Kapitel 5
In welchem eine Nachricht überbracht wird
In der letzten Karnevalsnacht war der Corso von Lichterglanz erfüllt.
Die gesamte Einwohnerschaft Roms schien sich in der breiten Strada und ihrer angrenzenden Piazza zu drängen, bevor sie sich in die schmalere Ripetta und andere Straßen verteilte. Jeder der Passanten trug in einer Hand eine große, gedrehte Kerze, auch Moccoletto genannt, und in der anderen eine lange Rute, an deren Spitze ein Taschentuch hing. Die hellen Flammen tanzten auf und ab und tauchten dabei die Gebäude, maskierten Gesichter und eleganten Kutschen in ihren goldenen Schein, während die Feiernden mit ihren Taschentüchern nach den Flammen anderer Kerzen wedelten.
Das Spiel bestand darin, die Kerze eines anderen zu ersticken, bevor die eigene gelöscht wurde, was der ausgelassenen Menschenmenge großes Vergnügen zu bereiten schien.
Victoria hatte nie zuvor etwas gesehen, das diesem Lichtermeer glich, welches Tausende von Römern auf den Stra ßen erzeugten. Sie riefen sogar von den Balkonen herunter, die mit purpurfarbenen Tüchern drapiert waren - einer von ihnen musste Lady Melly und ihre Freundinnen beherbergen - und reckten dabei ihre Moccoli in die Höhe. Victoria konnte kaum atmen in der Enge der Straßen, die überfüllt waren mit Menschen und Kutschen. Der Geruch von brennendem Wachs und der dicht gedrängten Menschenmenge überlagerte die eigentlich frische Nachtluft. Trotzdem war sie froh, dass die Gipsbonbon-Geschosse des Vorabends einer freundlicheren Atmosphäre und winkenden Taschentüchern gewichen waren.
Diese letzte Nacht des Faschingstreibens in den Stunden vor Aschermittwoch war die wildeste, lauteste und schönste Feier, die sie je erlebt hatte. Victoria hätte es zwar vorgezogen, das Ganze von einem hohen Landauer aus zu beobachten, aber sie hatte andere Verpflichtungen.
Ihr Stock war ein wenig dicker als die der anderen Feiernden. Tatsächlich war er nicht nur dicker, sondern am unteren Ende zudem zu einer tödlichen Spitze zurechtgeschnitzt.
Anstelle der langschnabeligen Falkenmaske von gestern hatte Victoria heute eine aufgesetzt, die sich besser handhaben ließ. Der obere Teil ihres Gesichts wurde von einer goldenen, mit glitzernden blauen und grünen Streifen sowie orange- und pinkfarbenen Schnörkeln bemalten Maske bedeckt, aus der nichts hervorragte, das sich an irgendeiner nahen Schulter verfangen konnte. Weiße Federn sprossen oben und an den Seiten aus ihr hervor, und von den Rändern hingen gelockte, rote Bänder bis auf ihre Schultern. Ihr Mund und ihr Kinn blieben frei, was ihr den Genuss der köstlichen gerösteten Maroni und auch das Sprechen sehr viel leichter machte als die Maskierung des Vorabends.
»Senza moccolo!«, brüllte ihr ein als Bandit verkleideter Mann ins Ohr und schwang seine Rute zu ihrer Kerze.
Victoria schirmte sie, so wie sie es rasch gelernt hatte, mit der Hand ab, wobei sie mit der anderen nach dem Taschentuch ihres Gegenübers griff und ihm den Stock abnahm. Mit einem Nicken warf sie das Taschentuch weg, verzichtete jedoch darauf, die Kerzenflamme des Mannes zu löschen.
Zavier beobachtete das Ganze. »Sie sind sehr schnell.« Er lächelte sie unter dem breitkrempigen Sombrero hervor an, den er für diese Nacht gewählt hatte. Victoria wusste nicht, wie es ihm gelungen war, ohne Maske davonzukommen, während Ilias bei ihr auf einer bestanden hatte. »Sie schützen Ihre Kerze auf dieselbe Weise, wie Sie die Menschen dieser Stadt schützen.«
»Das hier ist Wahnsinn.« Victoria sah sich nach allen Seiten um. Überall um sie herum waren große, bemalte Masken und Hunderte von Schultern, Hälsen und Kehlen zu sehen. Die ausgelassene Senza-moccolo-Prozession war bis auf Armhöhe verdunkelt und gleichzeitig von oben in Licht getaucht. Hier herrschte ein dichteres Gedränge als in jedem Londoner Ballsaal, und die Prozession bewegte sich gleichermaßen schrecklich wie atemberaubend durch die Nacht. »Selbst wenn ich sicher wüsste, dass ein Vampir in der Nähe ist, würde ich ihn niemals ausmachen geschweige denn stellen können.« Victoria musste fast schreien, um in dem Tumult überhaupt gehört zu werden.
»Ja, deshalb sollten wir vielleicht einfach mitfeiern, bis um Mitternacht die Kerzen gelöscht werden und alle nach Hause gehen.« Die Intensität, mit der er sie ansah, während sein Hut die Federn ihrer Maske berührte, verursachte ihr ein warmes Bauchkribbeln.
Aber noch bevor Victoria etwas erwidern konnte, spürte sie plötzlich einen Hauch in ihrem Nacken, der gleich darauf zu eisiger Kälte wurde. Ein Untoter war ganz in ihrer Nähe. Sie drehte sich um, so schnell, dass sie, während sich die maskierten Menschen an ihr vorbeidrängten, mit der Schulter einen Engel anrempelte, dann einen Zigeuner und anschließend eine Eule.
Sie suchte Zavier und erkannte, dass er die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen hatte, so als hätte auch er etwas gespürt und die Verfolgung aufgenommen. Obwohl sie sich darüber einig waren, wie schwierig es war, in diesem Gedränge einen Untoten auszumachen, würden sie trotzdem beide nicht tatenlos zusehen, wie hier ein Vampir sein Unwesen trieb.
Sie und Zavier waren inzwischen ein gutes Stück voneinander getrennt, als Victoria sich wieder umdrehte und erneut gegen den Strom von Menschen andrängte, wobei sie unentwegt nach einem Paar roter Iriden hinter den vorbeiziehenden Masken oder einer verkleideten Sarafina Regalado Ausschau hielt.
Sie schloss für einen Moment die Augen, um die Richtung zu ermitteln, welche die Kreatur eingeschlagen hatte, dann steuerte sie durch das Gewühl hindurch nach links. Die Kälte in ihrem Nacken verstärkte sich, während sie sich inmitten des Menschenstroms weiter vorarbeitete. Plötzlich entdeckte sie nur wenige Meter entfernt, in der Dunkelheit jenseits des ausgelassenen Treibens, zwei glimmend rote Augen in einem maskierten Gesicht.
Victoria schob sich mit der Schulter durch die Menge, die sich noch immer am Senza-moccolo-Spiel ergötzte, und pirschte sich an den Vampir heran, bis sie nahe genug war, um ihn berühren zu können. Ihr Nacken schien inzwischen mit einer Eisschicht überzogen zu sein, und sie verspürte diesen vertrauten Adrenalinschub, den die Gegenwart eines Untoten stets bei ihr auslöste. Sie brachte ihren als Rute getarnten Pflock in Angriffsstellung, dann wandte sie ihm - oder ihr; sie war sich des Geschlechts der Kreatur nicht sicher - das Gesicht zu und schloss die Finger um seinen Arm.
Inmitten des dichten Gedränges mit all dem Gerufe, den wogenden Bewegungen, den auf und ab tanzenden Ruten hätte Victoria ihm völlig unbemerkt den Pflock in die Brust stoßen können, noch bevor er überhaupt begriff, dass sie ein Venator war. Aber das tat sie nicht.
Stattdessen sagte sie: »Richte Beauregard aus, dass der weibliche Venator nach seinem Enkel sucht.«
Er blickte mit blitzenden Fangzähnen zu ihr hinunter. »Ich bin kein Botenjunge.«
»Ach nein? Dann bitte ich um Verzeihung.« Behände brachte sie den Pflock nach oben und rammte ihn dem Untoten ins Herz.
Nach Art der Vampire implodierte er in einer Aschewolke, die auf die Feiernden herabregnete und eine zierliche, kleine Schafhirtin für einen Moment vergessen ließ, ihren Moccoletto zu bewachen, um sich den plötzlichen Staub von den Kleidern zu klopfen.
Das eisige Prickeln in Victorias Nacken hatte zwar nachgelassen, war jedoch nicht völlig verschwunden. Es waren noch weitere Vampire in der Nähe.Vielleicht würde einer von ihnen lieber den Botenjungen spielen, statt in ein Aschehäuflein verwandelt zu werden.
Andererseits hatte sie ihre Nachricht in der Vornacht, nachdem sie im Anschluss an Sarafina Regalados Entführungsversuch auf dem Friedhof wieder zum Karneval zurückgekehrt war, schon zwei anderen übermittelt. Vielleicht würde das ja ausreichen, um mit Sebastian in Kontakt zu treten.
Mit noch immer kribbelndem Nacken begann sie, sich auf der Suche nach Zavier wieder durch die Menge zu schieben. Hinter sich hörte sie, wie die Schäferin empört aufschrie, als ihre Kerze gelöscht wurde.
Plötzlich prallte etwas von hinten gegen sie. Victoria taumelte und wäre hingefallen, hätte nicht der Rücken einer Pulcinella ihren Sturz abgefangen. Ihre Kerzenflamme flackerte in ihrem Bett aus Wachs, dann senkte die Pulcinella ihre Rute mit dem Taschentuch auf Victorias Moccoletto.
Sobald sie mit ihrer erloschenen Kerze in der Hand wieder festen Stand unter den Füßen hatte, fand sie sich plötzlich einem maskierten Mann gegenüber. Seine Augen waren nicht rot, aber welche Form oder Farbe sie genau hatten, konnte sie unter der schwarzen Kapuze seines Dominos nicht sehen. Doch sie erkannte die Kinnpartie und die Masse heller Locken, die seinen Hals umschmiegten. Er lächelte sie belustigt und ein wenig herausfordernd an.
Offensichtlich war die Nachricht überbracht worden. Noch bevor Victoria etwas sagen konnte, zog er mit einer abrupten Bewegung eine Johanna von Orleans zwischen sie, dann verschwand er in der Menge.
Victoria stieß die lachende Jungfrau aus dem Weg und nahm mit klopfendem Herzen die Verfolgung auf. Sie tat es ohne zu zögern, obwohl ihr natürlich bewusst war, dass man sie trotz verschiedener Maskierungen zwei Mal in ebenso vielen Nächten verfolgt hatte. Es war ein Risiko, aber kein unerwartetes.
Sie hielt einen Pflock in der Hand, während ein zweiter in derselben Tasche wie der Dolch verborgen war, den Kritanu ihr zu Beginn ihres ankathari-Trainings gegeben hatte. Der kadhara hatte eine gekrümmte Klinge und war etwa so lang wie ihr Unterarm. Außerdem wurde sie von dem großen Kruzifix unter ihrer Kleidung geschützt, und natürlich von den beiden vis bullae.
Den Rücken des dunklen Dominos im Auge zu behalten und gleichzeitig seinem Zickzackkurs durch die Menge zu folgen war eine richtige Herausforderung. Er trug keine Kerze bei sich, und Victorias war gelöscht worden, deshalb blieb sie, sobald sie den Rand des Lichtermeeres erreicht hatte, kurz stehen, um ihre Flamme an dem dicken Docht der Kerze eines Esels erneut zu entzünden.
Nachdem sie sich durch die letzte Reihe von Menschen gedrängt hatte, fand Victoria sich in einer kurzen, schmalen Viuzza wieder; sie hielt inne und sah sich um. Es war ein seltsamer Kontrast: In ihrem Rücken Tausende lachender und lärmender Menschen mit ihren gelb leuchtenden Kerzen, und vor ihr diese dunkle Seitengasse, die nur von ihrer einzelnen Flamme erhellt wurde. Hier herrschte vollkommene Stille. Totenstille.
Die Kälte in ihrem Nacken hielt an, und die Härchen waren noch immer erwartungsvoll aufgerichtet, trotzdem sah sie niemanden. Als sie sich einen Moment zuvor aus der Menge geschoben hatte, war er noch da gewesen, aber jetzt war sie plötzlich allein.
Und wartete darauf, dass ihr wieder eine schwarze Decke über den Kopf geworfen würde.
Halb geduckt und für einen Angriff gewappnet, drehte Victoria sich langsam um und spähte in die Dunkelheit. Dann erkannte sie eine Bewegung.
»Ah, also bist du es tatsächlich. Ich war zunächst noch im Zweifel, aber die Sicherheit, mit der du deinen Pflock gehandhabt hast, überzeugte mich«, sagte die Gestalt mit dunkler Stimme, während sie sich aus den Schatten löste.
»Beauregard.« Als Victoria nun auf ihn zutrat, sah sie sich misstrauisch nach allen Seiten um, um festzustellen, ob er allein war oder ob irgendwo noch jemand lauerte, der sie aus dem Hinterhalt überwältigen könnte. Sebastian womöglich. Sie hatte die Finger fest um ihren Pflock geschlossen. Ihr Genick war noch immer kalt. Zusätzlich verspürte sie dort ein Prickeln, so als würde sie irgendjemand beobachten. »Du hast meine Nachricht also erhalten?«
»Warum sollte ich dich wohl sonst gesucht haben?« Seine Antwort klang unbefangen, doch ihr entging nicht, mit welch respektvoller Wachsamkeit er die Kapuze seines Dominos nach hinten schob.
»Dann wurde die Nachricht womöglich falsch überbracht«, erwiderte sie. »Ich wollte nämlich mit deinem Enkel sprechen und nicht mit dir.«
»Es ist nicht nötig, dass du mit diesem Pflock herumfuchtelst, so als wärst du ein frischgebackener Venator auf seiner ersten Jagd.« Um seinen Gleichmut zu demonstrieren, verschränkte er die Arme, wobei einer der Ärmel nach oben rutschte und ein kräftiges, elegantes Handgelenk zum Vorschein brachte. Seine Haltung und auch seine Miene erinnerten sie ein weiteres Mal an Sebastian.
Aber obwohl die beiden ähnlich aristokratische Gesichtszüge und dasselbe dichte, gelockte Haar hatten, besaßen sie ansonsten nur wenig Ähnlichkeit. Beauregard, der bei seiner Transformation etwa Mitte vierzig gewesen sein musste, hatte eine etwas breitere Nase und dünnere Lippen als sein Enkel, außerdem war sein Haar nicht goldbraun wie Sebastians, sondern eher silberblond. Er war auf seine kühle Art recht attraktiv, und genau das war der Grund, warum er sie, neben seinem offenkundigen Charme und dem exzellenten Modegeschmack, an den jüngeren Mann erinnerte.
»Ich habe dich weder bedroht noch irgendjemanden verletzt«, fuhr Beauregard fort.
»Du bist jetzt seit vierhundert Jahren ein Untoter; ganz bestimmt hast du dich irgendwann in dieser Zeit an mindestens einem Sterblichen vergangen. Und sobald ein Vampir erst einmal das Blut eines Menschen getrunken hat, ist ihm die ewige Verdammnis sicher. Ich dachte, ich könnte dir vielleicht schneller dorthin verhelfen.«
»Tatsächlich sind es beinahe sechshundert Jahre, teuerste Victoria. Sechshundert. Aber was ist das schon im Vergleich zum Alter unserer eleganten Lilith, nicht wahr?« Seine Augen wurden schmal, dann begannen sie rot zu funkeln. »Steck diesen Pflock weg. Schließlich hast du eine Nachricht geschickt, und es ist ja nicht so, als ob ich versucht hätte, dich zu beißen.«
»Ich nehme an, es ist nur eine Frage der Zeit, bis du das nachholst.«
»Ganz wie du willst.« Beauregard grinste, und nun blitzten auch seine Fangzähne auf. Sie waren nicht länger als der Fingerknöchel eines Mannes, dabei aber rasiermesserscharf. So scharf, dass das Opfer es kaum merken würde, wenn er sie in sein Fleisch grub; beziehungsweise eher Wonne als Schmerz verspüren. Die unteren, hinter seiner Lippe verborgenen Eckzähne waren wesentlich kürzer, dabei aber nicht weniger tödlich.
Victoria war so töricht gewesen, sich durch ihr Wortgefecht so sehr ablenken zu lassen, dass ihr Blick direkt zu seinen rubinroten Iriden geglitten war. Er hatte sie in seinen Bann geschlagen.
Die Wächtervampire, aus denen sich auch Liliths persönliche Leibgarde zusammensetzte, verfügten mit ihren rubinfarbenen Augen über besonders starke, hypnotische Fähigkeiten. Victoria fühlte, wie ihre Gliedmaßen kraftlos wurden und sich ihr der Kopf zu drehen begann, während Beauregard seine magischen Fesseln um sie legte. Das Blut rauschte durch ihre Venen, die Blutgefäße schwollen an und erzeugten heißen Druck in ihrem Körper.
Beauregards Atem glich sich ihrem an, dann versuchte er, ihn ganz zu beherrschen. Victorias Muskeln erschlafften, trotzdem hielt sie weiterhin mit einer Hand den Pflock, mit der anderen die Kerze fest. Sie konnte gerade noch klar genug denken, um zu realisieren, wie stark sein Sog war und wie schwer es sein würde, ihm Widerstand zu leisten.
Benommen zwang sie sich zu blinzeln, um den Bann zu durchbrechen. Unendlich langsam, so als würde sie bis zum Hals im Wasser stromaufwärts durch einen Fluss waten, gelang es ihr, die Lider zu schließen. Sie nahm eine Bewegung wahr, dann spürte sie seine warme, starke Hand an ihrem Hals. Wieder versuchte sie zu blinzeln, versuchte, die Kontrolle über ihre Atmung zurückzuerlangen und sich aus dem pulsierenden roten Schacht zu befreien, in den sie gestürzt war, sich an der Realität festzuklammern, indem sie sich auf das Gefühl des Pflockes in ihrer Hand und die Energie der vis bulla an ihrem Nabel konzentrierte.
Dann plötzlich war der Bann durchbrochen. Sie riss sich los und atmete aus eigener Kraft tief ein, holte mit dem Pflock aus und stieß ihn in Richtung seiner Brust nach unten - einer Brust, die sich in diesen wenigen Momenten der Hypnose näher an sie herangedrängt hatte. Ihr Bewusstsein nahm plötzlich alles wieder klar und deutlich wahr - die Nacht, die Dunkelheit, die Gerüche der Stadt, die über ihnen aufragenden Häuser. Doch mitten in ihrer Bewegung ließ Beauregard seinen Arm nach oben schnellen, um ihren Angriff abzuwehren, dann trat er einen Schritt zurück.
Ihre Unterarme prallten mit solcher Wucht aufeinander, dass es Knochenbrüche gegeben hätte, wären sie nicht Venator und Vampir gewesen.Victoria schnappte nach Luft. »Ich wusste, dass man dir nicht trauen kann«, fauchte sie, bevor sie sich ein weiteres Mal auf ihn stürzte. »Auch wenn dein Enkel das Gegenteil behauptet.« Sie ließ ihre Kerze fallen und attackierte.
Als er sie erneut abblockte, wurde sie durch ihre eigene Schwungkraft gegen ihn geschleudert, sodass sie wie in einer Parodie der Umarmung Liebender für einen Moment Brust an Brust verweilten, bevor Victoria sich wegduckte und versuchte, hinter ihn zu gelangen.
Beauregard sprang zur Seite, aber sie warf sich auf ihn. Er packte sie um die Taille und versetzte ihr einen derart brutalen Stoß, dass sie rückwärts gegen eine Ziegelmauer krachte. Ihre Kerze, die auf der Erde weiterbrannte, flackerte wie wild, als Victoria mit einem Blick zu dem Vampir erkannte, dass sie sich in einer Patt-Situation befanden.
»Stark, tapfer, starrköpfig und wunderschön. Ich begreife vollkommen, warum mein Enkel sich zu dir hingezogen fühlt.« Er verzog die Lippen, die schmaler waren als Sebastians, aber von derselben Form, zu einem Lächeln. Der Ausdruck erinnerte Victoria unwillkürlich daran, wie oft sie jene anderen Lippen geküsst hatte. Beauregards Augen funkelten hinter seiner Maske, als er erneut versuchte, sie mit seinem Blick gefangenzunehmen. »Es ist wirklich schade, dass er dich zuerst entdeckt hat, Venator. Aber falls er sein Liebchen nicht mit gebührender Aufmerksamkeit behandelt, vielleicht wird es ja vielleicht eines Tages des Wartens überdrüssig werden und sein Verlangen auf etwas anderes richten. Auf Macht und Unsterblichkeit zum Beispiel.«
»Ich bin ebenso wenig sein Liebchen, wie er ein Venator ist.« Mit einem angewiderten Schnauben trat sie einen Schritt zurück, blieb jedoch in Angriffshaltung. »Ich traue ihm nicht mehr als dir; vielleicht sogar noch weniger. Denn bei dir weiß ich wenigstens, auf welcher Seite du stehst.«
»Ich verstehe.« Die Art, wie er sie jetzt ansah, so als würde er über irgendeine wichtige Frage nachdenken, unterschied sich so sehr von dem Blick, mit dem er versucht hatte sie zu hypnotisieren, dass Victoria ihm beinahe wieder direkt in die Augen geschaut hätte. Aber sie hatte nicht vergessen, wie leicht sie ihm zuvor ins Netz gegangen war, deshalb verzichtete sie darauf. »Du sagst selbst, du weißt, wo ich stehe. Würdest du also bitte einen erneuten Angriff unterlassen«, fügte er hinzu, als sie gerade wieder losschlagen wollte. »Es stimmt, du bist genau so verführerisch und fähig, wie ich mir das erhofft hatte. Wir sollten nun zum Geschäftlichen kommen.«
Victoria atmete zwar nicht mehr schwer, trotzdem war sie auf der Hut, und ihre Muskeln blieben angespannt. »Geschäft? War das dein Vampir, den ich vorhin gepfählt habe? Ein Köder, um mich aus der Menge zu locken? So wie du es schon gestern Nacht getan hast?«
Sie konnte beinahe sehen, wie er hinter der Domino-Maske die Augenbrauen hochzog. »Ich fürchte, da irrst du dich. Ich war gestern Abend anderweitig beschäftigt. Es war eine langweilige Angelegenheit, aber hin und wieder muss man seinen Hunger nun mal stillen. Wenngleich ich zugebe, dass ich den jungen Mann, den du getötet hast, als einen von mehreren - wie hast du es ausgedrückt? Köder? - benutzte. Um dich in dem Gedränge ausfindig zu machen; damit ich sozusagen deinem Ruf folgen konnte.«
»Offensichtlich war er entbehrlich.«
Beauregard zuckte mit den Schultern. »Die ganz Jungen sind so verdammt von sich selbst überzeugt, dass sie sich nach ihrer Verwandlung für unbesiegbar halten. Sie begreifen nicht, dass ein Venator ihrer Unsterblichkeit ebenso mühelos ein Ende setzen kann wie sie menschlichem Leben. Es war eine gute Lektion für einige seiner Gefährten. Ein Glück für mich, dass die meisten dieser jungen Schwächlinge sich Regalado und seiner Tutela angeschlossen haben.«
»Also tobt die Schlacht zwischen den beiden Vampir-Fraktionen weiter.« Victoria hob mit einer schwungvollen Bewegung die Kerze auf, doch verzichtete sie darauf, anschließend wieder ihre Angriffshaltung einzunehmen.
»Schlacht? So würde ich es nicht gerade nennen. Selbst mit ihrem neuen Verbündeten sind Regalado und seine Gefolgsleute keine Gegner für mich. Tatsächlich habe ich bereits einen Plan, wie ich mich ihrer entledigen kann.«
Victoria gähnte demonstrativ. »Vampir-Politik. Daran bin ich nicht sonderlich interessiert; wenn es nach mir ginge, würde ich euch alle einfach pfählen, gleichgültig, auf wessen Seite ihr steht. Aber lass uns lieber darüber reden, warum du mich in diese dunkle Gasse gelockt hast. Mir fällt als einziger Grund eigentlich nur ein, dass du irgendeine Art von Bezahlung erwartest, wenn du mir sagst, was ich wissen will.«
»Ah, gut. Du verminderst da ein gewisses Unbehagen, indem du das Thema selbst anschneidest.« Beauregards Lachen erinnerte Victoria auf unangenehme Weise an Sebastian. Dann verflog sein Charme, und seine Augen funkelten wieder dunkelrosa. »Warum willst du ihn treffen? Ich würde von einer Frau deines Formats und Selbstvertrauens nicht erwarten, dass sie einem lockeren Wüstling wie meinem Enkel nachjagt.«
Um ihm nicht direkt in die gefährlichen Iriden blicken zu müssen, senkte Victoria den Kopf. »Ich denke, dass der Wüstling eher ein nicht weit vom Stamm gefallener Apfel ist. So verwittert dieser Stamm auch sein mag. Aber darum geht es nicht; das Ganze hat mit meiner Tante zu tun.« Es hatte keinen Sinn, Beauregard gegenüber die Zurückhaltende zu spielen - sie brauchte seine Hilfe, um Kontakt mit Sebastian aufzunehmen.
»Deine Tante?«
In diesem Moment erkannte Victoria ihren Fehler. Sie hätte ihn weiter glauben lassen sollen, dass es Sebastian selbst war, den sie, die verschmähte Frau, ausfindig machen wollte. Aber vielleicht konnte sie die Situation noch retten. »Er hat mir etwas geschickt, das meiner Tante gehörte und ich … wollte ihm dafür danken.«
Sie wusste, dass Beauregard zu schlau war, um ihr diese völlig veränderte Persönlichkeit abzukaufen, aber vielleicht würde eine feine Andeutung ohnehin wirkungsvoller sein.
»Ihm danken? Ah.« Die Art, wie er diese letzte Silbe seufzte, verriet ihr, dass er den Köder geschluckt hatte. Das rosarote Glimmen verschwand aus seinen Augen und wurde von einem selbstgefälligen Ausdruck ersetzt. »Es ist Monate her, nicht wahr? Und du möchtest ihm nun danken
»Ich muss ihn unbedingt sehen.« Sie ließ Verzweiflung in ihrer Stimme mitschwingen - sollte er doch glauben, was er wollte. Sollte er Sebastian ruhig weismachen, dass sie sich nach ihm verzehrte. Letztendlich spielte es keine Rolle.
»Dankbarkeit ist etwas, das sowohl mein Enkel als auch ich sehr zu schätzen wissen, wie du dir denken kannst. Möglicherweise bin ich geneigt, Sebastian deine Nachricht zu überbringen, falls ich im Austausch etwas von dir bekomme.«
Statt zu antworten, krampfte Victoria die Finger um den Pflock und wartete darauf, dass er weitersprach. Sie hatte mit nichts anderem gerechnet.
Beauregard nickte, dann breitete er beinahe entschuldigend die Hände aus. »Ich verspüre Neugier. Und ein Verlangen, das befriedigt werden will.«
Victoria wusste genau, worauf er anspielte. Ihre Handflächen wurden feucht, und ihr Herz begann zu rasen, während sie gleichzeitig spürte, wie er erneut sein Netz über sie warf. Er war sehr mächtig und körperlich vermutlich ebenso stark wie sie mit ihren beiden vis bullae.
»Du kannst nicht von meinem Blut trinken.« Victoria umklammerte den langen Pflock in ihrer Hand. »Weil ich dich nämlich vorher in die Hölle schicken werde.«
Beauregard wirkte gekränkt. »Trinken? Du musst nicht vulgär werden, meine Liebe. Blut zu trinken ist wie das Brunften von Schweinen oder das stumpfsinnige Ficken einer Hure. Was ich von dir will, ist viel mehr, als dein heißes, dickes Blut zu kosten. Dein süßes Venatorenblut.«
Seine Stimme war verführerisch, trotzdem blieb Victorias Kopf klar genug, dass sie das Holz unter ihren Fingern und das heiße Wachs spüren konnte, das in einem dünnen Rinnsal von der Kerze auf ihre Hand tropfte.
»Nein«, sagte sie mit fester Stimme, während ihr Bewusstsein langsam nachgiebiger wurde. »Du wirst mich nicht beißen.«
»Dann küss mich,Victoria. Lass mich dich schmecken.« Obwohl er leise sprach, fühlte es sich an, als würden seine Worte sie umfangen, ihre Ohren füllen und in ihr Blut sickern, das plötzlich gleich einer Sturmflut durch ihre Adern brauste. »Lass mich von dem probieren, was mein eigenes Fleisch und Blut begehrt.«
Victoria konzentrierte ihre Gedanken auf ihren Pflock, sie zwang sich, den Gestank eines nahen, faulenden Müllhaufens zu riechen, und versuchte mit ganzer Willenskraft, ihren Herzschlag wieder in seinen eigenen Rhythmus zu bringen. »Nein«, wiederholte sie scharf und durchdrang damit den einlullenden Nebel, den er um sie gewoben hatte. »Du kannst mich nicht in deinen Bann ziehen, Beauregard. Ich bin zu stark.«
»Ich verlange nicht mehr als einen Kuss.« Seine Stimme war noch immer ruhig und leise, doch seine Augen loderten. »Mund zu Mund. Falls es dich beruhigt, darfst du deinen Pflock zwischen uns halten,Venator.«
»Dann könnte ich ihn dir mühelos ins Herz stoßen und dich in die Hölle schicken«, erwiderte Victoria nun wieder gelassener. »Ganz bestimmt würde mich Sebastian dann aufspüren; es wird ihm nicht gefallen, wenn ich seinen Großvater in die ewige Verdammnis schicke.«
Beauregard hob das Kinn. »Erinnere mich nicht an mein Schicksal. Ich ziehe es vor, mir darüber keine Gedanken zu machen. Du hast auch keinen Grund das zu tun, denn wenn du mir meinen Wunsch erfüllst, werde ich Sebastian deine Nachricht übermitteln. Lass mich einfach nur deine Lippen kosten.«
Einen Moment lang antwortete sie nicht, und vielleicht spürte er, dass sie schwach zu werden drohte. Alles in allem war es doch nicht mehr als ein Kuss, außerdem würde sie ihren Pflock bereithalten. Und solange sein Mund auf dem ihren war, würde er seine Fangzähne nicht an ihrem Hals haben - oder sie in einen anderen Teil ihres Körpers schlagen. Abgesehen davon wäre dies nicht das erste Mal, dass sie einen Vampir küsste.
»Ein einziger Kuss«, entgegnete sie schließlich mit pochendem Herzen. »Und ich halte den Pflock zwischen uns.«
»Wenn du dich dabei besser fühlst.« Beauregard trat schon auf sie zu, obwohl Victoria noch nicht wirklich bereit war.
Mit seinen kräftigen Fingern umfasste er ihre Schultern, dann beugte er seinen Kopf mit den silberblonden Locken zu ihr, sodass sich der Schatten in seinem gespaltenen Kinn noch vertiefte. Sie hielt die Hand mit der Kerze über seine Schulter und die mit dem Pflock zwischen ihren Körpern, dann hob sie das Gesicht und schloss die Augen.
Sie zuckte zusammen, als sein unvertrauter Mund den ihren berührte und sie bizarrerweise eine warme, weiche und eine kalte, feste Lippe spürte, die sich auf ihre legten. Kalt und heiß, hart und weich … eine Welle verschiedenster Empfindungen riss sie mit sich fort, und sie ließ den Kopf noch weiter nach hinten sinken.
Die Hand, in der sie den Pflock hielt, wurde zwischen ihren Oberkörpern eingeklemmt; Beauregard löste die Finger von ihrem Nacken, der noch immer eiskalt war, und ließ sie zum Ansatz ihres schlichten Zopfs wandern. Victoria erwiderte seinen Kuss, schmeckte die warme Feuchtigkeit, fühlte ihre Lippen übereinandergleiten, den Sog zwischen ihnen, den Druck ihrer Maske, deren Ränder in ihre Wangen schnitten. Beauregard zog sich langsam zurück, dann spürte sie plötzlich ein Kratzen an ihrer Unterlippe und schmeckte warmes Blut.
Die Hände um ihren Kopf gewölbt, hielt Beauregard sie fest, während er sanft an ihrer Lippe saugte und dabei eine Empfindung in ihr auslöste, die sich wie eine warme, erregende Spirale bis nach unten zwischen ihre Beine arbeitete. Victoria drehte das Gesicht weg und versuchte, ihn mit gezücktem Pflock von sich zu schieben, bis er sie schließlich losließ und einen Schritt zurücktrat.
Seine Brust hob und senkte sich, und seine Fangzähne schimmerten wie bläulich-weiße Dolche, während er sie ansah. »Bei Luzifers Schwert«, murmelte er.
Sie wollte sich auf ihn stürzen, doch er hob abwehrend die Hand. »Ich werde Sebastian deine Nachricht zukommen lassen. « Damit tauchte er in die Dunkelheit, doch sie hörte noch, wie er sagte: »Es war mir ein großes Vergnügen, Victoria. Ich freue mich schon auf unser nächstes Mal.«
Die Worte verklangen, und sie war allein.
Statt jedoch der Stelle, an der Beauregard verschwunden war, den Rücken zuzukehren, schlich sie sich denselben Weg zurück, den sie gekommen war. Sie tastete sich an der Ziegelmauer entlang und bemühte sich, ihren Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bringen, während sie sich gleichzeitig auf die Gasse vor und hinter sich konzentrierte. Noch immer tropfte Blut aus der kleinen Wunde an ihrer Lippe. Falls irgendwelche anderen Vampire in der Nähe waren, würden sie es möglicherweise riechen und seine Quelle suchen.
Doch Victoria war bereit.
Sie erreichte das Ende der Gasse und entdeckte in der Ferne den gelben Schein der Moccoletti an den Häuserwänden des nächsten Blocks. Ihr Nacken war zwar noch immer kalt, dabei aber nicht mehr so eisig. Also befand sich kein Vampir in der Nähe, wenn auch irgendwo in der Gegend, vielleicht nur ein paar Straßen weiter, einige lauern mochten. Sie überlegte, wo Zavier wohl stecken mochte und ob er ein paar Untote aufgespürt hatte. In einem Punkt war sie sich allerdings ganz sicher: Sie würde ihn in dieser Nacht auf keinen Fall wiederfinden. Sie war alleine auf der Jagd.
Als sie sich aus den schützenden Schatten der Gasse löste, überkam sie plötzlich von neuem das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie ließ die Finger in die tiefe Tasche ihres Kostüms gleiten und umfasste den Griff des kadharas, dann lief sie rasch zurück zur Via del Corso. Es ging schon auf Mitternacht zu, und wegen des Neumonds würden der Corso und seine umliegenden Straßen schon sehr bald dunkel und voller betrunkener Karnevalsteilnehmer sein.
Ein gefundenes Fressen für Vampire.
Das Getöse der Festlichkeiten schien, falls das überhaupt möglich war, während Victorias Abwesenheit von den kerzenhellen Straßen noch zugenommen zu haben. Als sie sich wieder der Menge anschloss, brauchte sie ihre eigene Kerze eigentlich nicht länger, denn sie war nun wieder von sanftem Licht umgeben, während sie tiefer in das Gedränge der »Senza moccolo!« rufenden Menschen eintauchte.
Mit einem Gefühl völliger Isolation watete Victoria durch die Menge. Sie blies ihre Kerze aus, dann beobachtete sie aufmerksam, wie scheinbar ganz Rom sich rufend und knuffend dem Karnevalstreiben hingab. Obwohl sie inmitten des Gedränges stand, war Victoria dennoch allein, während sie nach irgendeinem Zeichen von Gefahr oder Niedertracht in dieser festlichen Nacht Ausschau hielt - sie war allein, weil sie wusste, dass es in ihrer Welt so viel mehr gab, als die anderen auch nur ahnten. Es existierte so viel mehr als das Böse, das von Sterblichen ausging.
Sie war ein Venator, jemand, der nie wieder vollständig Teil dieser Welt sein würde.
Das plötzliche, durchdringende Geläut sämtlicher Kirchenglocken der Umgebung ließ Victoria zusammenzucken, denn obwohl der Lärm der Menschen noch immer ohrenbetäubend war, übertönten die düsteren Klänge die ausgelassenen Rufe. Mit dem letzten Schlag, der Mitternacht verkündete, war es auf der Straße augenblicklich still und dunkel.
Die Kerzen wurden derart unvermittelt gelöscht, dass es den Anschein hatte, als wäre ein heftiger Windstoß über den Corso gefegt und hätte sie alle gleichzeitig ausgeblasen. Und mit dem Licht verschwand auch der letzte Rest von Ausgelassenheit.
Urplötzlich war die Straße mit stummen Menschen gefüllt, die in Trauben den Heimweg antraten, wobei sie sich wesentlich schneller leerte, als Victoria sich das hätte vorstellen können. Auf einmal herrschte eine fast geisterhafte Atmosphäre. Ihr Nacken prickelte vor Kälte, und noch immer wurde sie das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden, während sie aufmerksam nach dem Glühen roter Augen Ausschau hielt.
Die Finger fest um den Dolch in ihrer Tasche geschlossen, lief Victoria die Straße entlang. Dann erinnerte sie sich plötzlich an ihre Maske und nahm sie ab. Sie brauchte sie nicht mehr. Der Karneval war vorüber; nun begann die vierzigtägige Fastenzeit. Bis Ostersonntag würde es keine Bälle oder andere Lustbarkeiten mehr geben.
Die lärmende Stadt war still geworden; noch nicht einmal leise Stimmen oder schlurfende Schritte waren zu hören.
Victoria registrierte aus dem Augenwinkel eine Bewegung, die von einem kalten Luftzug in ihrem Nacken begleitet wurde. In verlangsamtem Tempo folgte sie weiter der Straße, um sich damit zu einem leichten Ziel für den Untoten in ihrem Rücken zu machen. Sie fühlte eher, als dass sie es hörte, wie er stetig näher kam, und wechselte in ihrer Tasche von dem Dolch zu ihrem Pflock, bevor sie sich zu ihm umdrehte.
Besser gesagt zu ihr. Es war eine Frau mit langem, dunklem Haar und rot funkelnden Augen. Sie konnte gerade noch einen überraschten Schrei ausstoßen, bevor sie auch schon zu einem Haufen Asche zerfiel. Vermutlich hatte sie zu jenen jungen Vampiren gehört, von denen Beauregard zuvor mit solcher Verachtung gesprochen hatte.
Wem war sie ergeben gewesen - Regalado oder Beauregard?
Zielgerichtet, aber ohne große Eile ging Victoria die Via del Corso in südlicher Richtung hinunter und entfernte sich dabei immer weiter von der Piazza. Es würde noch mehrere Stunden dauern, bis die Dämmerung anbrach und sie zum Konsilium oder nach Hause zurückkehren konnte.
Mehr als einmal drängte sich ihr auch jetzt noch das Gefühl auf, beobachtet zu werden, aber ihr Nacken wurde nicht wieder kalt, und sie sah auch nichts. Witterte nichts. Immer weniger Menschen waren unterwegs, und sie legte zwei ganze Häuserblocks zurück, ohne auch nur eine einzige Kutsche über die Straße rumpeln zu hören.
Schließlich kam sie an dem schlanken Glockenturm der Santa Francesca Romana vorbei und näherte sich von dort aus den vor ihr aufragenden, runden, zerklüfteten Mauern des Kolosseums, dessen zahllose Arkaden in tiefe Finsternis gehüllt waren.
Die Nacht war totenstill. Selbst die letzten Nachzügler waren inzwischen zu Bett gegangen, um am nächsten Morgen die Fastenzeit zu beginnen. Victoria war ganz allein.
Dann spürte sie etwas hinter sich. Sehr nahe.
Sie zog den Dolch aus ihrer Tasche und drehte sich blitzschnell um.
Aber obwohl sie noch nicht einmal den Arm zum Angriff gehoben hatte, umfasste jemand mit kräftigen Fingern ihr Handgelenk. Dann sagte er: »Das ist nicht gerade die Begrü ßung, die ich erwartet hatte.«