Kapitel 12
Lord Jellington bekommt Konkurrenz
Victoria kämpfte sich aus ihrem Traum frei und fand laut keuchend in die Wirklichkeit zurück.
Ihre Haut war schweißnass und ihre Finger so verkrampft, dass sie sie kaum öffnen konnte. Die Bilder ließen sie selbst dann nicht los, als sie versuchte, sich auf den vertrauten Anblick ihres Schlafzimmers zu konzentrieren. Doch das Einzige, was sie sah, waren die letzten Schemen rot blitzender Augen, schimmernder, schwarzer Splitter, ein pechschwarzes Gesicht mit gebogenen, grünen Hörnern und einem bösartigen Grinsen. Max, Sebastian, Tante Eustacia, selbst Phillip … alle mit zu entsetzlichen Grimassen verzerrten, elastischen Gesichtern. Klauen. Ströme von Blut.
Sie zwang sich dazu, sich aufzusetzen und die Schreckensbilder des Alptraums abzuschütteln, während sie gleichzeitig versuchte, ihr wild klopfendes Herz in einen gemäßigteren Takt zu bringen. Schließlich griff sie nach der Klingelschnur, um nach Verbena zu läuten.
Ihre feuchten, zerwühlten Decken hingen halb aus dem Bett, und Sonnenlicht - so klar und rein im Vergleich zu der grausamen Niedertracht ihres Traums - fiel durch die dünnen Gardinen ins Zimmer. Anhand der Farbe und des Einfallswinkels der Strahlen erkannte Victoria, dass es schon weit nach Mittag sein musste.
Sie wollte gerade aus ihrem hüfthohen Bett klettern, als ein Ziehen an ihrer Seite sie daran erinnerte, dass Verbena sie früh an diesem Morgen unter viel Zungenschnalzen mit Salben und Bandagen versorgt hatte, bevor sie schlafen gegangen war.
Nachdem die Kugel durch den Körper des Vampirs gedrungen war, hatte sie ihre rechte Hüfte gestreift und eine tiefe Wunde hinterlassen. An ihrem linken Bein waren Kratzspuren und Blutergüsse gewesen, die inzwischen jedoch bestimmt schon verblassten.
Victoria saß auf der Bettkante, wobei ihre Zehen kaum den Boden berührten, und betrachtete sich im Spiegel ihres Frisiertisches. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und eine leichte Aufschürfung an der rechten Wange. Eigentlich sah sie gar nicht so schlecht aus.
Aber dann war da noch Max.
Nachdem er sie letzte Nacht zu Olivers Kutsche gebracht hatte, hatte er versucht, sie ohne ihn fortzuschicken. »Ich lasse dich nicht hier zurück«, hatte sie mit flacher Stimme geantwortet. »Du hast zu viel Blut verloren und musst deine Wunden versorgen lassen.«
Entweder verärgert oder aber belustigt bewegte Max den Mund, während sie einander dickköpfig anstarrten. »Sei doch nicht albern, Victoria. Dies ist nicht das erste Mal, dass ich etwas Blut verloren habe, und ich bezweifle, dass es das letzte Mal gewesen sein wird.«
»Ich bin jetzt die Illa Gardella, und ich -«
»Versuch nicht, mich herumzukommandieren,Victoria, denn das wird nur mit deiner Demütigung enden. Jetzt fahr nach Hause, und kümmere dich um deine eigenen Verletzungen.« Er drehte sich um und verschmolz mit den Schatten, bevor sie kurz darauf das unverkennbare Klirren von Zaumzeug, gefolgt von dem leisen Schnauben eines Pferdes hörte.
Ihr blieb damit nichts anderes übrig, als in die Kutsche zu klettern, in der Zavier wartete. Er sprach während der Rückfahrt zu Eustacias Villa (Victoria glaubte nicht, dass sie sie je als ihre eigene betrachten könnte, auch wenn dem so war) nur wenig, stattdessen beobachtete er sie, so als versuchte er herauszufinden, wer sie wirklich war.
Es war wirklich bedauerlich, dass er mitbekommen hatte, wie sie Sebastian geküsst hatte; besser gesagt wie Sebastian sie geküsst hatte, denn sie war bei dieser speziellen Gelegenheit eher passiv als aktiv gewesen. Aber das ließ sich nun nicht mehr ungeschehen machen. Sebastian hatte das Ganze zweifellos geplant, doch ob sein Motiv nun gewesen war, Max zu ärgern, indem er kostbare Zeit an eine solch frivole Nichtigkeit verschwendete, oder ob er seine Besitzansprüche hatte anmelden wollen, um Zavier damit eins auszuwischen, wusste sie nicht.
Doch das, was sie an der Situation am meisten beunruhigte, war die Tatsache, dass Max Recht gehabt hatte. Zavier war nicht nur verletzt und gekränkt, sondern Victoria begriff inzwischen auch, dass er auf keinen Fall der richtige Mann war, um mit ihm auf irgendeine Weise intim zu werden. Zumindest nicht für sie. Er war ein tapferer und fähiger Venator, der darüber hinaus auch zu einem guten Freund geworden war, aber trotzdem hatte ihr sein Kuss nicht das Geringste bedeutet. Unter den beiden Männern, die sie letzte Nacht geküsst hatten, war nur einer, den sie wieder küssen wollte.
Doch als sie sich jetzt von der Bettkante schob und die Füße auf den Gobelin stellte, der bei weitem nicht so behaglich war wie ihr dicker Aubusson-Teppich zu Hause in London, realisierte sie plötzlich verärgert, dass sie zu abgelenkt gewesen war, um Sebastian nach Eustacias Armband zu fragen.
Nicht, dass es sie Überwindung gekostet hätte, Sebastian zu küssen - das hatte es nicht im Mindesten, denn der Mann besaß überaus talentierte Lippen und Hände und … nun ja, noch ein paar weitere Mittel, um ihr Vergnügen zu bereiten. Aber für diese Art von Aktivitäten gab es bestimmte Zeiten und Orte; nur leider war Sebastian ein Meister darin, solcherlei Anstandsregeln zu missachten.
Es ertönte ein kurzes Klopfen an ihrer Schlafzimmertür, dann ging sie auf, und Verbena kam herein. »Ihre Mutter und die anderen Damen sind unten«, verkündete sie. In ihrem Kielwasser folgte eine kurze Prozession von Dienern, die eine Badewanne und Eimer voll Wasser trugen, um sie zu füllen. »Sie wollen Sie sehen, Mylady, und erfahren, was letzte Nacht mit Ihnen passiert ist.«
»Mist«, schimpfte Victoria leise. Sie musste eigentlich ins Konsilium.
»Und ich würde gern wissen«, fuhr Verbena fort, nachdem sie die Tür hinter dem letzten Diener geschlossen hatte, »wie das Korsett funktioniert hat. Damit ich es Oliver sagen kann und er endlich aufhört, mir deswegen auf die Nerven zu gehen. Bloß, weil es ihm zuerst eingefallen ist, heißt das noch lange nicht, dass er die Weisheit mit goldenen Löffeln gefressen hat. Aber Ihr Kleid, Mylady … wo sind denn nur die ganzen Rosen hingekommen?«
Victoria tauchte mit einem wohligen Seufzer in das heiße Wasser ein, während sie weiter dem tröstlichen Geplapper ihrer Zofe lauschte. Ihre Wunden brannten, doch wurde der Schmerz durch die Wonne des warmen Bades gelindert. Irgendwann würde sie Verbena sagen müssen, dass ihre Frisur sich, als die Vampire sie entwaffnet und ihr den Pflock abgenommen hatten, in Wohlgefallen aufgelöst hatte - ein Umstand, der künftig unbedingt vermieden werden musste, denn ihre langen Locken hatten sie stark behindert.
Als das Wasser schließlich lauwarm geworden war, stieg Victoria aus der Wanne und ließ sich von Verbena in ein großes Handtuch wickeln. Als sie sich anschließend umdrehte und an den Frisiertisch setzte, streckte die Zofe die Hand nach dem Sammelsurium aus, das auf ihm lag.
»Was ist das, Mylady?« Verbenas Finger schwebten über dem Lederband mit dem Obsidiansplitter.
»Fass es nicht an.« Victoria griff nach dem glänzenden, schwarzen Pendel und schloss die Hand darum, um es vor neugierigen Blicken zu schützen. Für etwas derart Kleines fühlte es sich ungewöhnlich schwer an, und sie spürte, wie schon zuvor in der Villa Palombara, plötzlich ein warmes Prickeln in den Fingern. »Kümmere dich jetzt um mein Haar, damit ich mich meinen Aufgaben zuwenden kann.«
Verbena riss überrascht die Augen auf, erwiderte klugerweise jedoch nichts. Victoria war des Geschnatters ihrer Zofe, die stets zu wissen schien, was vor sich ging, mit einem Mal überdrüssig. Konnte das Mädchen sie nicht einfach ihre Arbeit tun lassen, ohne sich dabei ständig als ihre Vertraute aufzuspielen?
Die Bilder aus ihrem Traum - von grabschenden, klauenartigen Händen und funkelnden Obsidiansplittern - stürmten plötzlich von neuem mit solcher Wucht auf sie ein, dass ihr fast schwarz vor Augen wurde.
Trotzdem vermochten der Traum und das Böse, von dem er kündete, Victoria jetzt, wo es taghell, sie wach und aus dem Bett aufgestanden war, nicht mehr ganz so sehr zu überwältigen wie zuvor. Noch während sie die Eindrücke abzuschütteln versuchte, wurde ihr mit einem Mal klar, was sie ihr sagten, wovor sie sie warnten. Die Vampirfrau hatte ein Stück von Akvans Obelisken um den Hals getragen, und Akvan war zurückgekehrt. Er war durch die Vernichtung des Obelisken auf die Erde zurückgerufen worden.
Wenn dieser winzige Splitter schon so bedeutsam war, dass die Untote ihn wie einen Schatz gehütet hatte, wie viel bedeutsamer musste dann wohl jenes größere Fragment sein, das Victoria im Konsilium aufbewahrte?
Eines stand fest: Victoria würde auch den kleineren Obsidiansporn ins Konsilium bringen, wo er vor neugierigen Augen und Händen sicher wäre. Sobald es ihr gelang, sich unter einem Vorwand von ihrer Mutter und deren Freundinnen zu verabschieden, würde sie den Anhänger aus dem Haus schaffen.
Bis dahin wäre er in ihrer Rocktasche wohl am besten aufgehoben.

Als Victoria die Treppe hinunterging, hörte sie aus dem Salon bereits das aufgeregte Geplapper weiblicher Stimmen. Sie blieb für einen Moment stehen, unentschlossen, ob sie um etwas zu essen bitten sollte, bevor sie sich zu den Damen gesellte, aber die Entscheidung wurde ihr abgenommen, als ein helles Quieken ertönte, das nur von Lady Winnie stammen konnte und von den beiden anderen mit einem Kichern beantwortet wurde, während gleich darauf die Tür aufging.
»Victoria«, trällerte die Herzogin. »Komm herein, und leiste uns ein wenig Gesellschaft.«
»Wir fürchteten schon, du würdest den ganzen Tag im Bett bleiben«, ergänzte ihre Mutter. »Setz dich doch zu uns, damit wir dir von unserem gestrigen Abenteuer erzählen können.«
Victoria wurde kurzerhand in den eleganten Salon und auf das einzige ungepolsterte Sitzmöbel darin gezogen: ein Stuhl mit gerader Rückenlehne, der zwischen ihrer Mutter und der Herzogin eingeklemmt war. Also exakt der Platz, auf dem sie lieber nicht gesessen hätte.
Aber noch bevor die Damen die Gelegenheit bekamen, mit ihrem Bericht zu beginnen, klopfte es an der Salontür, und Giorgio trat ein.
»Für die Signoras«, verkündete er mit einer knappen Verbeugung, an Lady Melly und ihre beiden Gefährtinnen gewandt. Dann trat er zur Seite, um drei weitere, mit in aufsteigender Reihenfolge größer werdenden Blumenbouquets beladene Diener vorbeizulassen.
Victoria beobachtete amüsiert, wie die drei Damen zwischen dornigen Stielen, farnartigen Blättern und verschiedenfarbigen Blüten herumwühlten, um die den Sträußen beigefügten Briefe aufzuspüren.
»Für mich?« Lady Winnie drückte das kleinste der Bouquets an ihren üppigen Busen und vergrub das Gesicht in den wunderschönen Lilien, die ihren kostbaren Duft im ganzen Raum verströmten. Sie waren weiß mit rosafarbenen Tupfen in der Mitte, und als die Herzogin wieder aufsah, war ihre knollige Nase mit gelbem Blütenstaub gesprenkelt. Doch sie schien dies selbst dann noch nicht zu ahnen, als sie so heftig niesen musste, dass die armen Lilien noch mehr Pollen freisetzten. »Sie sind von diesem liebenswürdigen Gentleman, den wir gestern Abend kennen gelernt haben«, keuchte sie atemlos, sobald ihre Niesattacke vorüber war.
»Also hat er, statt uns seine Aufwartung zu machen, nur Blumen geschickt.« Melly, die die Empfängerin des größten und prächtigsten Blumenarrangements war, schnupperte daran. Es bestand aus Rosen in allen erdenklichen Rottönen, mit einer einzelnen weißen in der Mitte.
»Aber immerhin hast du das üppigste Bouquet bekommen«, tröstete sie Lady Nilly, die beinahe hinter ihrem Meer aus roséfarbenen Levkojen und roten Tulpen verschwand. »Ganz bestimmt bist du diejenige, auf die er ein Auge geworfen hat.«
»Trotzdem hat er uns keinen Besuch abgestattet«, erwiderte Lady Melly, die lange, schmale Nase noch immer verachtungsvoll gerümpft. »Für den Fall, dass er hier doch noch auftauchen sollte, werde ich sicherstellen, dass wir morgen nicht zu Hause sind.« Sie stieß Victoria ihren Rosenstrauß entgegen. »Tatsächlich denke ich, dass du uns begleiten solltest, wenn wir ein paar Besuche machen.«
»Besuche? Bei wem denn?«, fragte Victoria, deren Aufmerksamkeit durch die plötzliche Blütenpracht auf ihrem Schoß und die herrischen Bemerkungen ihrer Mutter wachgerüttelt worden war. »Wir kennen hier niemanden.«
»Du bist nun seit fast sechs Monaten in Rom und hast in all der Zeit keine Bekanntschaften geknüpft? Das ist ja entsetzlich, Victoria. Abgesehen davon stimmt es nicht, denn du kennst natürlich die Tarruscelli-Schwestern.«
»Ja, das stimmt. Aber sie sind -«
»Also wirst du morgen mit uns ein paar Besuche machen. Und so wird niemand hier sein, falls Alberto es wagen sollte, sein Gesicht zu zeigen.«
»Sein attraktives Gesicht«, ergänzte Winnie. »Sein überaus attraktives Gesicht. Wenngleich er natürlich ein ganzes Stück kleiner ist als Lord Jellington. Und noch dazu kahl. Außerdem kann er das Wort ›charmant‹ nicht buchstabieren.«
»Alberto?«, kiekste Nilly. »Er hat deine Karte mit ›Alberto‹ unterzeichnet?«
»Er muss sich in dich verliebt haben, Melly!«, folgerte die Herzogin mit hochgezogenen Brauen. Sie waren dick und borstig, und wenn sie sie in die Höhe zog, dann verschmolzen sie zu einem dunklen Balken auf ihrer Stirn. »Meine Karte hat er jedenfalls nicht mit ›Alberto‹ unterschrieben.«
»Was für ein hübscher Name«, seufzte Nilly und schlug dabei die dürren, blau geäderten Hände auf ihren nicht vorhandenen Busen. »So italienisch. So männlich! Und wie man das R rollen muss, wenn man ihn ausspricht … Alberrrrrrto. Alberrrrrrto
»Unsinn«, unterbrach Melly sie, allerdings erst, wie Victoria bemerkte, nachdem ihren Freundinnen die verzückten Worte auszugehen schienen. »Er wollte nur höflich sein. Wenn er wirklich eine Zuneigung zu mir gefasst hätte, wäre er persönlich gekommen. Wenigstens Jellington wusste, was sich gehört, wenngleich er mir, wie ich zugeben muss, am Tag nach unserem Kennenlernen keine Blumen geschickt hat.«
Victoria hatte ihrem Geschwätz nun lange genug gelauscht; allem Anschein nach schwärmte ihre Mutter ständig für diesen oder jenen Verehrer. Der Obsidiansplitter fühlte sich schwer an in ihrer Tasche, und die Sorge um Max’ Gesundheit belastete sie zusätzlich. Außerdem wollte sie unbedingt mit Wayren über das sprechen, was sich in der Vornacht zugetragen hatte. »Wenn ihr mich nun bitte entschuldigen würdet«, sagte sie und stand auf. »Ich habe eine Verabredung mit meiner … Lateinlehrerin«, ergänzte sie, überzeugt davon, dass Wayren nichts dagegen hätte, so genannt zu werden.
»Deine Lateinlehrerin?«, wiederholte ihre Mutter erstaunt. »Wofür um alles in der Welt willst du Latein lernen?«
»Damit ich die alten Werke über die Geschichte Roms besser studieren kann«, erwiderte sie gelehrsam, bevor sie nach einem kurzen Knicks zur Tür eilte. »Ich wünsche euch einen zauberhaften Tag. Leider weiß ich nicht, ob ich euch heute Abend Gesellschaft leisten kann, denn meine Lehrerin hat mich zu sich zum Essen eingeladen.«
Als Victoria zu später Stunde im Konsilium eintraf, war der Hauptsaal bis auf das Plätschern des Weihwasser-Brunnens still und verlassen.
Das war jedoch nicht weiter ungewöhnlich, denn die Venatoren hielten sich nur selten im Konsilium auf, es sei denn, es fand irgendeine Art von Versammlung oder Beratung statt. Meistens bestand für sie kein Grund, hier zu sein, und je seltener das Konsilium von den Venatoren aufgesucht wurde, desto geringer war die Gefahr, dass es entdeckt würde. Die Venatoren zogen es vor, ihre Zeit auf den Straßen zu verbringen und Vampire zu jagen.
Selbst Wayren und Ilias waren nicht immer anwesend, obwohl jeder von ihnen in den Tiefen dieser Katakomben eine Privatwohnung hatte. Auch ihre Arbeitsräume lagen - genau wie im Fall von Miro, Ylito und dem Arzt Hannever - in einem anderen Teil des unterirdischen Gewölbes, weshalb sie sich nur selten im Hauptsaal oder auf einer der Galerien blicken ließen.
Victoria war froh darüber, sich unverzüglich zu dem geheimen Lagerraum neben Wayrens Bibliothek begeben zu können. Nach allem, was letzte Nacht in der Villa Palombara geschehen war, und nicht zuletzt auch wegen ihres Traums, wollte sie sich vergewissern, dass der Splitter noch immer sicher verwahrt war. Außerdem wollte sie das andere, kleinere Stück dort verstecken, bevor irgendjemand von seiner Existenz erfuhr.
Je weniger davon wussten, desto besser. Desto sicherer.
Sobald sie in der Kammer war, schloss Victoria hinter sich die Tür, denn sie erinnerte sich nur zu gut an ihren letzten Besuch, als Max sich von hinten an sie herangeschlichen hatte. Nachdem sie die Lampe auf dem Tisch angezündet hatte, zog sie das Lederband mit seinem schwarz-blau gemaserten Anhänger aus ihrer Tasche.
Der größere Splitter lag noch immer auf dem zerschrammten Holztisch, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Er schien nicht bewegt worden zu sein, und aus irgendeinem Grund besänftigte diese Erkenntnis die tief sitzende Sorge, die an ihr genagt hatte, seit sie aus ihrem Traum erwacht war. Der Splitter war in Sicherheit, und dasselbe galt nun auch für sein kleineres Gegenstück.
Als Victoria das Lederband auf die Tischplatte legte, trafen die beiden Obsidianstücke mit einem dumpfen Klirren zusammen, und ein einzelner blauer Funke stob zwischen ihnen empor. Ein schwacher Geruch - so wie abgestandener Rauch, in den sich etwas Fauliges mischte - drang ihr in die Nase, doch verschwand er fast im selben Moment wieder, in dem der Funke erlosch.
Victoria schob den Anhänger ein Stück zur Seite, sodass sich die beiden Teile nicht länger berührten, dann streckte sie vorsichtig die Hand nach dem größeren Splitter aus. Ein scharfes Kribbeln jagte ihren Arm hinauf und breitete sich über ihre Schulterblätter aus.
Das Gefühl glich dem, das die Berührung des Anhängers bei ihr ausgelöst hatte, nur dass es viel stärker war - so stark, dass sie automatisch die Hand wegriss. Dann starrte sie den großen Splitter an, der wie ein Brocken schwarzen Glases vor ihr lag.
Der Obsidiankeil sah aus wie einer ihrer Pflöcke; es war wirklich ironisch, dass dieser Splitter, der etwas abgrundtief Böses verströmte, von derselben Form und Größe war wie die Waffen, mit denen sie das Böse bekämpfte.
Aber natürlich war Akvan, die Quelle dieses speziellen Bösen, kein Vampir. Ungeachtet der Tatsache, dass alle Dämonen von Luzifer erschaffen worden waren, lebten und starben sie auf unterschiedliche Weise; ganz egal, ob sie gefallene Engel aus einem anderen Zeitalter oder halb menschliche, Vampire genannte Dämonen waren. Dennoch war es interessant, dass dieser spezielle Splitter die Waffe eines Venators hätte sein können.
Was würde geschehen, wenn sie ihn mitnehmen und als Pflock verwenden würde? Was würde passieren, wenn sie diesen Obsidiandolch in die Brust eines Vampirs stieße? Oder in Akvans?
Als Victoria nun mit der Hand über den glasartigen Sporn strich, fiel ihr auf, dass das Prickeln nachgelassen hatte. Es flogen auch keine Funken mehr, allerdings war der Splitter ganz leicht erwärmt.
Doch vielleicht kam das von der Reibung und der Eigenwärme ihrer Finger.
Plötzlich überlegte sie, ob es wohl das war, was Akvan von ihr gewollt hatte. Diesen Splitter. Dieses Stück seiner Macht.
Ein Stück jener Macht, die ihn auf die Erde zurückgerufen hatte.
Es war möglich, sogar ziemlich wahrscheinlich. Falls er den Splitter zurückhaben wollte, welch bessere Methode konnte es geben, als ihr seine Gefolgsleute auf den Hals zu hetzen?
Zuerst hatte er Sara Regalado und ihre Spießgesellen ausgeschickt, um sie in jener Karnevalsnacht auf den Friedhof zu locken. Sie hatten nicht versucht, Victoria zu verletzen, sondern wollten sie lediglich in ihre Gewalt bringen. Vielleicht hatten sie vorgehabt, sie in die Villa und zu Akvan zu schaffen, damit dieser ihr befehlen konnte, den Splitter zurückzugeben.
Aber woher wusste er überhaupt, dass sie ihn hatte?
Niemand außer Wayren, Ilias und Ylito ahnte, dass sie ihn gefunden hatte. Selbst Max nicht.
Es gab niemanden sonst, mit Ausnahme von -
Victoria wurde kalt; dann erzitterte sie unter einem Ansturm heißen Zorns.
Sebastian wusste Bescheid.
Sebastian hatte sie mit dem Splitter in der Hand gesehen, als sie in der Nacht von Eustacias Tod aus dem brennenden Opernhaus geflüchtet waren.
Sie richtete sich gerade auf und tastete unwillkürlich nach dem Pflock unter ihrem Kleid.
Die Sonne musste inzwischen untergegangen sein, und sie würde jetzt die Straßen nach jemandem durchkämmen, der Beauregard oder Sebastian eine Nachricht überbringen konnte. Andernfalls würde sie sie selbst aufsuchen.
Sie hatte ihre erste Chance, mit Sebastian zu sprechen und ihn nach dem Armband ihrer Tante zu fragen, vertan. Nun hatte sie gleich zwei gute Gründe, ihn aufzuspüren.
Sie würde herausfinden, ob das gesamte Szenario in der Villa Palombara eine von Sebastian und seinem Großvater erdachte Farce gewesen war, um ihr den Splitter abzunehmen.
Vielleicht war Akvan gar nicht zurückgekehrt.
Doch. Doch, das war er. Oder zumindest etwas ebenso Böses.
Victoria hatte den Dämon gewittert.
Sie starrte wieder auf den langen, schwarzen, frevelhaften Splitter hinunter. Neben ihm schimmerte auf der rauen Holzplatte der kleine Anhänger.
Jetzt, da Victoria sich mit einem Mal sicher war, dass irgendjemand - Akvan, Sebastian, Beauregard oder sie alle - es auf das Stück des Obelisken abgesehen hatte, wollte sie es nicht mehr für jeden sichtbar auf dem Tisch zurücklassen.
Der große Splitter war, als sie ihn zusammen mit der Lederschnur aufhob, noch immer leicht warm. Der Obsidianpflock fühlte sich gut an in ihrer Hand. Behaglich.
Sie schloss die Finger darum und hielt ihn so, als stünde ein Vampir vor ihr, dann ließ sie ihn versuchsweise durch die Luft sausen. Das Zischen und Sirren ihrer Bewegungen durchdrang die Stille der Kammer, während sie sich vorstellte, einem Vampir den Obsidiankeil ins Herz zu stoßen. Lilith. Beauregard. Irgendeiner Kreatur mit roten Augen und blitzenden Fangzähnen.
Der Splitter würde sie zurück zu Luzifer schicken.
Mit zusammengepressten Lippen spürte Victoria, wie ein glühender Hass sie durchströmte, Zorn auf diese rotäugigen Untoten, die ihr so viel genommen hatten. Sebastian hatte sie glauben machen wollen, dass manche Vampire nicht vollständig böse waren, dass sie es nicht verdienten, zu ewigem Höllenfeuer verdammt zu werden. Aber er hatte Unrecht.
Und falls er versuchen sollte, sie aufzuhalten, würde sie ihn gleich mit ins Verderben schicken.
Victoria spürte, dass der Splitter zunehmend wärmer wurde, und sah zu ihm hinunter. Ihre Finger hinterließen feuchte Abdrücke auf dem glatten, schwarzen Glas. Er musste sicher verwahrt werden. Gut versteckt.
Sie musste ihn in einer Schublade oder Truhe verbergen. Wo ihn niemand finden würde.
In der dunkelsten Ecke der Kammer fand sie eine kleine Holzschatulle, die mit nichts weiter gefüllt war als mit aromatisch duftenden Holzlocken, so als hätte jemand sich hingesetzt und sie von einem Zedernast abgezogen. Oder aber einen Pflock geschnitzt.
Der Splitter und das Lederband passten mühelos in die Schatulle; Victoria klappte mit einem erleichterten Seufzer den Deckel zu, dann stellte sie eine andere Kiste darauf.
Nun waren die Stücke von Akvans Obelisken endlich in Sicherheit.
Zeit, sich um Sebastian zu kümmern.
Victoria stand auf, dann verließ sie mit einem letzten Blick zu der dunklen Ecke, in der die Schatulle mit ihrem gottlosen Schatz stand, eilig die Asservatenkammer.
Im Gang blieb sie kurz vor Wayrens Bibliothek stehen, doch von drinnen war nichts zu hören. Außer ihr befand sich niemand hier; alles war noch genauso still wie bei ihrer Ankunft. Ihr sachtes Klopfen blieb unbeantwortet, und als Victoria behutsam die Tür öffnete, fand sie das Zimmer dunkel vor.
Das Konsilium wirkte wie ausgestorben, während sie zurück in den Hauptsaal ging, wo der plätschernde Springbrunnen freundlich vor sich hin murmelte.
Damit war zumindest eine ihrer Fragen beantwortet: Max musste es gut gehen, denn andernfalls wäre er zusammen mit Hannever hier gewesen, um seine Verletzungen behandeln zu lassen. Ein ernsthaft verwundeter Venator würde zu seinem eigenen Schutz im Konsilium behalten werden, bis er wieder gesund wäre.
Als ihre Sorge um Max besänftigt war, verließ Victoria das Konsilium über die Wendeltreppe, die in den Geheimgang hinter einem der Beichtstühle der Santo Quirinus mündete.
Doch anstatt das Hauptportal der kleinen Kirche anzusteuern, ging Victoria in den kleinen Hinterhof und von dort aus weiter in ein altes, marodes Gebäude gegenüber der Kirche. Sie trat auf die fast menschenleere Straße und stellte fest, dass die Dämmerung an diesem eisigen Februarabend tatsächlich längst verstrichen war.
Der Himmel war so schwarz wie der Splitter, den sie in dem unterirdischen Gewölbe zurückgelassen hatte, und der Vollmond schimmerte hoch und klein zwischen den Sternen. Sie hielt auf den unangenehm scharfen Geruch feuchter Schirmseide zu. Nach der Schwere des Splitters fühlte sich ihr hölzerner Pflock leicht und schwächlich in ihrer Hand an, aber er würde dennoch seine Pflicht erfüllen.
Es befanden sich jedoch keine Vampire in der Nähe. Was keine große Überraschung war, denn in diesem speziellen Teil des Borgo gab es keine menschliche Beute zu erlegen.
Victoria hatte schon fast den gesamten Weg bis zum Passetto zurückgelegt, als sie plötzlich stehen blieb. Hatte sie die Tür der geheimen Kammer auch wirklich verschlossen?
Sie erinnerte sich nicht mehr.
Selbst wenn sie offen wäre, bedeutete das noch lange nicht, dass jemand den Splitter finden würde; trotzdem machte sie der Gedanke, dass etwas derart Wichtiges ungeschützt und für jedermann zugänglich dort herumliegen könnte, nervös.
Er war dort nicht sicher.
Sie zögerte nur einen Moment, bevor sie sich umwandte und mit nun zügigeren Schritten als auf dem Hinweg zu dem kleinen, verfallenen Gebäude zurücklief. Falls irgendeiner der wenigen Krämer oder Reisenden die schlanke, von einem dunklen Umhang verhüllte Gestalt sah, die in exakt dieselbe Richtung zurückeilte, aus der sie gerade gekommen war, so zeigte er es nicht.
Ein Gefühl großer Dringlichkeit baute sich in ihr auf. Der Splitter war nicht gut geschützt, und sie durfte nicht zulassen, dass er Akvan, Beauregard oder Regalado, die es womöglich alle auf ihn abgesehen hatten, in die Hände fiel.
Vielleicht sollte sie ein anderes Versteck in der Kammer für ihn finden. Eine verschließbare Truhe? Oder …
Victoria war inzwischen bei dem verborgenen Gang hinter dem Beichtstuhl angelangt. Vorsichtig sprang sie über die mittlere Stufe hinweg, dann huschte sie lautlos den kurzen, mit Ikonen dekorierten Korridor entlang, bevor sie die raffinierte Vorrichtung in dem Mauerwerk bediente, um so die Wendeltreppe freizulegen.
Die Tür glitt lautlos zur Seite, und Victoria lief, beseelt von dem Wunsch, die Asservatenkammer zu erreichen und nach dem Splitter zu sehen, die engen Stufen hinunter. Sie musste sich unbedingt vergewissern, dass er noch immer in seiner dunklen Ecke verborgen war.
Morgen würde sie Wayren von ihm erzählen, aber -
Jemand stand am Brunnen.
Im Dämmerlicht des Hauptsaals tauchte er, den Blick nach unten gerichtet, die Finger in das funkelnde Weihwasser. Genau wie vor etwa zwanzig Minuten, als sie das Konsilium verlassen hatte, erhellte nur eine einzige Wandfackel den Raum, aber dennoch erkannte sie ihn. Selbst von hinten.
Unmöglich.
Andererseits … vielleicht auch wieder nicht.
Er musste ihre Gegenwart gespürt haben, denn er drehte sich mit einem für ihn uncharakteristisch fassungslosen Ausdruck auf seinem anziehenden Gesicht zu ihr um.
Victoria ließ sich nicht anmerken, dass er sie genauso überrascht hatte. Stattdessen trat sie näher, wobei ihr nicht entging, wie er seine nasse Hand in sein weißes Hemd krallte.
»Und da wollte ich gerade die ganze Stadt auf den Kopf stellen, um dich zu finden, obwohl ich einfach nur hier hätte warten müssen, bis du auftauchst. Was hast du hier zu suchen, Sebastian?«