Kapitel 19
In welchem sich Max in die
Höhle des Löwen wagt
Sebastian hörte die
Stimmen gerade noch rechtzeitig, um in einen der leeren Räume -
zumindest hoffte er, dass er leer sein würde - zu schlüpfen. Es
wäre nämlich äußerst schwer zu erklären, warum er in den Katakomben
des Konsiliums herumlungerte, und zwar ganz in der Nähe der
Werkstatt dieses dunkelhäutigen Mannes, den die Venatoren als
Hermetiker bezeichneten.
Er wusste noch nicht einmal mit Bestimmtheit, ob
er seine Anwesenheit sich selbst gegenüber wirklich hätte
rechtfertigen können.
Ein leichtes Frösteln überlief seine Arme, als
er Wayrens Stimme erkannte. Er wollte nicht entdeckt werden, und am
allerwenigsten von ihr.Vor ihrem kurzen, unbefriedigenden Treffen
gestern hatte er sie jahrelang nicht gesehen, sich aber trotzdem
noch immer daran erinnert, dass die Art, wie sie ihn - und jeden
anderen - ansah, stets den Eindruck erweckte, als könnte sie tief
in seine Seele blicken.
Nicht, dass Sebastian sich dessen, was tief in
seiner Seele war, geschämt hätte. Nein, denn sie verbarg nichts
Verwerflicheres als seine Loyalität gegenüber jenen, die er liebte.
Vielleicht war diese Loyalität unbequem und manchmal auch zu stark,
doch sie war alles, was er hatte.
Sie und sein gutes Aussehen, welches zu nutzen
er nur selten zögerte, um seinen Willen zu bekommen.
Wayren war offensichtlich auf dem Rückweg aus
besagter Werkstatt und wurde glücklicherweise auch noch von deren
Inhaber begleitet. Sobald sie an ihm vorüber waren, lief Sebastian
schnurstracks zu der geschlossenen Tür.
Mit angehaltenem Atem klopfte er leise an.
Als ihm nur Stille antwortete, drückte er
dagegen und schob sie gerade so weit auf, dass er sich
hindurchzwängen konnte.
Die Papiere sollten eigentlich hier sein; es war
der logischste Ort, und wenn Wayren etwas war, dann logisch. Es war
deshalb wahrscheinlich, weil der Hermetiker - Sebastian wünschte
sich, er könnte seinen Namen behalten - derjenige sein würde, der
sie studierte.
Der Arbeitsraum war schlicht, sauber und gut
organisiert. Auf einem leicht abgeschrägten Tisch befand sich ein
Stapel Bücher, von denen eines mithilfe eines seltsamen
Metallobjektes, das die Form eines lang gezogenen S hatte, offen
gehalten wurde. Wo waren die Aufzeichnungen aus dem Labor der
Villa? Hatte er sich getäuscht?
Dann sah er etwas … das musste es sein.
Dicke, braune Papiere, die zum Schutz mit einer
dünnen Wachsschicht überzogen und durch eine dünne Lederkordel zu
einem Buch gebunden waren.
Sebastian fuhr mit den Fingern darüber, dann
blätterte er rasch durch die Seiten. Er suchte eine bestimmte. Nur
eine einzige Seite, deren Fehlen gewiss nicht bemerkt werden würde.
Nicht zuletzt, da sie beinahe einhundertvierzig Jahre lang unter
Verschluss gehalten worden war.
Doch für ihn konnte sie alles bedeuten. Und für
Beauregard.
Aaah.
Das hier musste sie sein.
Er hielt inne, um die Seite zu überfliegen. Dort
war die Zeichnung einer seltsam aussehenden Pflanze. Eigentlich
eher eine Blume, mit ihrem Kranz aus dichten, nach oben wachsenden
Blütenblättern, die sich gleich dem umgestülpten Rock einer Frau
nach außen wölbten, sowie einem dicken, geraden Stängel. Amorphophallus pusillum lautete die verblasste
Schrift darunter. Es folgte eine Liste weiterer Ingredienzien, oder
zumindest hatte es den Anschein. Ja, das war die Seite, die er
brauchte.
Ganz behutsam, um die Wachsschicht nicht zu
beschädigen und das Fehlen der Seite so unauffällig wie möglich zu
machen, riss er sie heraus. Niemand würde bemerken, dass sie nicht
mehr da war. Dann legte er das Buch zurück an seinen Platz.
Sebastian verließ das Labor ebenso schnell, wie
er es betreten hatte, bevor er sich auf den Rückweg durch die
Katakomben machte. Der schwierigste Teil lag erst noch vor ihm,
denn er musste in die Richtung zurückgehen, aus der er gekommen
war, also in den Bereich, wo er am ehesten Gefahr lief, Wayren,
Ilias oder - Gott bewahre! - Victoria zu begegnen.
Einmal glaubte er schon, entdeckt zu werden, als
er sich dann doch noch in allerletzter Sekunde um eine Ecke
flüchten konnte. Was sich als großes Glück herausstellte, denn es
war Victoria, die einem wütenden Wirbelsturm gleich - er konnte den
Zorn, den sie verströmte, beinahe körperlich spüren - an ihm
vorbeizischte. Zorn und noch etwas anderes.
Doch sie bemerkte ihn nicht, und dann war sie
auch sofort wieder verschwunden.
Mit einem Seufzer der Erleichterung glitt
Sebastian aus der Dunkelheit, um ihr zu folgen. Denn sie war im
Begriff, das Konsilium zu verlassen, und nachdem er nun hatte, was
er wollte, würde er dasselbe tun.
Als Victoria endlich an der frischen Luft auf der
Straße über dem Konsilium stand, war sie außer Atem. Ihre Kehle war
wie zugeschnürt. Sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.
Und verdammt sollte sie sein, wenn sie jetzt von neuem
weinte.
Es hatte schon zu viele Tränen gegeben.
Zu Beginn ihres letzten Gesprächs mit Wayren war
Victoria von verzweifelter Entschlossenheit beseelt gewesen, die
sich am Ende jedoch in fassungslose Sprachlosigkeit, Ungläubigkeit,
Trauer und schließlich rasende Empörung verwandelt hatte.
Max also auch?
Sie war von einem solch glühenden Zorn - auf
Beauregard, Zavier, Sebastian und Max, ja, selbst auf Wayren und
Phillip und Eustacia -, von derart betäubenden, übermächtigen
Emotionen erfüllt, dass sie blindlings aus dem auf der Via Tilhin
gelegenen Ausgang taumelte, den sie zuvor erst einmal benutzt
hatte. Im ersten Moment hatte sie nicht die leiseste Ahnung, wo sie
überhaupt war.
Erst als sie über eine zerbrochene Stufe vor dem
leeren Gebäude stolperte und dabei das Gleichgewicht verlor, kam
sie wieder zur Besinnung. Sie blieb stehen und schlang unter ihrem
Mantel die Arme um sich, verschmolz mit den Schatten zwischen zwei
Gebäuden, indem sie sich gegen eine getünchte
Hauswand lehnte. Dann begann sie, ihre widersprüchlichen Gedanken,
die Flut von Gefühlen und ihre instinktiven Wahrnehmungen zu
ordnen. Sie holte tief Luft, schloss die Augen und bat um göttliche
Führung.
Es dauerte eine Weile, bevor sie sie wieder
aufschlug und ihren Geist fokussierte. Dieser Mangel an
Konzentration, an klarem Denken, passte nicht zur Illa Gardella.
Victoria war froh, dass niemand Zeuge ihrer Unsicherheit und Trauer
geworden war.
Sie wusste längst, was sie tun musste.
Allerdings hatte sie gehofft - gewollt -, dass Max sie
begleitete.
Und nun hatte Wayren ihr gesagt, dass sie ihn
wahrscheinlich nie wiedersehen würde.
Sie hatte erklärt, dass seine Erinnerung an
Victoria, an sie alle, zusammen mit seinen Fähigkeiten als Venator
erloschen war. Er hatte sich für diesen Weg entscheiden müssen, um
sich von Lilith zu befreien, und würde nun in die normale Welt
zurückkehren, um in ihr den Rest seines Lebens zu verbringen.
Er hatte sie zuvor nicht mehr sehen
wollen.
Das war vielleicht der größte Schlag von
allen.
Victoria hatte den Grund nicht verstanden … aber
vielleicht verstand sie ihn nun, während sie tief und gleichmäßig
atmete und dabei die vereinzelten Sterne am Himmel
betrachtete.
Er war so stolz. So arrogant und stolz und
selbstherrlich, dass er von ihr nicht - nein, sie musste diese
Bürde nicht allein tragen -, dass er von niemandem in seinem Augenblick der Schwäche und
Verwirrung hatte gesehen werden wollen.
Trotz ihres Zorns auf ihn und seine überhebliche
Art konnte sie ihn auf gewisse Weise verstehen. Denn wenn sie
selbst diesen
Teil ihres Lebens unter derartigen Umständen aufgeben müsste, wäre
auch sie verloren.
Venator zu sein war ein wichtiger Teil von ihr
geworden. Vielleicht sogar der einzige, der zählte.
Victoria spürte, wie sich ihre Lippen vor
Verbitterung verzogen, als sie daran zurückdachte, wie unbekümmert
sie Bälle und andere Abendgesellschaften besucht, Verehrer
abgewimmelt und mit Phillip geflirtet hatte, während sie
gleichzeitig versucht hatte, ihre Liebe zu ihm mit ihren
nächtlichen Vampirjagden in Einklang zu bringen. Inzwischen
definierte sie sich fast ausschließlich über ihre Rolle als
Venator.
Es war nur noch wenig übrig von Victoria
Gardella Grantworth, der Debütantin, dann Ehefrau - und nun Witwe -
des Marquis von Rockley.
Wenn sie dieses Leben also aufgeben müsste, wer
wäre sie dann noch?
Aus diesem Grund verstand sie ihn.
Sie verstand, und so kauerte sie nun allein in
der kalten Abendluft und weinte, bevor sie wieder von Zorn erfasst
wurde. Und spürte, wie die Entschlossenheit in ihr wuchs.
Sie sah erst auf, als ein Schemen auf der Straße
vor ihr vorbeieilte.
Da sie sich noch immer in der Dunkelheit
verborgen hielt, bemerkte er sie nicht, doch Victoria sah ihn, und
sie erkannte die geschmeidigen Bewegungen, die eleganten Schritte,
das zerzauste, lockige Haar und den Schwung seines gut
geschnittenen Mantels.
Wieder machte sich dieses scheußliche Gefühl in
ihrem Magen breit, ihre Kehle wurde kratzig und trocken. Er war aus
derselben Richtung gekommen wie sie, von der Via Tilhin, wo das
verlassene Gebäude stand, das Zugang zum Konsilium gewährte. Also
hatte sie sich zuvor doch nicht geirrt, als sie glaubte, eine
hastige Bewegung in dem verlassenen Korridor gesehen zu
haben.
Es konnte kein Zufall sein, dass er ein weiteres
Mal dort gewesen war. Nicht heute Nacht.
Nicht nach dem, was mit Zavier und Nilly
geschehen war. Nicht nach dem, was Beauregard getan hatte.
Mit zusammengepressten Lippen folgte sie
ihm.
Sobald Max sich zu regen begann, hörte Wayren
auf, das empfindliche, gewellte Manuskript zu lesen, mit dessen
Studium sie sich die Zeit vertrieben hatte. Sie verstaute es
zusammen mit der rechteckigen Brille in ihrer alten Ledertasche,
dann wartete sie.
Sie wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis
Max vollständig wach wäre, aber da er sich gerade zum ersten Mal
leise bewegt hatte, ging sie davon aus, dass es bald geschehen
würde. Sie wusste, dass sie hier sein musste, wenn er zu sich kam.
Während der ganzen Zeit war sie nur ein einziges Mal weggerufen
worden: als man Stunden zuvor den bewusstlosen Zavier ins Konsilium
gebracht hatte und kurz darauf Victoria eingetroffen war.
Wayren war nicht übertrieben empfindlich, doch
die Erinnerung an Victorias Gesicht beim Anblick Zaviers, die
Fassungslosigkeit, Wut und Furcht, die über ihre schönen Züge
geglitten waren, würde sie so schnell nicht vergessen.
Eine solch schreckliche Wut.
Sie flößte ihr Angst ein.
Max’ leises Stöhnen lenkte sie von ihren
Gedanken ab. Die goldene Scheibe lag, ihre Kette einer Schlange
gleich um sie gerollt, auf dem Tisch neben ihm. Er bewegte sich
wieder, wurde langsam ruhelos, hob seine große Hand, so als wollte
er irgendetwas abwehren, dann ließ er sie schwer auf den Tisch
fallen, sodass die Lampe und die Ohrstecker, die seiner Schwester
gehört hatten, erzitterten.
In der Hoffnung, ihn zu beruhigen, nahm Wayren
seine warme Hand zwischen ihre beiden kleineren, wobei sie seine
aufgeschürften Fingerspitzen und die eingerissenen Nägel bemerkte,
die aussahen, als hätte er versucht, eine Mauer zu erklimmen.
Sie wusste vieles über die Vergangenheit und die
Zukunft, über mögliche und über wahre Dinge, über Gut und Böse …
trotzdem wusste sie nicht, ob Ylitos Rechnung aufgehen würde. Sie
würde es erst erfahren, wenn Max wach war und sie das goldene
Pendel benutzt hatte, in dem sie seine Erinnerungen
verwahrte.
Als hätte sie ihn mit ihren Überlegungen
aufgeweckt, schlug er nun plötzlich die Augen auf, die dunkel und
klar waren. Sie ließ seine Hand los und beobachtete, wie sich seine
Finger verkrampften.
»Max.«
Er setzte sich halb auf, sodass ihm die Decken
auf die Hüfte rutschten, dann schaute er sie an. »Ja. Wo bin
ich?«
Sie sah, dass die Bissmale verschwunden waren.
Sein Hals, der in einer anmutigen Linie in seine breiten, kräftigen
Schultern überging, war glatt und unversehrt. Doch er schien seinen
Namen wiederzuerkennen und sich in seinem Körper wohl zu
fühlen.
»Du bist in Sicherheit, Max. Ich bin Wayren.«
Sie wartete ab.
Er nickte, doch sie wusste, dass er sich nicht
erinnerte. »Wayren. Warum bin ich hier? War ich krank?«
»Auf gewisse Weise ja. Bitte trink dies,
anschließend werde ich dir alles erklären.« Sie reichte ihm einen
Metallbecher, der mit einem weiteren von Ylitos Kräutersuden
gefüllt war.
Er zögerte, schnupperte daran. Zögerte noch
immer.
Sie lächelte. »Wenn ich dich töten wollte, hätte
ich dazu ausreichend Gelegenheit gehabt, während du geschlafen
hast.«
Er nickte, dann trank er.
Als er wieder aufsah, ließ Wayren das Pendel in
ihrer Hand kreisen. Sie begann vor sich hin zu murmeln, um die
spirituellen Kräfte herbeizurufen und um Hilfe zu bitten, während
sie beobachtete, wie sein Blick von der runden Scheibe gebannt
wurde.
An der plötzlichen Anspannung seines Gesichts
und seiner Schultern, dem vertrauten, scharfen Ausdruck seiner
Augen erkannte Wayren sofort, dass sein Erinnerungsvermögen
zurückgekehrt war. Er streckte die Hand nach seiner winzigen,
grazilen vis bulla aus und hob sie auf,
dann schloss er die Augen und holte tief Luft.
Als er sie kurz darauf wieder öffnete, lag ein
trostloser Ausdruck in ihnen. »Nichts. Ich fühle nichts.«
Wayren nickte. »Aber du erinnerst dich.«
»Ja.« Er schwang die Füße vom Bett. »Wie spät
ist es? Ich muss gehen.«
»Es ist Mittag. Aber du kannst nicht einfach so
davonstürzen, Max.«
Er war inzwischen halb aufgestanden, doch bei
ihren Worten ließ er sich schwer wieder aufs Bett sinken.
»Natürlich nicht. Ich bin nur noch die Hülle eines Venators. Ich
verfüge über das Wissen und die Fähigkeiten, jedoch nicht über die
erforderliche Kraft und Stärke. Nur eine Hülle.«
»Du wirst nicht allein gehen.«
Er verzog seinen schönen Mund. »Ich mag zwar
kein Venator mehr sein, aber ich bin nicht hilflos. Ich habe schon
Vampire und wenigstens einen Dämon getötet, bevor ich meine
vis bulla erhielt, Wayren. Du weißt
das.«
»Erinnerst du dich noch, worum du mich bitten
wolltest, kurz bevor du eingeschlafen bist? Ich sollte Victoria
etwas ausrichten.«
Er erstarrte, und sein Gesicht wurde
ausdruckslos. »Du hast sie doch nicht hierher gebracht?«
Wayren schüttelte den Kopf. Er hatte ihr das
Versprechen abgenommen, dass niemand ihn sehen würde - vor allem
nicht Victoria. »Nein, nur Ylito war hier.«
»Was habe ich gesagt? Hast du es an sie
weitergegeben?«
Sie fühlte seine Anspannung; es war, als würde
sie wie eine schwere Decke über ihnen in der Luft schweben. Sie
wusste viel, doch jetzt wusste sie sogar noch mehr. »Ich sollte ihr
von dir ausrichten, dass es dir leidtäte.«
Da sie entblößt waren, konnte sie sehen, wie
sich seine breiten Schultern fast unmerklich bewegten, während er
sich ein Stück weit entspannte. »Ich kann mir gut vorstellen, wie
sie diese Worte aufgenommen hat.«
Wayren schaffte es nicht, ein Lächeln zu
unterdrücken.
Nichts an dieser Situation war komisch - weder jetzt noch
irgendwann. Aber sein Gesichtsausdruck gehörte zu dem Max, den sie
kannte. Gott sei Dank. »Nun, sie fand eine
entsprechende Erwiderung.«
Als er nun wieder aufstand, konnte Wayren die
Energie in seinen Muskeln förmlich sirren hören, sie spürte seinen
übermächtigen Drang, sich zu bewegen, etwas zu tun, diesen Raum zu
verlassen; es war fast so, als steckte sie selbst in seinem Körper.
»Ich werde nur eine einzige Person mitnehmen«, verkündete er,
während er nach den Kleidungsstücken griff, die gefaltet auf einem
Stuhl lagen. »Weiß? Das ist bei Nacht viel zu auffällig.« Er
betrachtete stirnrunzelnd das Hemd. »Es wird geradezu leuchten.
Zavier. Ich entscheide mich für Zavier.«
»Briyani und Michalas werden dich
begleiten.«
Er musste ihre Miene richtig gedeutet haben,
denn er beharrte nicht auf seinem Wunsch. Es würde später noch Zeit
genug sein, ihm alles zu erzählen. Doch für den Moment … »Sobald du
dich umgezogen hast, werden wir unseren genauen Schlachtplan
besprechen. Keine Sorge, Max; du wirst dich schon bald auf den Weg
machen können.«
»Heute Nachmittag. Ich will es so schnell wie
möglich hinter mich bringen.«
Um sein Leben weiterleben zu können. Er wollte
es hinter sich bringen und sein Leben leben.
Er sprach es nicht aus, aber das musste er auch
nicht. Wayren verstand ihn auch so.
Max begriff erst jetzt, wie sehr er die
Gesellschaft Briyanis vermisst hatte. Der junge Mann war nicht nur
sein eigener Komitator,
sondern auch Kritanus Neffe. Kritanu hatte sie beide zusammen
trainiert und, während er Max in die Grundtechniken eingewiesen
hatte, Briyanis Kampfkünste so weit perfektioniert, dass dieser
Max’ weitere Ausbildung übernehmen konnte, als sein Onkel älter
wurde.
Zwar hatte Kritanu Victorias Training trotz
seines Alters und seiner angeblich zunehmenden Gebrechlichkeit
nicht aufgegeben, doch Max verübelte ihm das nicht. Es war gut,
dass er Eustacias Nichte, die gleichzeitig die nächste Illa
Gardella sein sollte, persönlich unterrichtete.
Briyani nun an seiner Seite zu haben rief Max
jene frühen Jahre in Erinnerung, als er noch ein Einzelgänger
gewesen war und sich vom Konsilium ferngehalten hatte, während er
seine Kämpfe gegen die Untoten - und gegen sich selbst - austrug.
Mit knapp dreißig war Kritanus Neffe, der dieselbe drahtige Statur
besaß wie sein Onkel und ihm auch wegen seines bronzefarbenen
Gesichts mit dem eckigen Unterkiefer stark ähnelte, ein paar Jahre
jünger als Max. Er trug das glatte, schwarze Haar zu einem
einzelnen Zopf geflochten, der ihm bis zur Taille reichte; und sein
Talent im Umgang mit einem kadhara-Schwert
suchte seinesgleichen. Als sich die beiden nun über den
rückwärtigen Teil des Anwesens der Villa Palombara näherten,
brauchten sie keine Worte, um sich zu verständigen.
Michalas folgte ihnen still, schlank und schnell
wie eine Nebelschwade und bildete die Nachhut. Wayren hatte ein
gutes Team zusammengestellt, doch die Verantwortung lag allein bei
Max. Er führte seine Gefährten durch den verwilderten Garten mit
seinen unbeschnittenen Bäumen, dann passierte er die
Mauer, vor der er Victoria geküsst hatte, ohne sie auch nur eines
Blickes zu würdigen.
Sie erreichten das Alchimistische Portal ohne
Zwischenfälle und in wesentlich trockeneren Stiefeln und
Kleidungsstücken als in der Vornacht. Max öffnete die Tür rasch und
lautlos. Als er zusammen mit Victoria hier gewesen war, hatte er
Hinweise auf eine Öffnung gefunden, die zu dem Verlies führte, in
dem sie eingesperrt gewesen waren. Obwohl er diesen geheimen Zugang
noch nicht ausprobiert hatte, hielt er ihn für den besten Weg, um
unbemerkt zu Akvans Versteck vorzudringen.
Akvan. Dank Wayrens Recherchen und der
Unterstützung Ylitos und Miros fühlte Max sich so gut vorbereitet,
wie das nur möglich war.
»Der Trick bei Akvan«, hatte Wayren ihm erklärt,
»besteht darin, Nutzen aus seiner großen Schwäche zu ziehen: Er
wird stets das genaue Gegenteil von dem tun, was du willst, dass er
tut. Oder von dem er denkt, dass du es willst. Verwende dieses
Wissen gegen ihn, dann wirst du ihn übertrumpfen.«
Woraufhin Ylito ergänzt hatte: »Du musst jedoch
sicherstellen, dass keine Reste des Obelisken erhalten bleiben. Es
ist unbedingt nötig, sie zu zerstören, wenn du Akvan vernichten
willst. Denk an die Prophezeiung.«
Die Prophezeiung.
… es wird die Hand eines
bloßen Sterblichen sein, die ihn für immer in die Eingeweide der
Hölle verbannt, indem sie seine eigene Stärke gegen ihn
richtet.
Die Hand eines Sterblichen.
Nachdem sie das Alchimistische Portal hinter
sich geschlossen hatten, machten Max und seine Begleiter sich zügig
auf
die Suche nach dem Mechanismus, der die Tür zu der Gefängniszelle
öffnen würde. Entweder hatte Palombara nichts von ihr gewusst - was
angesichts der Tatsache, dass dies sein Labor gewesen war, absurd
erschien - oder aber er hatte nicht die Chance gehabt, sie in der
Nacht seines Todes zu benutzen.
Briyani, der über ein exzellentes Gehör und
geschickte Finger verfügte, war schließlich derjenige, der den
Hebel hinter einem der Steine entdeckte. Max war eine Sekunde
später bei ihm, und gemeinsam spähten sie durch die schmale Öffnung
in die dahinterliegende Finsternis.
Michalas holte eine der Wandfackeln, um mit ihr
die Zelle auszuleuchten, in der Max, Victoria und Sebastian
gefangen gewesen waren. Als er anschließend zu Boden sah, entdeckte
er zu seinen Füßen wieder diese verräterischen Tropfen
geschmolzenen Goldes.
Nachdem der einfache Teil nun hinter ihnen lag,
musste er seinen Plan nun zügig in die Tat umsetzen.
Doch bevor er das tat, machte Max rasch noch
einmal kehrt, um den langen Splitter von Akvans Obelisken zu holen,
den Victoria gefunden hatte. Mithilfe der Handschuhe, die ihn vor
seiner bösen Strahlung schützten, verstaute er ihn in der geheimen
Tasche, die Miro in sein Hosenbein genäht hatte, als sein Blick
plötzlich auf das Lederband mit dem kleineren Stück fiel, das er
gestern aus Victorias Manteltasche hatte fallen sehen. Er hatte es
vorsorglich ebenfalls hier im Labor versteckt, doch nun griff er
danach und stopfte es zu dem anderen in seine Tasche.
Er hatte Victoria am Vortag aus zwei Gründen zum
Alchimistischen Portal begleitet: Zum einen, um herauszufinden, ob
es tatsächlich einen Zugang zur Villa gab, und zum anderen,
um sicherzugehen, dass sie den Splitter hier zurückließ, denn dies
war für seinen Plan, Akvan zu vernichten, zwingend
erforderlich.
»Kommt«, forderte Max seine Gefährten auf, bevor
er ihnen voraus in das Verlies trat.
Nachdem er sich durch einen kurzen Test
vergewissert hatte, dass sich die Tür zum Labor anschließend wieder
öffnen lassen würde - eine Unternehmung, die ihm alles andere als
leicht von der Hand ging -, schlossen sie sie hinter sich und
durchquerten dann die kleine Zelle.
Max hatte Briyani und Michalas den ersten Teil
seines Plans erklärt, und so blieben sie, nachdem sie aus dem
unverschlossenen Verlies in den Korridor getreten waren, für einen
Augenblick stehen. Max sah Michalas an, der ihm mit einem
Kopfschütteln zu verstehen gab, dass er keine Untoten in der Nähe
witterte.
Doch ein paar Schritte weiter legte der Venator
plötzlich den Kopf schräg und schloss die Augen, dann deutete er
nach vorn. Auf lautlosen Sohlen bewegten sie sich, angeführt von
Max, in die von ihm angezeigte Richtung. Als sie sich einer
Abzweigung näherten, spürte er, wie Michalas ihn am Ärmel zupfte.
Er drehte sich zu ihm um, und der Venator nickte ihm zu.
Von plötzlichem Zorn übermannt, bog Max um die
Ecke. Das Gefühl in seinem Nacken war unverändert - kein Kribbeln,
kein Kältegefühl, das ihn auf die Präsenz von Vampiren aufmerksam
gemacht hätte, die Michalas ebenso leicht witterte, wie er atmete.
Es stimmte also: Seine Fähigkeiten waren erloschen.
Es war Lilith gelungen, ihm alles zu
nehmen.
Die Untote lehnte bequem vor ihnen an der Wand;
vermutlich
war sie dort postiert, um den Gang zu bewachen. Als Max nun in
Sicht kam, richtete sie sich mit vor Interesse rot funkelnden Augen
zu voller Größe auf.
Er blieb gelassen. Er war gebissen worden, bevor
und nachdem er zum Venator geworden war; genauso wie er zuvor und
danach Vampire erschlagen hatte. Dennoch nagte es an ihm, dass er
Briyani und Michalas zur Unterstützung hatte mitnehmen müssen.
Gleichzeitig war es ein kluger und logischer Schachzug gewesen -
und er hatte Victoria bei Gott mehr als einmal darüber belehrt,
dass die Pflicht eines Venators darin bestand, das Richtige zu tun,
und nicht das, was er eigentlich wollte.
Deshalb ließ er es nun zu, dass die Vampirfrau
auf ihn zukam, ihn bei den Schultern packte und versuchte, ihn mit
den Augen zu hypnotisieren. Sie war nicht sehr stark, was
angesichts der Tatsache, dass Regalados Anhänger jung und
unerfahren waren, nicht überraschend schien. Ihr Atem roch sauber,
also hatte sie nicht erst kürzlich getrunken; das machte es ihm
wesentlich leichter, sie dazu zu animieren, ihn in den Hals zu bei
ßen. Er täuschte vor, vollständig unter ihrem Bann zu stehen, und
bot ihr mit zur Seite gelegtem Kopf seinen Hals an.
Möglicherweise hatte man die Wache haltende
Untote angewiesen, jedes potenzielle Opfer zu Akvan oder Regalado
zu bringen, doch da sie schon länger nicht mehr getrunken hatte und
Max ihr sein Blut so bereitwillig offerierte, zögerte sie
nicht.
Ohne auch nur einen Funken von Liliths
verführerischer Geschmeidigkeit rammte sie ihm die Fangzähne so
grob in den Hals, dass Max vor Überraschung leicht zusammenzuckte.
Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass er jetzt schwächer
war. Schwach und verloren. Er war schwach, und seine Sicht trübte
sich.
Er tastete nach seinem Pflock, fühlte das
vertraute Gewicht in seiner Hand und zog ihn unter seinem Mantel
hervor, während das Blut aus seinem Körper strömte. Die Frau saugte
so gierig und ungestüm, dass er, wenn er nicht bald handelte, das
Bewusstsein verlieren würde oder, schlimmer noch: von den anderen
gerettet werden müsste.
Es war weder sein kräftigster Stoß noch sein
treffsicherster, trotzdem empfand Max rasende Befriedigung, als er
die Untote pfählte, indem er ihr den Eschenpflock in den Rücken
trieb.
Ihm war schwindelig, sein Hals schmerzte und
tropfte, aber er war noch immer auf den Füßen. Er blinzelte den
dunklen Nebel vor seinen Augen weg und sah Briyani, der mit seinem
Pflock in der Hand dastand, als wäre er gerade erst um die Ecke
gekommen. Michalas wartete, seinen Pflock ebenfalls angriffsbereit
gezückt, direkt hinter ihm.
Max, der sich über die Besorgnis auf ihren
Gesichtern ärgerte, drehte sich um und wollte sich schon wieder in
Bewegung setzen, als Briyani ihm die Hand auf den Arm legte.
»Warte.« Die Sanftheit, die in seiner Stimme und
seiner Berührung lag, ließ Max vor Zorn mit den Zähnen knirschen,
aber er wusste, dass der Komitator Recht hatte.
Das gesalzene Weihwasser auf seinen offenen
Wunden war ein ebenso qualvoller wie notwendiger Schock, und Max
war froh, dass sein Freund gehandelt hatte. Es würde die Blutung
verlangsamen und allmählich auch dem unablässigen Pochen der Wunde
ein Ende setzen.
»Ihr müsst jetzt umkehren und auf mich warten«,
erklärte Max, den Schmerz ignorierend. »Es nützt mir nichts, wenn
man euch entdeckt, deshalb versteckt euch, so wie wir es besprochen
haben. Ich werde zu gegebener Zeit zurückkehren. Oder eben
nicht.«
»Ich werde dich begleiten«, sagte Briyani
entschlossen. »Du kannst nicht allein gehen.«
»Ich kann, und ich werde. So lautet unsere
Vereinbarung.« Max fixierte ihn mit seinem schärfsten Blick, um ihn
zur Einsicht zu bringen.
Briyanis strahlend weiße Zähne blitzten in einem
humorlosen Lächeln auf. »Das war deine Vereinbarung, nicht meine.
Michalas und ich haben das Ganze besprochen; er wird warten, und
ich werde mit dir kommen. Ganz gleich, ob nun an deiner Seite oder
hinter dir; du kannst dir sicher sein, dass ich da sein
werde.«
»Ich bin kein Kind, das man am Gängelband
führt.«
»Und ich bin kein Hund, den man
herumkommandiert.«
Während Max Briyani noch immer finster anstarrte
und Lilith insgeheim dafür verfluchte, dass sie ihn in diese Lage
gebracht, und Wayren, weil sie ihm seine verdammten Erinnerungen,
aber sonst nichts zurückgegeben hatte, trat Michalas vor. »Sie
kommen. Wir haben keine Zeit für Diskussionen. Ich werde wie
verabredet in der Zelle auf dich warten, und falls du nicht binnen
zweier Stunden zurück bist, werde ich dich suchen kommen.« Den
Blick seiner strahlend blauen Augen auf Max gerichtet, fügte er
hinzu: »Da ich die feste Absicht hege, diesen Ort lebend zu
verlassen, solltest du besser zurückkommen, Pesaro.«
Er zeigte nach links, dann marschierte er auf
leisen Sohlen in die entgegengesetzte Richtung davon.
Mit einem mörderischen Blick zu Briyani setzte
sich nun auch Max in Bewegung und bog, wie von Michalas instruiert,
nach rechts ab. Die eine Hand zur Faust geballt, mit der anderen
seinen Pflock umklammernd, fühlte er die Anspannung in beiden
Armen.
Doch dann zwang er sich dazu, seine Muskeln zu
lockern. Früher hätte er Briyani als Begleitschutz ohne Weiteres
akzeptiert, und heute würde er ihn vielleicht dringender brauchen
als je zuvor. Sosehr es ihn auch erzürnte, sich seine eigene
Schwäche eingestehen zu müssen, es ließ sich nun mal nichts daran
ändern.
Er war nicht mehr derselbe Mann wie zuvor.
Trotzdem trat Max, als er und Briyani einer
Gruppe von vier Vampiren begegneten, ihnen voller Mut und
Selbstvertrauen entgegen.
»Mein Name ist Maximilian Pesaro.« Er musterte
die Untoten mit dem Hochmut des Venators, der er nun nicht mehr
war. »Führt mich zu Akvan.«