Kapitel 22
In welchem das denkbar
Schlimmste geschieht
Also wirst du uns nun
wieder verlassen«, folgerte Wayren scharfsinnig.
Max nickte, die Hand schon an der Tür ihrer
Bibliothek. Er
hatte es nicht ausgesprochen, aber Wayren war keine Närrin. Sie
wusste längst Bescheid.
»Jetzt, wo Akvan und sein Obelisk vernichtet
sind und du selbst nutzlos geworden bist, siehst du keinen Grund,
zu bleiben. Dieses Selbstmitleid steht dir nicht gut zu Gesicht,
Max.«
»Selbstmitleid? Darin habe ich in dem Jahr,
nachdem mein Vater und meine Schwester gestorben waren, genug
gebadet.« Er drehte den Knauf und hörte das leise Klicken, mit dem
das Türschloss aufsprang. »Ich mache mir keine Illusionen, was
Liliths Zorn anbelangt, sobald sie von meiner … Abtrünnigkeit
erfährt. Und ich weiß auch, dass sie schon bald nach mir suchen
wird. Ich habe lediglich die Absicht, für einige Zeit
unterzutauchen.«
»Wieder einmal.«
Er sah sie an. »Ja, wieder einmal.«
»Ohne dich zu verabschieden.«
»Ich sehe keinen Sinn darin, das Ganze
hinauszuzögern.«
»Zavier liegt im Sterben.«
»Ich weiß. Und es tut mir furchtbar leid um ihn.
Er ist ein guter Mann.«
Wayren nickte. Dann fixierte sie ihn wieder mit
ihren scharfen, hellblauen Augen. »Wirst du Victorias vis bulla zurücklassen?«
Max’ Finger zuckten, aber er gestattete sich
nicht, an seine Brust zu fassen und das Amulett unter seinem Hemd
zu berühren. »Sie braucht keine zwei.« Er wusste, dass das nur eine
Ausflucht war, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr.
»Sie trägt bereits zwei vis
bullae.« Den Kopf zur Seite gelegt wie ein Zaunkönig, schaute
Wayren ihn weiterhin unverwandt an.
»Dann braucht sie verflucht noch mal erst recht
keine drei«,
blaffte er. Er wollte diesen verdammten Ort verlassen, bevor
Victoria von dort zurückkam, wo auch immer sie sich herumtreiben
mochte. Bevor er noch mit irgendjemand würde sprechen müssen. »Auf
Wiedersehen, Wayren. Wir bleiben in Kontakt. Essere con Dio.«
Er schloss die Tür hinter sich und eilte davon,
bevor er einem der anderen begegnete oder Wayren ihn mit
irgendwelchen weiteren kryptischen Bemerkungen oder wissenden
Blicken aufhalten konnte. Der geheime Ausgang neben der Bibliothek
war näher und unauffälliger. Er würde ihn nehmen, statt durch den
Brunnensaal zu gehen und damit zu riskieren, dass er einem der
Venatoren über den Weg lief.
Wenige Augenblicke später stieg er dann die
dunkle, enge Treppe hinauf, die in den kleinen Keller eines
verlassenen, mehrere Häuserblocks von der Santo Quirinus gelegenen
Gebäudes mündete. Als er anschließend aus dem schmalen
Hinterausgang des baufälligen Hauses trat, wurde ihm plötzlich
bewusst, dass er dies möglicherweise zum letzten Mal tat.
Er schlich lautlos durch etwas, das
offensichtlich ein Hinterhof sein sollte, dabei jedoch nicht mehr
als fünf Schrittlängen breit und mit Schutt und Unrat gefüllt war.
Die aufgehende Sonne warf ihren sanften Schein auf die baufälligen
Häuser, als Max an diesem ersten Tag seiner verfluchten,
verabscheuungswürdigen Freiheit die kalte Luft tief in seine Lungen
sog.
Er war nun frei, und dennoch gefangen durch
seine Erinnerungen und sein Wissen. Er hätte Wayren das goldene
Pendel benutzen lassen sollen, um sie ein weiteres Mal
auszulöschen. Dann hätte er zumindest etwas Frieden finden
können.
Er setzte seinen Weg fort und entfernte sich
dabei immer
weiter vom Konsilium und damit von jener Welt, die über zehn Jahre
lang die seine gewesen war.
Als hinter ihm zügige Schritte ertönten, griff
Max automatisch nach seinem Pflock, bevor ihm wieder einfiel, dass
er keine Möglichkeit mehr hatte zu erkennen, ob die Person, die
sich ihm näherte, Freund oder Feind war.
»Pesaro!«
»Was zur Hölle wollen Sie,Vioget?« Max ließ den
Pflock los und lief mit hoch erhobenem Kopf und gestrafften
Schultern einfach weiter. Er war sich seiner mangelnden
Körperkraft, genauer gesagt der Schwäche, die jeden seiner Schritte
zu begleiten schien, schmerzlich bewusst.
»Victoria. Es geht um Victoria.«
Max blieb stehen, drehte sich jedoch nicht um.
Da schwang etwas in der Stimme dieses Hurensohns mit …
»Beauregard hat sie in seiner Gewalt.«
Als er sich nun doch umdrehte, verwandelte das,
was er sah, seine Wirbelsäule in Eis. Das Gesicht des verdammten
Kerls war mit einem Mal gar nicht mehr so hübsch, außerdem hinkte
er, doch es war der Ausdruck in seinen Augen, der ihn frösteln
ließ.
»Hat er …« Die Worte erstarben ihm im Mund,
trotzdem wusste Vioget, was er meinte.
»Noch nicht. Aber er wird, wenn wir ihn nicht
rechtzeitig aufhalten.«
Max starrte ihn an, und der ganze Abscheu, den
er für den Mann empfand, brodelte an die Oberfläche. Er wusste ganz
genau, wer die Schuld an dieser Entwicklung trug.
Doch statt seinem Zorn freien Lauf zu lassen,
wandte er sich wortlos ab und machte sich auf den Rückweg zum
Konsilium.
Nachdem Vioget sich dazu durchgerungen hatte, ausgerechnet ihn um
Hilfe zu bitten, musste Victorias Lage sehr, sehr schlimm sein. Sie
würden Verstärkung brauchen. »Waren Sie schon bei Wayren?«
»Ja. Sie hat mich hinter Ihnen hergeschickt; die
Venatoren warten bereits.«
Also wusste Sebastian Bescheid.
Max schottete seinen Geist davor ab, diesen
Gedankengang weiter zu verfolgen, stattdessen nickte er kurz, bevor
er dann einen Satz sagte, von dem er sich niemals hätte vorstellen
können, dass er ihn Vioget gegenüber aussprechen würde: »Ich werde
Ihnen folgen.«
Sebastian knirschte mit den Zähnen. »Ja, mir ist
absolut klar, dass Beauregard uns erwarten wird.« Obwohl er ein
Mensch war, der Gewalt verachtete, konnte er sich durchaus
vorstellen, diese Prämisse für einen Moment zu vergessen und seine
Faust in … irgendetwas zu rammen.
Doch dazu hätte er stehen bleiben und kostbare
Zeit vergeuden müssen, die er nicht hatte. Nein, sie hatten keine
Zeit. Überhaupt keine Zeit. Zum Glück waren sie schon fast an dem
Haus angelangt, in dem er und Beauregard in unterschiedlichen
Etagen wohnten, während er den anderen vier Männern, die im
Laufschritt neben ihm hereilten, noch immer die Situation
erklärte.
Es war nun etwa eine Stunde her, seit er am
frühen Morgen aus dem unterirdischen Versteck getorkelt war. Die
Sonne stand mittlerweile hoch genug am Himmel, dass die Untoten
sich in die Sicherheit der Kellergewölbe zurückgezogen
haben würden, um zu schlafen oder sich anderweitig zu
beschäftigen. Er und seine Begleiter hatten sich von einer
entsetzlich langsamen Kutsche in der Nähe ihres Ziels absetzen
lassen, dabei jedoch genügend Abstand gewahrt, um von jenen, die
aus dunklen Gebäuden oder unterirdischen Schlupflöchern die
Residenz ihres Herrn bewachten, nicht gesehen zu werden. Sebastian
wusste, wie er sich unbemerkt an das Haus heranpirschen konnte,
doch leider konnte er das nur zu Fuß tun.
Zu langsam. Sie kamen zu langsam voran.
»Also können wir uns nicht alle zusammen
hineinschleichen.« In Pesaros Stimme schwang ein scharfer Unterton
mit - was zwar oft der Fall war, trotzdem klang sie heute irgendwie
anders. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.
Sebastians Finger zuckten. »Genau das wollte ich
gerade sagen, bevor Sie mich unterbrachen.« Er wandte sich von dem
kaltblütigen Mistkerl ab und richtete den Blick auf die drei
anderen Venatoren, die zu Victorias Rettung gekommen waren. Eine
Sekunde lang drohte ihn das Entsetzen über das, was ihr vielleicht
zustoßen würde, zu übermannen.
Was ihr vielleicht gerade zustieß.
Oder ihr bereits zugestoßen war.
Wie lange war er inzwischen fort gewesen?
Zu lange.
Lange genug.
Sebastian riss sich zusammen und richtete seine
ganze Konzentration wieder auf ihren Fußmarsch, der sie über
verschiedene Hinterhöfe und zwischen dicht stehenden Häusern
hindurchführte. Indem er seinen Fokus verlor, würde er ihr nicht
helfen können, ganz gleich was inzwischen geschehen war.
Mochte Gott verhüten, dass etwas geschehen
war.
Wie lange? Wie lange würde Beauregard mit ihr
spielen, sie küssen und berühren, bevor er sie sein Blut trinken
ließ?
Sebastians Magen krampfte sich zusammen. Wenn
das geschah, gäbe es keine Hoffnung mehr.
Er knirschte wieder mit den Zähnen, versuchte,
die lähmende Angst von sich zu schieben, damit er wieder klar
denken konnte. Er musste sich darauf besinnen, was sie zu tun
hatten.
Wie sie sie retten könnten.
Bei zweien der Männer, die auserwählt worden
waren, ihn zu begleiten, hatte er die Namen vergessen, denn es war
alles so schnell gegangen. Doch der dritte war Michalas. Er war dem
klugen, drahtigen, scharfäugigen Venator vor vielen Jahren schon
einmal kurz begegnet.
»Es gibt zwei Eingänge zu Beauregards
Unterschlupf«, informierte Sebastian sie leise, während sie sich
gegen die Mauer duckten, die den Hinterhof seines Hauses umgab -
jenen Hinterhof, in den Victoria letzten Herbst während ihrer
Flucht aus einem Fenster im dritten Stock gesprungen war.
Die Erinnerung drohte wieder, ihn zu übermannen,
doch er bekam sich noch rechtzeitig unter Kontrolle. »Und dann ist
da noch eine dritte Tür, von der nur ich weiß. Und natürlich
Beauregard.«
»Er wird damit rechnen, dass Sie sie
benützen.«
»Deshalb müssen wir zwei Gruppen bilden. Die
eine wird ein Ablenkungsmanöver inszenieren, um die Untoten, die
ihn bewachen und ihm dienen, herauszulocken.«
»Von wie vielen Untoten sprechen wir
genau?«
»Zehn oder ein paar mehr.Vielleicht ein Dutzend
- meinen
Sie, dass Sie sich darum kümmern könnten, Pesaro? Wie ich gehört
habe, nehmen Sie es problemlos mit einem Dutzend Vampire
auf.«
Eine Sekunde lang dachte Sebastian, dass Pesaro
ihn schlagen würde, doch stattdessen antwortete er mit diesem
typischen knappen, stolzen Nicken.
Nun meldete sich Michalas das erste Mal zu Wort.
»Dank Miro haben wir das perfekte Mittel, um einen kleinen Tumult
zu veranstalten, nicht wahr, Max? Ja, wir werden die Vampire von
euch ablenken, sodass ihr durch den geheimen Eingang ins Haus
gelangen könnt.«
In Pesaros Stimme schwang Verachtung mit, als er
an Sebastian gerichtet sagte: »Und was wollen Sie tun, sobald Sie
drinnen sind? Beauregard bitten, dass er Ihnen Victoria übergibt?
Ich schätze, das wird er bestimmt ohne Widerrede tun.«
»Er rechnet nicht damit, dass ich gegen ihn
kämpfe, aber genau das werde ich tun. Falls nötig, werde ich ihn
sogar töten«, antwortete Sebastian vollkommen aufrichtig.
Max sah ihn scharf an, dann nickte er wieder
kurz. »Ja, ich glaube Ihnen sogar, dass Sie das tun werden.«
Sebastian gab den Männern ein paar kurze,
gezielte Anweisungen, bevor sie sich folgendermaßen aufteilten:
Michalas und ein blonder Venator begleiteten Max, während der
andere, Brim, Sebastian folgen würde.
Als sie sich gerade trennen wollten, drehte
Pesaro sich noch einmal zu ihm um und fasste nach Viogets Schulter.
Allerdings war der Druck seiner Finger viel zu fest, als dass es
eine freundliche Geste hätte sein können. »Holen Sie sie da raus.«
Seine dunklen, kalten Augen sagten alles, was zwischen ihnen
unausgesprochen
geblieben war, jetzt und in der Vergangenheit. Doch zumindest
verfolgten sie im Moment dasselbe Ziel.
Dann wandte er ihm den Rücken zu, um mit raschen
Schritten Michalas und dem blonden Venator zu folgen.
Und Sebastian, dessen Kehle vor Sorge wie
zugeschnürt war, begab sich in den tiefen, engen Tunnel unter dem
Haus, in das er nicht gehen wollte.
Weil er sich vor dem fürchtete, was ihn dort
erwarten würde.
Sie hatten den geheimen Eingang schon fast
erreicht, als Sebastian es hörte: ein dumpfes, grollendes Wummern
in der Ferne, oberhalb und jenseits von Beauregards Privatzimmern.
Das versprochene Ablenkungsmanöver.
Es stand nicht zu befürchten, dass die drei
Venatoren - zu denen immerhin der legendäre Pesaro zählte - es
nicht mit einem Dutzend Untoter würden aufnehmen können. Sosehr es
Sebastian auch widerstrebt hatte, ausgerechnet ihn um Hilfe bitten
zu müssen, wusste er doch, dass es für diese Aufgabe keinen
Besseren gab.
Als nun etwas näher ein weiteres, widerhallendes
Donnern ertönte, nahm er dies als Zeichen, dass es nun an ihm war,
seinen Teil beizutragen.
Vor der Geheimtür drehte er sich ein letztes Mal
zu Brim um. Der dunkelhäutige Mann mit dem unmodernen
Bürstenschnitt, der seine vis bulla an
einer schmalen, gut gepflegten Braue trug, überragte ihn um
Kopfeslänge. Er schien geradezu vor Energie zu vibrieren, als er
Sebastian mit einem Nicken zu verstehen gab, dass er bereit war,
woraufhin sich dieser wieder der Tür zuwandte.
Er zögerte kurz, noch immer voller Furcht, was
er hinter ihr
vorfinden würde, doch dann nahm er sich zusammen und schob sich
hindurch, gefolgt von Brim. Er hörte, wie der Wandteppich hinter
ihnen zufiel. Auf der anderen Seite wurden sie bereits von einem
Vampir erwartet, der sich augenblicklich auf sie stürzte, doch Brim
hatte bereits seinen Pflock gezogen. Sebastian hörte den Untoten zu
Staub zerfallen, während er auf das rote Samtbett mit den beiden
Gestalten darauf zurannte. Die Kampfgeräusche in seinem Rücken
verrieten ihm, dass Brim noch auf weitere Vampire gestoßen war, die
er nun in Schach hielt, doch Sebastians einziges Ziel bestand
darin, zu Victoria zu gelangen.
Er konnte es nicht erkennen. Er konnte nicht
sehen - seine Beine schienen ihn nicht schnell genug zu ihr zu
tragen. Es war, als versuchte er, durch einen Fluss zu waten, sich
durch einen reißenden Strom zu kämpfen. Und in der Luft hing der
dumpfe, metallische Geruch von Blut.
Plötzlich war Beauregard vor ihm. Seine Augen
blitzten rosarot, die Fangzähne waren lang und scharf. »Du kommst
zu spät. Bitte verzeih, dass ich dir nicht mein Beileid ausspreche,
doch eines Tages wirst du mir danken, das weiß ich.«
»Nein.« Sebastians Blick zuckte zu der
bäuchlings daliegenden Gestalt auf dem Bett. Ihr langes Haar
verbarg ihr Gesicht, und über ihren Körper war eine Decke
gebreitet. »Ich glaube dir nicht.« Er konnte es nicht. Würde es
nicht.
»Glaub was du willst, aber sie gehört jetzt mir.
Siehst du?«
Er krempelte seinen Ärmel hoch und zeigte
Sebastian seinen schlanken, von Muskelsträngen durchzogenen Arm,
den das verfluchte Kupferband umschloss. Aus einem tiefen Schnitt
zwischen seinem Handgelenk und dem Armband sickerte noch immer
dunkel glänzendes Blut.
»Sie hat willig, ja sogar gierig getrunken. Sie
hat es genossen, Sebastian.«
»Nein …« Er trat näher an das Bett, und zu
seinem Entsetzen machte Beauregard keinerlei Anstalten, ihn daran
zu hindern. Das war das schlimmste Zeichen von allen.
Er kannte jetzt die Wahrheit.
»Mit ihren Fähigkeiten und meinem Blut wird sie
so mächtig sein wie Lilith selbst.«
»Verdammt sollst du sein.« Wieder schien sich
die ganze Welt langsamer zu drehen, doch dieses Mal war Sebastians
ganzer Geist auf seinen Großvater fokussiert. Der Pflock in seiner
Hand, diese Waffe, die er so viele Jahre geschmäht hatte, fühlte
sich nach all den Pistolen und Degen, die er bei der Jagd und beim
Fechten benutzt hatte, leicht und nutzlos an. Doch seine Wirkung
war tödlich, und Sebastian würde von ihm Gebrauch machen.
Bei Gott, das würde er.
Beauregard blockte Sebastians Angriff mit der
flachen Seite eines Schwertes ab, das aus dem Nichts gekommen zu
sein schien. »Sebastian, du bist überreizt«, verkündete er mit
einer Ruhe, die seinen Enkel zu versengen schien. »Ich werde sie
mit dir teilen, das verspreche ich. Und dank der Seite, die du aus
dem Manuskript gestohlen hast, verfügen wir nun über die Macht
-«
Keuchend sprang Sebastian wieder auf ihn zu,
doch packte er ihn mit seinen langen Fingern im Genick, anstatt
seine Brust zu attackieren, so wie sein Großvater es offensichtlich
erwartet hatte. Mit einer Kraft, die so lange in ihm geschlummert
hatte, dass er gar nicht mehr wusste, dass er sie besaß, stieß er
Beauregard brutal gegen eine mit Tapisserien verhangene Wand. Die
Bettvorhänge neben ihnen streiften ihre Beine, während Beauregard
sein Schwert fallen ließ und versuchte, Sebastians Hand von seinem
Hals zu lösen.
»Verdammt sollst du sein«, wiederholte Sebastian
und hob dabei seinen Pflock.
»Das kannst du nicht tun«, ächzte der alte
Vampir. Er kämpfte weiter so verbissen gegen den Würgegriff seines
Enkels an, dass sich seine scharfen Nägel in das empfindliche
Fleisch von Sebastians Handrücken bohrten. »Nach allem … was ich
für dich getan habe«
»Du hast sie mir weggenommen.«
»Sie hat dich von mir … fortgetrieben. Ich habe
es für uns beide getan.«
Ohne auf das Blut zu achten, das über sein
Handgelenk strömte, drückte Sebastian fester zu. Er brachte den
Pflock in Position. Ein einziger Stoß, und es wäre
vollbracht.
»Ich habe dich aufgezogen … als niemand sonst …
dich haben wollte.« Beauregards Augen waren nun nicht mehr
pinkfarben; seine Fangzähne hatten sich zurückgezogen.
»Weil deine Geliebte meinen Vater umgebracht
hat!«, spie Sebastian ihm entgegen. »Sie hat ihn zerfleischt,
erinnerst du dich?«
»Sie war … eifersüchtig … auf ihn.« Beauregards
Kehle zuckte unter Sebastians Händen, als er nun hustete. Aber sein
Enkel ließ sich davon nicht täuschen. Man konnte einen Vampir nicht
erwürgen; das hier würde ihn lediglich unter Kontrolle halten und
ihm ein wenig Schmerzen bereiten, bis er die Chance bekam, sein
Herz zu durchbohren. »Und genau wie jeder andere Vioget … konnte
auch er einer schönen Frau … einfach nicht widerstehen.«
Erst jetzt realisierte Sebastian, dass die
Kampfgeräusche hinter ihm verstummt waren. Er schaute sich um, doch
war da nichts als die durch das Gefecht angerichtete Verwüstung.
Von Brim fehlte jede Spur.
Sie waren allein.
»Nicht, Sebastian. Tu es nicht.« Beauregards
Atmung klang nun abgehackt. Er schlang die Finger um das Handgelenk
seines Enkels, doch anstatt daran zu ziehen, kratzte er sanft und
flehentlich darüber. »Du wirst es hinterher bedauern. Du weißt es.
Du lebst damit schon seit -«
»Hör auf.« Sebastian spürte, wie sich seine
Finger in das Fleisch unter ihnen gruben, wie sie sich in den Hals
seines Großvaters bohrten. Er hob den Pflock. »Ich liebe dich noch
immer.«
In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, und
Pesaro stürmte ins Zimmer. Seine Arme und sein Hemd waren blut
überströmt, und in seinen Zügen spiegelte sich eine Intensität
wider, die ihn fast unkenntlich machte.
Ohne zu zögern ging er auf das Bett zu, und
Sebastian beobachtete, wie er die Decke mit einem Mut wegzog, den
er selbst nicht aufgebracht hatte.
Victoria murmelte etwas und räkelte sich leicht;
ihre Lider flatterten, dann schloss sie die Augen ganz. Das Haar
fiel ihr aus dem Gesicht, als Pesaro sie hochhob, dann ließ sie den
Kopf nach hinten sinken, sodass die blutigen Male an ihrem Hals und
den Schultern sichtbar wurden. Sie verzog die Lippen zu einem
sinnlichen Lächeln, und aus ihrem Mundwinkel sickerte ein Rinnsal
von Blut.
»Jesus Christus«, keuchte Pesaro. Er hob den
Kopf, und Sebastian
registrierte erschüttert den Hass in seiner Miene. Den unbändigen
Zorn. Denselben Wahnsinn, von dem er spürte, dass er auch sein
eigenes Gesicht zeichnete und ihm die Eingeweide verätzte.
Alles um ihn herum wurde unscharf, als Sebastian
den Pflock nach unten stieß.
Ein leises, implodierendes Geräusch echote
durchs Zimmer, Asche regnete zu Boden, dann hörte er das
metallische Klimpern des Kupferarmbands, als es vor seinen Füßen
landete.