem sie die lange Route nach draußen
gewählt und dadurch ihr Auftauchen verzögert hatte?
Um sich auch weiterhin von der Kirche
fernzuhalten, brachten sie die Leichen in ein nahe gelegenes
Gebäude. Sie hatten einen Komitator und einen Venator verloren,
zwei Drittel der
Wachmannschaft der Kirche. Auf der Gegenseite zählte Victoria zwei
Dämonen, zwei Vampire und drei Sterbliche, die sie nicht kannte, in
denen sie jedoch Mitglieder der Tutela vermutete. Alle lagen
erschlagen auf der einsamen Straße.
»Du hattest Recht. Drei der Männer tragen das
Zeichen der Tutela«, informierte Wayren Victoria, nachdem Ilias die
Leichen untersucht hatte. In den blassblauen Augen der älteren Frau
schimmerte Besorgnis.
»Mansur und Stanislaus erkannten zu spät, dass
sie gegen Dämonen kämpften«, erwiderte Victoria, mit den Gedanken
noch immer bei ihren verlorenen Kameraden. Während alle Venatoren
und auch einige Komitatoren die Gegenwart von Vampiren wittern
konnten, besaßen nur wenige die Fähigkeit, auch Dämonen zu
erkennen, von denen viele jede gewünschte Gestalt annehmen konnten.
»Stanislaus hat uns auf die einzige ihm mögliche Art
gewarnt.«
»Sie haben zwar die Santo Quirinus entdeckt,
trotzdem konnten sie das Konsilium nicht finden«, warf Zavier ein.
»Aber es war knapp.« Er mied noch immer Victorias Blick.
Sie verstand ihn und akzeptierte ihre Schuld. In
der Hitze der Schlacht war ihr Kopf plötzlich ganz klar geworden,
und sie hatte begriffen, wie es dazu gekommen war. Wie es dazu
gekommen sein musste.
Denn dieses eine Mal glaubte sie Sebastian; sie
wusste, dass er die Dämonen weder zu ihnen gelockt noch ihnen den
Weg gezeigt hatte.
Weil hinter den Dämonen nämlich nur einer
stecken konnte: Akvan.
Akvan musste sie geschickt haben, um den
Splitter zu holen, den Victoria im Konsilium versteckt hielt.
Und er würde zurückkehren.