Kapitel 24
In welchem ein eisiger
Luftzug zu spüren ist
Victoria murmelte etwas,
dann wälzte sie sich ruhelos hin und her. Es war das erste Mal,
dass sie sich bewegte, seit sie das Zimmer betreten hatten.
Sebastian strich ihr die weichen, samtigen Locken, die sich aus dem
Zopf befreit hatten, aus der
Stirn. Ihre Haut war feuchtkalt und noch immer so schrecklich
blass.
Dies würde das letzte Mal sein, dass er sie
berührte. Er betrachtete ihre Lippen, die sanfte Linie ihres Kinns
und dachte daran, wie trotzig und halsstarrig sie es immer
vorgereckt hatte, wenn sie gerade mal wieder vorgab, ihn nicht
ebenso zu begehren, wie er sie begehrte. Nun würde er niemanden
mehr haben, den er in einer Kutsche verführen, den er necken und in
seine Arme schließen konnte.
Die Wunde von ihrem Pflock schmerzte und blutete
noch immer, und das rief ihm wieder in Erinnerung, warum sie hier
lag und wie er sie in Beauregards Schlupfwinkel gefunden hatte. Wer
sie dorthin geführt hatte und warum. Wie sie beide von seinem
Großvater manipuliert worden waren.
Er saß nun schon seit Stunden hier - seit
Hannever und Ylito das beendet hatten, was auch immer sie mit
Zaviers Blut anstellen wollten, und ihm und Pesaro erlaubt worden
war einzutreten. Irgendwie hatten sie es Victoria mithilfe eines
Röhrchens eingeflößt, doch es schien nicht das Geringste geholfen
zu haben. Sein Nacken war noch immer kalt, und sie lag noch immer
kalt und bleich auf ihrem Bett.
Dann stöhnte sie erneut, und Sebastian sah auf.
Sein Blick begegnete Pesaros über Victorias Körper hinweg. Es gab
keine Hoffnung mehr, nur noch düstere Entschlossenheit. Auf dem
Tisch neben Pesaro lag ein Pflock; Sebastian hatte keinen Zweifel,
dass er nicht zögern würde, ihn zu gebrauchen.
Kaltherzig wie er war.
Wayren und Ylito hatten sich in eine Ecke
zurückgezogen, wo sie irgendein altes Manuskript studierten. Ihr
Anblick erinnerte
Sebastian daran, dass sich die Seite, die er aus dem Konsilium
gestohlen hatte, noch immer in Beauregards Versteck befand.
Er würde hingehen und sie suchen, sobald …
sobald dies hier vorüber war.
In diesem Moment begannen Victorias Lider zu
flattern, und die Atmosphäre im Raum veränderte sich. Sie wurde
dichter und erstickender, und niemand schien mehr zu atmen.
Wayren stand plötzlich am Fußende des schmalen
Bettes. Ylito nahm seinen Platz am Kopfende ein, und noch bevor
Sebastian ganz begriffen hatte, was geschah, hörte er ein weiches
Schaben, gefolgt von einem leisen Klirren. Pesaro tat irgendetwas
an seiner Seite des Bettes, während Wayren und Ilias sich am
Fußende zu schaffen machten.
Fesseln.
Lieber Himmel, Fesseln.
Wie schrecklich demütigend für sie.
Er tastete nach den weichen Ledermanschetten und
der Metallverankerung an seiner Seite, fand sie und ließ sie wieder
los. Er konnte es nicht tun.
Victoria atmete nun heftiger, und ihre Lider
zuckten wie wild. Sie bewegte eines ihrer Beine und öffnete die
Lippen, warf den Kopf zur Seite. Sie versuchte, den Arm zu heben,
aber er wurde festgehalten … allerdings nicht von einer Fessel,
sondern von Pesaro. Er hatte die Finger um ihr Handgelenk
geschlossen und drückte es nach unten auf die Bettkante.
Dann schlug sie plötzlich die Augen auf. Sie
öffnete sie ganz weit und blickte sich um. Sie waren nicht rot,
sondern hatten dieselbe braungrüne Farbe wie immer.
Alle schienen gleichzeitig die Luft anzuhalten,
während sie warteten. Ylito bewegte sich am Kopfende, und Sebastian
sah, dass er nach etwas auf dem Tisch griff.
Nein. Nicht der Pflock. Nicht jetzt schon.
Doch dann erkannte er, dass er noch immer an
derselben Stelle lag wie zuvor.
»Was …«, stieß Victoria aus, während sie den
Blick langsam von einem zum anderen wandern ließ. »Beauregard!« Sie
versuchte sich aufzusetzen, als plötzlich ein verstörter Ausdruck
über ihre Züge glitt.
Ylito trat zu ihr, dann spritzte etwas durch die
Luft und regnete auf ihr Gesicht nieder, noch bevor Sebastian es
verhindern konnte. Nicht ihr Gesicht!
Doch Victoria kreischte weder, noch versuchte
sie, dem Weihwasser-Guss zu entgehen, sondern drehte einfach nur
den Kopf zur Seite. So als wäre es nicht mehr als ein leichter
Sommerregen, vor dem sie sich schützen wollte.
»Warum habt ihr das getan?«, fragte sie mit nun
festerer Stimme.
Etwas veränderte sich im Zimmer. Es war, als
wäre plötzlich ein Licht angezündet worden. Sie wechselten bange
Blicke, wagten kaum zu hoffen …
»Ist es möglich?«, fragte Ylito Wayren.
»Ich weiß es nicht.« Sie hatte sich neben
Sebastian gestellt, und er fühlte ihre offenkundige … war es
Erleichterung? Konnte es sein? Sie fasste nach unten, schloss die
Augen und strich mit den Händen über Victorias Gesicht und ihre
Schultern, während tief aus ihrer Kehle ein leises Summen
drang.
»Es sind die beiden vis
bullae.«
Daraufhin sahen sie alle zu Pesaro, dessen Miene
nun zum ersten Mal tatsächlich einen Ausdruck zeigte. »Sie trägt
zwei davon, habe ich Recht?«
Sebastian starrte ihn an. Wie zum Teufel konnte
er das wissen, wo er doch selbst keine Ahnung davon gehabt
hatte?
Wayren richtete sich auf, während sie die Hände
weiterhin in sanften, rhythmischen Bewegungen über Victorias Körper
gleiten ließ, so als wollte sie sie beruhigen … oder irgendwie
abmessen. »So muss es sein. Es gibt keine andere Erklärung. Durch
ihre vereinigte Stärke waren sie mächtiger als Beauregards Blut,
deshalb wurde Victoria nicht verwandelt.«
»Deshalb hat sie das Blut gebraucht«, ergänzte
Ylito. »Da ihr Körper das vergiftete Vampirblut nicht akzeptierte,
musste es durch das eines Sterblichen ersetzt werden.«
»Wovon sprecht ihr?«, verlangte Victoria zu
wissen. »Warum bin ich hier?«
Von plötzlicher, überwältigender Freude erfasst,
schaute Sebastian zu ihr herunter. Zum ersten Mal seit so vielen
Stunden empfand er etwas anderes als Leere und Schuld. Dem Himmel
sei Dank.
Aber als er dann nach ihrer kalten Hand fasste,
bemerkte er etwas Entsetzliches.
Sein Nacken war noch immer eisig.