Kapitel 18
In welchem der Rubintiegel geöffnet wird
Max schlüpfte aus seiner feuchten Kleidung und warf sie über die Stuhllehne. Sein Haar war noch immer so nass, dass es ihm an Gesicht und Hals klebte, aber zumindest geriet es ihm, seit er es geschnitten hatte, nicht mehr ständig in die Augen oder den Mund. Er fuhr sich mit den Fingern durch die wirren Locken und kämmte sie aus der Stirn und den Schläfen nach hinten.
Seine Rückkehr ins Konsilium hatte länger gedauert als geplant. Ursprünglich hatte er gehofft, anschließend wieder zur Villa zurücklaufen zu können, für den Fall, dass Victoria bei der Suche nach ihrer Mutter seine Hilfe benötigte. Doch da er die Aufzeichnungen des Alchimisten - oder worum auch immer es sich bei dem Papierbündel handeln mochte - bei sich trug, hatte er beschlossen, das Risiko einer Verfolgung zu umgehen, indem er sich für eine viel längere Route entschied, als ihm eigentlich lieb war. Als er dann endlich tropfnass auf dem Marmorboden des Konsiliums gestanden hatte, war es schon fast Mitternacht gewesen, und Wayren hatte ihn ersucht, nicht noch einmal nach draußen zu gehen.
Wie immer war es eine Bitte gewesen, und kein Befehl. Aber eine, die er nicht ablehnen konnte.
Es war so weit.
Er vermied es, den winzigen Rubintiegel anzusehen, der neben einer zierlichen Laterne auf einem Tischchen stand. So klein er auch sein mochte, er verlockte ihn. Hier in diesem kargen Raum am Ende eines der langen Gänge der Katakomben des Konsiliums - so geheim und so weit vom Brunnensaal entfernt, dass niemand außer Wayren, Ilias und eventuell Ylito von seiner Existenz wusste - war der rubinrote Tiegel der einzige Farbtupfer.
Er verhöhnte ihn. Dieses Behältnis, das sein Leben verändern würde und das er nun nicht länger meiden konnte.
Genau wie jene Entscheidung, die längst nicht mehr die seine war.
War sie es überhaupt je gewesen?
Rasch zog er die trockenen Kleidungsstücke über, die Wayren für ihn bereitgelegt hatte, wobei er sich darüber ärgerte, dass sie an seinen noch immer feuchten Beinen kleben blieben: Die unterirdische Luft war ebenso kalt wie seine Haut. Während er in das Hemd schlüpfte, fiel sein Blick auf die silberne vis bulla, die ihm nicht wirklich gehörte. Er strich darüber, berührte das filigrane, nur fingernagelgroße Kreuz, das an seiner Brustwarze hing und ihm die Stärke, den Willen und die Rechtfertigung gab, die er brauchte.
Dann nahm er es mit geschickten Fingern ab. Augenblicklich verebbte seine Kraft. Sie glitt davon wie eine Decke, die von einem schlafenden Körper gezogen wird, und der Verlust machte ihm im ersten Moment so sehr zu schaffen, dass seine Hände zitterten. Die Schusswunden, die er sich zwei Nächte zuvor zugezogen hatte und die schon fast verheilt gewesen waren, pochten und hämmerten nun wieder tief in seinen Muskeln, so als wären sie Vorboten einer düsteren Zukunft.
Aber natürlich würde er sich nach dem Aufwachen an nichts von alledem erinnern.
Er legte die vis bulla neben die zierliche Laterne und den Rubintiegel, der ihn zu verhöhnen schien. Dann, so als wollte er der blasphemischen Gegenwart des Gefäßes entgegenwirken, griff Max nach seinem kleinen Lederbeutel und holte die wenigen Dinge heraus, die er darin aufbewahrte.
Am nächsten Morgen, oder wann auch immer man ihn wecken würde, hätten weder die vis bulla noch der Tiegel länger irgendeine Bedeutung für ihn. Genauso wenig wie die verkohlte Satinrose, der schwarze Pflock mit dem eingravierten Silberkreuz an seinem stumpfen Ende, die kleine Weihwasserphiole, die Perlenohrstecker oder das goldene Uhrgehäuse - wie irgendeiner der Gegenstände auf dem Tisch.
Erbost über das Selbstmitleid, das er empfand, wandte Max den Blick ab. Er tat, was er tun musste. Ohne zu zögern. An dem Tag, als er nach der Tragödie, die er über seine Familie gebracht hatte, erwacht war, hatte er das Versprechen abgegeben, den Venatoren zu dienen. Für den Rest seines Lebens.
Und noch war sein Leben nicht vorüber.
Was würde er im Anschluss an das hier tun?
Er zuckte mit den Schultern. Sein weiterer Lebensweg würde sich noch früh genug abzeichnen. Er musste nur die Augen offen halten und ihn dann einschlagen.
Er war dankbar, als ein Klopfen an der Tür ihn von seinem Selbstmitleid ablenkte. »Komm herein.«
Nachdem Wayren über die Schwelle getreten war, ließ sie den Blick rasch über ihn, die Gegenstände auf dem Tisch und das unberührte Bett gleiten. »Bist du bereit?«
»Hast du etwas von Victoria gehört?«
Sie sah ihn scharf an, dann nickte sie. »Ja. Sie hat eine Brieftaube geschickt, um sich zu erkundigen, ob du wohlbehalten zurückgekehrt bist.«
»Was ist mit Melisande?«
»Sie sind alle in Sicherheit. Hast du Ylitos Sud bereits getrunken?«
Max nickte.
»Gut. Ihm zufolge wird er dir das Ganze erleichtern; obwohl wir eigentlich noch immer nicht genau wissen, was passieren wird. Max, er hat diese Salbe untersucht, um herauszufinden, ob es eine Möglichkeit gibt, sie zu benutzen oder ihre Zusammensetzung so zu verändern, dass du die Verbindung zu Lilith durchtrennen kannst und trotzdem deine Fähigkeiten behältst.«
»Aber dann wäre ich keine Hilfe bei Akvans Vernichtung, oder? Kein Venator und auch kein Dämon wird Akvan erschlagen. Aber irgendjemand muss es tun.«
Wayren verzichtete darauf, seine Bemerkung zu kommentieren, stattdessen versprach sie: »Ich werde hier sein, wenn du aufwachst, damit ich dir die Aufgabe, die vor dir liegt, in Erinnerung rufen kann.« Sie trat nun ganz ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Er unterdrückte ein verächtliches Schnauben und setzte sich stattdessen einfach aufs Bett. Sie würde ihn an die Aufgabe erinnern, die er sich aufgebürdet hatte: einen Weg zu finden, Akvan als Sterblicher und nicht als Venator zu vernichten. Doch darüber nachzudenken, was er nach seinem Aufwachen wohl noch über sich wissen oder nicht wissen würde, war mehr als beunruhigend.
Wayren zog sich einen Stuhl heran, dann öffnete sie das kleine, mit einem Siegel versehene Behältnis. Der Geruch der Salbe durchdrang auf ebenso faszinierende wie schreckliche Weise die Luft. Mit großem Unbehagen spürte Max, wie sich ihm der Magen umdrehte, als ihm bewusst wurde, dass in dem Aroma eine leise Note jenes Rosendufts mitschwang, der Lilith stets umgab.
Er schloss für einen kurzen Moment die Augen und wünschte sich, dass es einen anderen Ausweg gäbe. Dass er diese Wahl nicht treffen, diese Aufgabe nicht erfüllen, diesen Becher nicht leeren … dass er dieses Leben nicht aufgeben müsste, das er sich auf den Trümmern seiner Schuld und Selbstverachtung so mühsam errichtet hatte.
Wayren wusste es, verdammt sollte sie sein. Sie wusste, dass dies das Letzte war, das er je hatte tun wollen. Zu dem er je bereit gewesen wäre.
Bei Gott, sie kannte ihn viel zu gut. Und er sie.
Er hoffte, dass Victoria seinen Rat in Bezug auf Lilith beherzigen würde. Dass sie alles über ihre Feindin in Erfahrung bringen würde, um einen Weg zu finden, sich vor deren Bösartigkeit und Heimtücke zu schützen, um ihr nicht ebenfalls in die Falle zu gehen.
Ein helles Schimmern erregte seine Aufmerksamkeit, und er tauchte bewusst wieder aus den Tiefen des Zorns und Bedauerns empor in die Gegenwart und damit zu Wayren, die gerade etwas vor sein Gesicht hielt.
Er erkannte die kleine, goldene Scheibe, die an einer spinnwebendünnen Kette vor ihm kreiselte. Wayren hatte eine Laterne so platziert, dass der Anhänger in ihrem Lichtschein funkelte und glitzerte. Die Erinnerung an Eustacia, die ihn nun überkam, war bittersüß und ungeschönt.
Aber dennoch war es tröstlich, das Pendel anzustarren, während Wayren mit kehliger Stimme irgendwelche beruhigenden Worte murmelte. Er versuchte sich zu entspannen, einfach loszulassen … und tatsächlich war es gar nicht so schwierig, wie er geglaubt hatte.
Kühle, sichere Finger streichelten über seinen Nacken und die Wölbung seiner Schulter; der Geruch nach Rosen wurde so stark, dass ihm übel wurde. Er bemühte sich, nicht zu tief einzuatmen, während er die goldene Scheibe beobachtete und sich zunehmend leichter fühlte.
Leichter als je zuvor.
Dann plötzlich überfiel es ihn: dieses scheußliche, bösartige Zerren der beharrlichen, schlangenartigen Tentakel, die ihn zu bezwingen versuchten, ihn ersticken wollten …
Sie war hier, ihre blauen Augen von einem glühenden, blutroten Ring umgeben. Ihr Haar war ein kupferfarbener Heiligenschein um ihr bleiches, blau geädertes Gesicht. Er konnte die feinen Male auf ihren Wangen sehen, die fünf Zeichen, die von ihrer Schläfe zu ihrem Kinn einen Halbmond bildeten. Die blassen Lippen … die eine warm, die andere kalt wie der Tod …
Max wehrte sich, kämpfte darum, sich zu befreien, so wie er es schon früher getan hatte. Er versuchte, vom tiefen Grund eines Ozeans nach oben zu tauchen, eines Ozeans, der blau und glimmend rot war, der ihn nach unten zog und zu ertränken drohte. Jeden Moment würden sich diese heißen und kalten Lippen auf seine legen, dann das geschmeidige Eindringen von messerscharfen Eckzähnen in sein Fleisch … ihre Hände kühl und kraftvoll an seiner Haut -
»Max … Max!« Eine Stimme durchdrang sein Delirium. Er versuchte, ihr zuzuhören. »Max!« Und dann vernahm er in dem Strudel aus Finsternis und Verderbtheit auf wundersame Weise wieder das kehlige Murmeln, den besänftigenden Sprechgesang. Sie durchdrangen den düsteren Nebel, die entsetzlichen Erinnerungen, die ihn in ihrem Bann gefangen hielten, und Max glitt zurück in den goldenen Lichtschein und den sanften Zustand der Entspannung.
Da war noch eine Sache … eine letzte Sache, die er wissen musste.
»Victoria«, flüsterte er mühsam, indem er seine ganze Konzentration bündelte und seine Aufmerksamkeit weg von dem goldenen Licht und auf die sandfarbene Wand richtete.
»Sie ist zurückgekehrt. Sie ist in Sicherheit, Max. Du kannst nun gehen.«
Er nickte, dann fühlte er, wie ihm der Kopf leicht und die Lider schwer wurden. »Sag ihr …« Er konnte nicht mehr sprechen, es war zu anstrengend. Deshalb formten seine schwerfälligen, trägen Lippen die Worte lautlos.
Der Geruch von Rosen, den er warm an seinem Nacken spürte, veränderte sich plötzlich, und es roch nach Fäulnis.
Dann ließ Max los.

Es war schon beinahe drei Uhr morgens, als Victoria sich endlich von ihrer noch immer erbosten Mutter und deren zwei schnatternden Freundinnen verabschieden konnte. Das war zwar für die Maßstäbe der Londoner Gesellschaft alles andere als spät und auch für Victoria selbst nicht gerade ungewöhnlich, doch nach allem, was in den letzten Tagen passiert war, fühlte sie sich erschöpft bis auf die Knochen.
Sie musste unbedingt zur Villa Palombara zurückkehren und nach dem verlorenen Splitter suchen, doch zuerst wollte sie ihre Kleidung wechseln und sich ein Paar warme, trockene Schuhe sowie einen Hosenrock anziehen. Sie hatte Verbena zu Bett geschickt, ohne sie über ihre Pläne zu informieren; sie würde sich von Oliver fahren lassen.Victoria setzte sich auf den Stuhl vor ihrem Frisiertisch und machte sich daran, ihre nassen Strümpfe auszuziehen.
Gestern Abend war der Angriff auf das Konsilium erfolgt, bei dem Mansur und Stanislaus den Tod gefunden hatten, und dann hatte es noch diesen entsetzlichen Moment gegeben, als sie und Sebastian von Zavier entdeckt worden waren … und das alles, nachdem sie zusammen mit Sebastian und Max eine Nacht zuvor in einem unterirdischen Verlies der Villa Palombara eingesperrt gewesen war.
Falls sie noch vor ein paar Wochen, als sie keine vis bulla getragen hatte, ungeduldig und gelangweilt gewesen war, so erschien es Victoria jetzt, als sei sie in ein unkontrollierbares Schlachtengetümmel katapultiert worden. Ganz zu schweigen davon, wie eindringlich sie im Moment wieder daran erinnert wurde, dass es schlicht unmöglich war, ihre beiden Welten voneinander getrennt zu halten.
Das mit ihrer Mutter und Regalado war ziemlich knapp gewesen. Wenn sie nur daran dachte, wurde ihr schon ganz flau im Magen. Sie hätte es nicht ertragen, noch einen dritten geliebten Menschen an die Vampire zu verlieren, und schon gar nicht ihre Mutter, die nicht den Hauch einer Ahnung hatte von all der Dunkelheit und dem Bösen, die sie umgaben.
Sie musste eine bessere Methode finden, ihre beiden Leben voneinander abzuschotten. Sie musste ihre Mutter und deren Freundinnen von den Vampiren fernhalten und gleichzeitig die Tatsache verheimlichen, dass sie zu jenen gehörte, die sie bekämpften.
Wie hatte Eustacia das geschafft? Wie schafften es die anderen Venatoren? Gewiss hatten sie alle Eltern, ein paar von ihnen außerdem Geschwister und andere Menschen, die ihnen etwas bedeuteten. Sie hatten vor ihrer Berufung zum Venator doch auch ein Leben gehabt. Wie machten sie es also?
Wenn ihre Tante hier gewesen wäre, hätte sie sie fragen können. Es war ein Punkt, über den sie, selbst als sie mit Phillip verheiratet gewesen war, nie wirklich gesprochen hatten. Sie wusste, dass ihre Tante mit ihrer Entscheidung nicht einverstanden gewesen war, aber trotzdem hatte sie nicht versucht, sie ihr auszureden. Im Gegensatz zu Max, der deswegen mit ihr gestritten und ständig irgendwelche Warnungen geäußert hatte.
Warum hatte ihre Tante sie nicht davon abgehalten? Weil sie Victoria die Chance hatte lassen wollen, Liebe und Glück zu finden, ganz gleich, welche Schwierigkeiten damit auch einhergehen mochten?
Aber zumindest hatte Eustacia ihr ein Mittel gegeben, mit dem sie eine Schwangerschaft verhindern konnte.
Doch nun war auch sie gegangen.
Zu ihrem eigenen Missfallen spürte Victoria, wie ihr die Tränen in die Augen traten und sie zu schniefen begann. Sie hasste es, zu weinen. Sie war ein Venator, und trotzdem hatte sie in den letzten paar Tagen häufiger geweint als in dem ganzen Jahr, nachdem Phillip gestorben war.
Gestorben?
Nein. Nicht gestorben. Sie musste der Wahrheit ins Gesicht sehen. Es war kein Unfall gewesen. Und er war auch nicht einfach gestorben.
Sie hatte ihn getötet.
Sie hatte ihn durch ihre Naivität, ihre Selbstsucht und Abenteuerlust getötet.
Eigenhändig.
Mittels eines Pflocks, wie sie es schon so viele Male zuvor - und auch danach - getan hatte.
Blind vor Tränen zog sie ihr Taschentuch hervor und trocknete sich Nase, Wangen und Kinn, bis es völlig durchnässt war. Im schwachen Licht des Mondes, das durch das Fenster hereinfiel, betrachtete Victoria ihr Gesicht im Frisierspiegel. Ihre Augen waren kummervoll und dunkel umschattet, das Haar fiel ihr in unordentlichen Flechten ins Gesicht und über die Schultern. Sie sah aus wie eine Medusa. Eine hohlwangige, traurige Medusa.
Das Einzige, worüber sie froh war, war die Tatsache, dass sie Phillip getötet hatte, bevor er das Blut eines Sterblichen hatte trinken können - wodurch er ewige Verdammnis über sich und seine Seele gebracht hätte.
Plötzlich merkte sie, dass die Tür ihres Schlafzimmers einen Spalt weit geöffnet worden war. Gerade weit genug, dass sie das schmale, blasse Gesicht sehen konnte, das dort im Zwielicht schimmerte.
»Nilly?« Sie wischte hastig die letzten Tränen fort.
Die Tür ging weiter auf, und die Frau trat, dünn und still wie ein Gespenst, in ihrem weißen Nachtgewand ins Zimmer.Victorias Nacken begann zu prickeln. Es war kein Frösteln, eher ein Gefühl böser Vorahnung.
»Was ist passiert?« Sie stand auf und griff automatisch nach einem ihrer Pflöcke, obwohl sie wusste … ganz sicher wusste, dass mit Nilly alles in Ordnung war. Aber …
»Ich hatte ganz vergessen, dass ich dir eine Nachricht überbringen soll.« Ihre Stimme klang seltsam dumpf. Ihre Augen schimmerten groß und hell in ihrem länglichen Gesicht; sie hatte eine zierliche Hand in den Stoff ihres Nachthemds gekrallt, und ihr bleiches Haar fiel ihr in einem geisterhaften Schatten über die schmalen Schultern.
»Von dem, der dich gebissen hat?«
»Von Beauregard. Lord Beauregard«, flüsterte Nilly eigentümlich lächelnd, und Victoria bemerkte den leisen Fanatismus in ihren Augen. Sie funkelten wie Kerzenlichter, und die Frau selbst erweckte beinahe den Eindruck, als würde sie schlafwandeln. »Lord Beauregard sagt, dass er etwas zurückgegeben hat, das dir gehört … und er erwartet, dass du zurückgibst, was ihm gehört. Denn sonst …« Nillys Stimme verklang. Victoria war bei ihren Worten aufgesprungen und durchwühlte nun hektisch die Taschen ihres Herrenmantels. Natürlich! Bei der Erwähnung von Beauregards Namen war es ihr wieder eingefallen. Sie zog das Kupferarmband hervor, während sie sich plötzlich darüber wunderte, wie ihr hatte entfallen können, wo sie die eingravierten Zeichen schon einmal gesehen hatte: auf Sebastians Haut.
Vielleicht hatte sie sich einfach nicht daran erinnern wollen, dass er dieses Zeichen trug.
Aber er tat es.
»Was hat er, das mir gehört?« Victoria drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie Nilly lautlos zu Boden glitt.
Mit einem Satz war sie bei ihr und überprüfte an der unverletzten Seite ihres Halses den Puls der älteren Dame. Ihr Herz schlug noch immer, und das seltsame, angespannte Lächeln war verschwunden. Victoria tastete auf dem Frisiertisch herum, bis sie ein kleines Fläschchen Riechsalz fand, und hielt es ihr unter die Nase.
Fast umgehend begann Nilly, sich zu regen, dann wandte sie hustend das Gesicht ab. Ihre Lider öffneten sich flatternd. Victoria stellte erstaunt fest, dass ihr Blick klar war; sie schien überrascht zu sein, sie zu sehen.
»Was tust du da?«, fragte Nilly und setzte sich auf.
»Fühlst du dich wohl?« Victoria half ihr auf die Füße.
»Ja, ich denke schon. Aber wie bin ich bloß …« Sie blickte sich verwirrt um.
»Lass mich dir helfen, ich bringe dich zurück in dein Zimmer.« Als sie anschließend im Schneckentempo den Flur hinuntergingen, dämmerte Victoria mit einem Mal, was Beauregard hatte, das ihr gehörte.
Die Antwort war so unschön, dass sie sie am liebsten gar nicht in Erwägung gezogen hätte, aber leider war es durchaus möglich. Sogar wahrscheinlich.
Immerhin hatte sie das Lederband in der Nähe der Magischen Tür verloren, und Nilly hatte sich praktisch an derselben Stelle befunden, als sie gebissen worden war.
Allerdings würde das bedeuten, dass Beauregard dort gewesen sein musste, als sie vor der Villa Palombara gegen die Vampire gekämpft hatte.
Und dann war er einfach gegangen.
Als sie Nilly endlich wieder ins Bett verfrachtet hatte, bemerkte Victoria, dass sich der Himmel im Osten bereits grau färbte. Die Sonne würde in spätestens drei Stunden aufgehen, vielleicht sogar früher. Da Beauregard den Anhänger jetzt hatte, war es sinnlos, noch in dieser Nacht danach zu suchen.
Sie würde das Kupferarmband am Morgen zu Wayren und Max bringen und herausfinden, was sie von alldem hielten. Wenn schon Kupferringe für Liliths Wächtervampire so wichtig waren, was würde ihnen dann erst ein Armband bedeuten?
Während Victoria - nur in ein Nachthemd gekleidet und mit nackten, kalten Zehen - langsam dem Schlaf entgegendämmerte, wurde ihr unterschwellig bewusst, dass sie noch nicht einmal mit dem Gedanken spielte, es Sebastian zu zeigen. Sie hatte ihm so viel anderes gezeigt, so vieles mit ihm geteilt; trotzdem würde sie ihn in Bezug auf Beauregard nicht um Hilfe bitten.
Plötzlich war sie wieder hellwach und starrte durch das Fenster in die dunkelgraue Nacht hinaus.
Sebastian liebte Beauregard. Erst letzten Herbst hatte er Victoria - wohl wissend, wie sie über seinen Großvater dachte - gefragt, ob sie ihn in seinem Beisein töten könnte.Victoria hatte damals keine Antwort gehabt, und sie hatte auch jetzt keine.
Sie wusste, dass Beauregard böse und selbstsüchtig war … doch ein paar von Sebastians Argumenten hatten sich in ihrem Kopf festgesetzt und verhöhnten sie von dort. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sein Großvater, von dessen Vampir-Dasein er erst als Erwachsener erfahren hatte, durch den gut gezielten Stoß eines Pflocks zu ewigem Fegefeuer verdammt werden würde.
Würde Victoria wegen ihrer Gefühle für Sebastian zögern, Beauregard diesen Todesstoß zu versetzen?
Ihre Finger waren kalt geworden. Das, was sie für Sebastian empfand, war so nebulös und zerbrechlich, dass sie nicht wagte, jetzt darüber nachzugrübeln; vielleicht würde sie niemals den Mut dazu aufbringen. Aber ganz gewiss waren ihre Gefühle nicht stark genug, um sie zum gegebenen Zeitpunkt daran zu hindern, ihre Pflicht zu tun. Oder etwa doch?
Nein, ganz bestimmt nicht.
Beauregard war ein Untoter. Er hatte es verdient zu sterben, oder zumindest in Asche verwandelt und an den Ort geschickt zu werden, wo er die Ewigkeit verbringen würde. Victoria hatte die Verpflichtung, die Welt von Vampiren zu befreien, wann immer sich ihr die Gelegenheit dazu bot.
Niemand würde sie davon abbringen. Noch nicht einmal der goldene Engel Sebastian.
Victoria musste irgendwann inmitten dieses Tumults widerstreitender Gedanken eingeschlafen sein, denn sie träumte von Dingen: von gemächlichen, sinnlichen, wogenden, erregenden Dingen … von dunklen, starken, metallischen, zornigen Dingen … von lauten, verdorbenen, Furcht erregenden Dingen.
Sie wachte auf, allerdings waren nicht die Träume der Grund, sondern Verbena, die sich über ihr Bett beugte. Ihre Hände lagen auf Victorias Schultern, so als hätte sie sie gerade geschüttelt.
»Mylady. Mylady, bitte kommen Sie zu sich.«
Als Victoria sich schließlich aufsetzte, lösten sich die letzten Schemen des Alptraums auf, und ihr Kopf wurde wieder klar. »Was ist los?«
Verbena reichte ihr ein kleines, zusammengerolltes Stück Papier, das nur aus einem der winzigen Behältnisse stammen konnte, wie die Brieftauben sie am Fuß trugen. Ein rascher Blick zum Fenster verriet Victoria jedoch, dass es nicht Myza war, die darauf wartete, ihre Antwort zu Wayren zu bringen. Es war inzwischen so taghell geworden, dass es bereits weit nach Sonnenaufgang sein musste.
Mit trockener Kehle entrollte sie das Schriftstück. Komm unverzüglich.
Victoria hielt sich nicht damit auf, ihr feuchtes, zerknittertes Nachthemd gegen andere Kleidung zu tauschen, sondern warf sich einfach wieder den Herrenmantel über, den sie letzte Nacht getragen hatte, dann machte sie sich auf den Weg. Sie ließ sich von Oliver in der Kutsche fahren, stieg jedoch, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand ihr gefolgt war, viele Häuserblocks vor ihrem Ziel aus. Trotzdem brauchte sie keine dreißig Minuten bis zum Konsilium.
Schnell bekreuzigte sie sich, dann sprintete sie auf den Altar der Santo Quirinus zu und an ihm vorbei, durch die Geheimtür des Beichtstuhls, bevor sie leichtfüßig über die mittlere Stufe der kurzen Treppe in den verborgenen Korridor dahinter sprang und anschließend die bereits freiliegende Wendeltreppe hinunterrannte.
Ilias erwartete sie neben dem Brunnen. Sein Gesicht war ernst, und um seinen Mund lagen tiefe Sorgenfalten. »Folge mir.«
Sie eilte mit ihm durch einen aus Stein gehauenen Flur, den sie nie zuvor betreten hatte. Schließlich blieb er vor einer Tür stehen und bedeutete ihr, einzutreten.
Als Victoria die Tür öffnete, sah Hannever auf; er nickte ihr kurz zu, dann verließ er das Zimmer.
Der Raum war klein, jedoch gut beleuchtet und warm. Ein Teppich bedeckte den Fußboden; an einer der Wände stand ein Bett. Victorias Brust fühlte sich eng an, als sie auf die reglose Gestalt zuging, die dort unter den Decken lag. Sie hörte harsche Atemzüge, die klangen, als wären es die letzten, keuchenden Lebenszeichen des Mannes auf dem Bett. Und tatsächlich - als sie näher trat und sein Gesicht sah, als sie das Blut roch, begriff sie, dass sie exakt das waren.
Seine letzten, keuchenden Lebenszeichen.
Ein leiser Schrei entrang sich ihrer Kehle, als sie die Hand ausstreckte, um ihn zu berühren: sein strähniges, zur Hälfte geflochtenes, rotes Haar und den sehnigen Arm, der quer über der breiten Brust lag.
»Zavier«, flüsterte sie. »Was ist passiert?«
An einer leisen Bewegung in ihrem Rücken erkannte Victoria, dass sie nicht mehr allein war; ob Wayren bereits bei ihrem Eintreffen in dem Zimmer gewesen oder ob sie eben erst hereingekommen war, wusste sie jedoch nicht. »Sein Zustand ist sehr bedenklich«, erklärte sie mit ihrer ruhigen Stimme. »Ylito und Hannever haben getan, was sie konnten. Morgen werden wir wissen, ob er bei uns bleibt.«
»Oder ob wir ein weiteres Porträt in der Galerie aufhängen müssen.« Victorias Stimme brach. Nicht noch eines. Nicht schon so bald. Sie hob den Kopf und sah Wayren an. »Was ist geschehen?«
»Er hat Sebastian nachgestellt. Und Beauregard.«
Victorias Magen zog sich zusammen. »Nein.« Das hätte er nicht getan.
Oh Gott, doch, das hätte er. Sie hatte den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht vergessen, als er glaubte, verraten worden zu sein. Seinen fassungslosen Schmerz. Die Ungläubigkeit.
Würde sein Tod der nächste sein, an dem sie sich die Schuld geben musste? Noch ein Tod, den sie hätte verhindern können, wenn sie eine andere Entscheidung getroffen hätte?
Verdammt, sie hatte nichts falsch gemacht! Sie hatte Sebastian nicht hierher gebracht. Sie hatte die Venatoren nicht verraten.
»Ich weiß nicht genau, was passiert ist. Er war kaum noch bei Bewusstsein, als wir ihn fanden. Das Einzige, was er sagte, waren die Namen ›Vioget‹ und ›Beauregard‹; den Rest haben wir uns zusammengereimt. Aber -«, sie machte eine Handbewegung in Richtung des Schotten, »- es ist ziemlich offensichtlich, was passiert sein muss.«
Zavier hatte sich inzwischen ein wenig bewegt, sodass Victoria nun die tiefen Wunden in seinem Fleisch, die von seinem Hals nach unten verliefen und dann unter den Decken verschwanden, sehen konnte. Seine Verletzungen stammten nicht nur von Fangzähnen.
Wer oder was auch immer der Täter war, hatte ihn fast, aber nicht ganz töten wollen.
Dieser Gedanke entfesselte eine mörderische Wut in Victoria. Mühsam unterdrückte sie das Zittern ihrer Finger, zwang sich zu langsamen, bedächtigen Bewegungen, denn sonst wäre sie explodiert.
Sie beugte sich nach unten, legte die Hände um Zaviers Kopf und flüsterte ein kurzes Gebet für ihn, die flehentliche Bitte, ihr zu vergeben und zu ihnen zurückzukehren … dann hauchte sie ihm einen sanften Kuss auf die Wange.
Als sie sich wieder aufrichtete, fing sie Wayrens Blick auf, und sie erkannte, dass die weise Frau sie verstand.
Sie ging zur Tür, lief den Korridor zurück und betrat gerade den Hauptsaal des Konsiliums, als sie Wayrens Stimme hinter sich hörte.
»Victoria.«
»Ich muss Max finden.« Sie blieb neben dem Brunnen stehen, als ihr bewusst wurde, dass Wayren vor allen anderen wissen würde, wo Max steckte. Sie spielte mit den Fingern an dem Kupferarmband in ihrer Manteltasche. »Ich werde Beauregard aufspüren und ihn töten. Ich will, dass Max mit mir kommt.«
Sie atmete tief ein, um sich zu beruhigen, um ihre Wut und Trauer zu beherrschen, während sie sich an Kritanus Warnung erinnerte, sich niemals von ihren Gefühlen hinreißen zu lassen. »Ich brauche Max. Weißt du, wo er ist?«
Wayrens Miene änderte sich nicht, doch sie streckte die Hand aus und legte sie behutsam um Victorias Arm. »Es gibt da noch etwas, das ich dir sagen sollte.«
Victoria stockte der Atem, als sie den Ausdruck in ihren Augen sah. »Was ist los?«
»Setz dich,Victoria.«