Kapitel 3
In welchem Victorias Idyll gestört wird
Victoria und Michalas verbrachten den Rest der Nacht da mit, den Rione um die Villa Palombara herum zu durchkämmen. Nach einer mageren Ausbeute von drei weiteren gepfählten Vampiren kehrten sie bei Sonnenaufgang ins Konsilium zurück, um Ilias Bericht zu erstatten. Als sie ihn fanden, war er gerade auf dem Weg zu einer Besprechung mit Wayren.
Nach einer kurzen Unterredung schlug Ilias vor, dass Victoria ihn zu Wayren in deren Privatbibliothek begleiten solle. Michalas war erleichtert, dass er entlassen worden war; mit einem verschmitzten Grinsen kündigte er an, nach Hause gehen und einfach nur noch in sein Bett fallen zu wollen.
Victoria wäre seinem Beispiel gern gefolgt, aber natürlich tat sie es nicht. Stattdessen betrat sie gemeinsam mit Ilias die Bibliothek, in der es nach alten Büchern, nach Papier und Papyrus, Tinte und Leder roch. Sie war zuvor erst einmal kurz hier gewesen, deshalb nutzte sie nun, als sie wieder in den kuppelartigen Raum mit der einzelnen, durch drei Riegel verschlossenen Tür kam, die Gelegenheit, sich ein weiteres Mal umzusehen.
Die Decke des runden Zimmers befand sich hoch über ihrem Kopf, und in den Regalen, die in die gewölbten Wände eingelassen zu sein schienen, standen endlose Reihen von Büchern. Bei genauerem Hinsehen erkannte sie jedoch, dass die Regale aus Steinplatten bestanden, in die Buchstaben oder Symbole in einer Sprache graviert waren, die Victoria nicht kannte. Sie vermutete, dass die Zeichen irgendeine Art Code darstellten, nach dem die Bücher, Schriftrollen und ledergebundenen Pergamente geordnet waren.
Victoria trat auf den dicken, weißen Teppich, der die Hälfte des Bodens bedeckte, und wählte einen Stuhl mit gerader Rückenlehne als Sitzplatz. In der Mitte des Raums befand sich eine große Glasscheibe, die als Schreibtischplatte diente. Dahinter saß Wayren, deren Brille ordentlich auf einem Holztablett neben einem aufgeschlagenen Buch abgelegt war. Ilias, der hinter Victoria eingetreten war, schloss die Tür, dann setzte er sich auf den einzigen verbliebenen Stuhl.
Das Zimmer war nicht so groß, wie Victoria es in Erinnerung hatte; dabei wusste sie, welche Vielzahl von Werken Wayren darin aufbewahrte. Dutzende von Kerzen brannten in Wandleuchtern, auf einigen der niedrigeren Regalböden und in vielarmigen, mehrstöckigen Lüstern. Obwohl der Raum tief unter der Erde lag, war es in ihm so hell wie an einem Mittag im Juli.
Ilias sah Wayren an. »Wo ist Ylito? Kommt er nicht?«
»Ylito?« Der unvertraute Name überraschte Victoria. Sie kannte die Namen sämtlicher Venatoren, selbst wenn sie noch nicht allen begegnet war, genau wie die der Komitatoren, ihrer Kampfkunstlehrer, aber diesen hier hatte sie noch nie gehört.
»Er ist kein Venator, sondern ein Kräuterkundiger und Alchimist, der das Verhalten von Pflanzen und Metallen studiert und bei seiner Arbeit großes Talent beweist.«
»Willst du damit sagen, dass er ein Zauberer ist?«
Die ältere Frau sah für einen Moment gequält drein, dann lächelte sie sanft. »Er zieht es vor, als Hermetiker bezeichnet zu werden, also als eine Art spiritueller Alchimist, was für ihn etwas erträglicher ist als der Begriff Magier oder Zauberer.« Als Victoria sie weiterhin fragend ansah, ergänzte sie: »So stark und einschüchternd unsere Venatoren auch sein mögen, haben wir im Laufe der Zeit trotzdem festgestellt, dass jemand wie Ylito oftmals über Fähigkeiten verfügt, die das übertreffen, was ein Venator tun kann: nämlich Schutzzauber weben, Elixiere und Destillate herstellen und sogar die Energien von Gold und Silber bündeln - und das alles zu dem einen Zweck, das Böse zu zerstören, das dank Lilith und ihresgleichen auf dieser Erde wandelt.«
»Es ist nicht weiter verwunderlich, dass du Ylito bisher noch nicht kennen gelernt oder auch nur seinen Namen gehört hast«, fügte Ilias hinzu. »Er zieht es vor, in seiner Werkstatt zu bleiben, bis er gebraucht wird. Was wohl auch der Grund ist, weshalb er entschieden hat, uns zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit seiner Anwesenheit zu beehren.« Er verlagerte seine Sitzposition, dann hob er die Hand und kratzte sich am Kinn. »Lass uns also zum Thema kommen, Victoria. Allem Anschein nach haben wir es mit Vampiren zu tun, die nicht nur Tieren die Köpfe abschneiden, sondern nun offensichtlich auch noch Menschen.« Sein Blick glitt zu Wayren. »Ein solches Verhalten würde eher zu Dämonen passen, aber nachdem die Untoten diese verabscheuen, bin ich wirklich völlig überfragt, warum sie so etwas tun sollten.«
»Ich werde die Bücher zu Rate ziehen«, versprach Wayren, nachdem Victoria die geköpften Leichen genauer beschrieben hatte. »Trotzdem würde ich vorschlagen, jemand stattet dem Alchimistischen Portal - der Porta Alchemica - bei Tageslicht einen Besuch ab. Vielleicht finden wir ein paar Hinweise, die euch in der Dunkelheit entgangen sind.«
Ilias wandte sich nun Victoria zu. »Es gibt drei Schlüssel, mit denen sich die Magische Tür, wie sie ebenfalls genannt wird, öffnen lässt. Jeder muss in sein entsprechendes Schloss gesteckt werden, doch kann man ihn anschließend nicht mehr herausziehen, solange die Tür nicht geöffnet wurde. Palombara trug einen der Schlüssel bei sich, einen zweiten hat er irgendwo in der Villa versteckt, und der dritte wurde Augmentin Gardella gegeben, kurz bevor der Marchese spurlos verschwand.«
»Ein Venator.« Victorias Haut begann zu kribbeln.
»Ganz genau. Leider ist es Augmentin nicht gelungen, Palombara zu beschützen, bis dieser sein Werk vollenden konnte. Aber er behielt den Schlüssel und vererbte ihn innerhalb der Familie weiter. Deine Tante war die letzte Person, die ihn in ihrem Besitz hatte.«
»Aber er ist nicht hier, deshalb sollten wir ihn finden, bevor es die Vampire tun«, erklärte Wayren, den Blick auf Victoria gerichtet. »Ich glaube, deine Tante trug ihn an ihrem Körper. Erinnerst du dich an ein silbernes Armband? Es wurde speziell für den Schlüssel angefertigt, der im Übrigen ziemlich klein ist - kaum größer als ein Fingerknöchel.«
»Sie trug es hoch an ihrem Arm und nahm es niemals ab. Genau wie ihre vis bulla.« Victoria biss sich auf die Lippe; es gefiel ihr gar nicht, welche Richtung ihre Gedanken einschlugen. Sie sollte besser das Thema wechseln. »Was verbirgt sich hinter dieser Tür, das für die Vampire so wichtig ist? Sie sind doch schon unsterblich.«
»Die Papiere und Bücher des Alchimisten müssen etwas in sich bergen, das sehr wertvoll für sie ist. Im Anschluss an Palombaras Verschwinden gab es einiges Gerangel um die Tür, als sowohl die Untoten wie auch einige der sterblichen Alchimisten sich gewaltsam Zutritt verschaffen wollten. Aber der einzige Weg nach drinnen führt über die drei Schlüssel, und diese hatte keiner von ihnen, außer möglicherweise den einen, den Palombara selbst verwahrte.« Ilias malträtierte wieder seine Nase, indem er mit Daumen und Zeigefinger hineinkniff.
»Nach einiger Zeit gaben sie auf, und so ist das Alchimistische Portal nun seit einhundertvierzig Jahren unbehelligt und ungeöffnet geblieben. Doch jetzt, mit all den Aktivitäten der Untoten in dieser Gegend - in Zusammenhang mit dem Tod deiner Tante und der Möglichkeit, dass ihr Schlüssel in die falschen Hände gelangt ist -, müssen wir die Tür unbedingt genau im Auge behalten. Tatsächlich besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass ihr der Schlüssel irgendwie abgenommen wurde nach den Ereignissen des letzten Herbstes … und man ihn bereits benutzt hat.« Wayrens faltenfreies, altersloses Gesicht schimmerte wie ein bleicher, ernsthafter Mond. »Allein die Tatsache, dass die Untoten so an dem interessiert sind, was hinter der Tür versteckt ist, gibt uns schon Grund genug zur Sorge.«
»Ein Grund mehr, nach der Tür zu sehen, um festzustellen, ob einer der Schlüssel benutzt wurde«, murmelte Ilias.
»Ja. Ylito wird euch begleiten wollen«, ergänzte Wayren zu Victorias Überraschung. »Vielleicht gelingt es euch, herauszufinden, was sich so Wichtiges hinter dieser Tür verbirgt, oder zumindest, ob wirklich jemand versucht hat, in das Labor einzudringen.«

Später an diesem Nachmittag brachte Oliver, Victorias Fahrer und die Geißel ihrer Zofe Verbena, den kleinen Landauer vor der Villa Gardella zum Stehen. Als Victoria ausstieg, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass sie, seit sie am Morgen des Vortags zu der Porträtenthüllung im Konsilium aufgebrochen war, weder zu Hause gewesen war noch geschlafen hatte. Sie war müde bis auf die Knochen und gleichzeitig so energiegeladen wie schon seit Monaten nicht mehr. Ihre Gedanken flogen in eine Milliarde Richtungen davon, sodass sie das Gefühl hatte, kaum mit ihnen Schritt halten zu können. Und dann war sie von dem Transport kopfloser Leichen, den sie letzte Nacht mit Michalas durchgeführt hatte, noch immer schmutzig und au ßer Façon.
Aber sie hatte nun wieder eine Aufgabe, und zum ersten Mal seit Eustacias Tod fühlte sie sich in Höchstform.
Trotzdem wollte sie im Moment nichts mehr, als sich in die Stille ihres Zimmers zurückzuziehen und ein paar der Meditations- und Atemübungen zu praktizieren, die Kritanu sie gelehrt hatte. Morgen würde sie den geheimnisvollen Ylito kennen lernen und gemeinsam mit ihm la Porta Alchemica in Augenschein nehmen.
Sie erreichte die Haustür, als sie auch schon von Eustacias italienischem Butler geöffnet wurde, der etwas gehetzter wirkte als sonst.
»Grazie, Giorgio.« Victoria trat ein und ging unverzüglich auf die Treppe zu, während sie ihre Handschuhe auszog und die Haken ihres Capes öffnete. »Bitte läute nach Verbena, und bitte sie, zu mir nach oben zu kommen.«
»Si, Mylady«, erwiderte Giorgio. »Aber vielleicht möchten Sie sich zuvor einen Moment Zeit nehmen und sich in den Salon begeben?«
»In den Salon?« Victoria blieb widerwillig mit der Hand auf dem Treppenpfosten stehen - nur ein Stockwerk trennte sie von dem Paradies, nach dem sie sich sehnte. Sie schaute in Richtung Salontür und stellte fest, dass sie geschlossen war.
Doch noch bevor Giorgio etwas erwidern konnte, flog die Tür auch schon auf. »Victoria!«, erscholl eine vertraute, schrille Stimme. »Victoria, wir sind da!«
Victoria war unfähig, sich zu rühren. Ihre Finger erstarrten auf dem Treppenpfosten, während sie ihre Mutter, Lady Melisande Gardella Grantworth, angaffte, die in einer Wolke bauschiger Röcke, Rüschen und Spitze aus dem Salon geschwebt kam.
»Wir?«, ächzte sie, während sich jede Hoffnung auf einen ruhigen Abend in der friedlichen Stille ihres Hauses in Wohlgefallen auflöste. Kein Wunder, dass Giorgio so erschöpft gewirkt hatte.
»Aber ja! Wir sind alle gekommen - Nilly, Winnie und ich. Gerade noch rechtzeitig zur Karnevalswoche. Und natürlich zu deiner Unterstützung, mein armer Liebling. Es tut mir ja so leid, dass du das alles allein bewältigen musstest. Ach, wäre ich doch nur schon früher gekommen.« Lady Melly schloss ihre Tochter in eine mütterliche Umarmung, während diese weiterhin verzweifelt den Treppenpfosten umklammerte.
Dann kamen Mellys beide Busenfreundinnen hinter ihr ins Foyer gesegelt, um Victoria mit ausgestreckten Armen zu begrüßen, bevor sie anschließend mit ihren schrillen Stimmen dieses und jenes kommentierten: angefangen bei Victorias schlichter Frisur und ihren eingefallenen Wangen bis hin zum milden italienischen Klima, und wie warm es doch für Februar sei, wieso also ihre Hände so kalt wären und ihr Kleid - war das denn überhaupt ein Kleid? - so schmutzig und derangiert? Ach, du liebe Güte! War sie etwa verletzt worden? … und sie konnte nichts weiter tun, als sie zupfen und tätscheln und schnattern zu lassen, so wie sie es schon seit ihrer Kindheit getan hatten.
Mit einem erschöpften Blick über ihre Schulter wandte sie sich an Giorgio. »Bitte sagen Sie Verbena, dass es noch eine Weile dauern wird.«
Eine lange Weile.

Zwei Stunden später ließ Victoria sich auf den Stuhl vor ihrem Frisiertisch sinken. Zwei Stunden.
Sie hatte diese ganze lange Zeit über zuhören müssen, wie sich Nilly und Winnie über die Ringe unter ihren Augen, ihr hageres Gesicht (was Lady Nilly, die selbst alles andere als pausbackig war, allerdings gar nicht so schlimm fand) und die Blässe ihrer Haut ausließen. Ganz zu schweigen von der Tristesse ihrer einfachen Haartracht und der gar nicht modischen Kleidung.
Aber das war noch nicht alles. Es folgte nämlich so manch unverhohlener Hinweis darauf, dass Victoria nach London zurückkehren sollte, um sich dort einen neuen Ehemann zu angeln. Denn immerhin sei ihre gute Freundin Gwendolyn Starcasset inzwischen der Liebling der Gesellschaft, seit sie sich kürzlich mit einem Grafen verlobt habe, der mehr als fünfzigtausend im Jahr mache, und da wäre ihr Bruder George doch die perfekte Wahl für Victoria (die sich bei diesem Thema besonders heftig auf die Zunge beißen musste; als sie George Starcasset das letzte Mal gesehen hatte, war er bei Nedas, hier in Rom gewesen - als Mitglied der Tutela und überaus interessiert daran, sie zu vergewaltigen).
Dann waren da noch Mellys Klagen über Lord Jellington gewesen, der ihre Erwartungen, die sie an einen Verehrer stellte, wohl doch nicht ganz erfüllt hatte und somit zum Auslöser für ihre Reise nach Italien geworden war.
Anschließend folgten Kommentare zu italienischem Gebäck (zu trocken und krümelig), den Straßen Roms (eng, verwirrend und mit Touristen überfüllt) und der Schönheit des kleinen Brunnens, der vor der Villa stand.
Victoria musste die hässlichen roten Schwielen auf ihrer linken Hand - ihrer Tee einschenkenden und Pflock schwingenden - verstecken, während sie die gute Gastgeberin mimte, denn natürlich trug sie, anders als zu Hause in London, keine Handschuhe. Ebenso wenig wie ein angemessenes Kleid, ein Umstand, der ihre Mutter noch immer mit Entsetzen erfüllte.
Der ganze Abend hatte schließlich für Victoria in einem riesigen Problem gegipfelt, doch war sie nicht sicher, ob sie die Richtung weiter verfolgen wollte, in die ihre Gedanken sie führten. Sie legte den Kopf auf den Frisiertisch in ihrem Schlafzimmer.
»Jetzt kommen Sie schon, Mylady, hat doch keinen Sinn, sich von denen das Leben noch schwerer machen zu lassen, als es ohnehin schon ist. Sie haben Wichtigeres zu tun.«
Victoria hob den Kopf und blickte in den Spiegel. Das Einzige, was sie anfangs sah, war ein orangefarbenes Büschel zu beiden Seiten ihres eigenen, dunklen Schopfes, dann schaute Verbena, die gerade die Knöpfe von Victorias Tunika geöffnet hatte, auf. In ihrer Miene spiegelte sich Mitleid wider.
»Haben Sie dieses riesige Kruzifix gesehen, das die Herzogin trägt? Ich schwöre, dass sich noch nicht mal mein Vetter Barth so ein großes umhängen würde, und das, obwohl er selbst schon Vampire durch die Gegend kutschiert hat. Bitte nehmen Sie es mir nicht krumm, wenn ich das sage, aber das Kruzifix der Herzogin sieht größer aus als das vom Papst.«
Weiter munter vor sich hin plappernd, zog Verbena Victoria die Tunika über den Kopf, sodass ihre müde Herrin anschlie ßend mit nichts als ihrem Unterhemd und dem geschlitzten Rock am Leib dasaß.
Victoria seufzte. »Ich kann einfach nicht glauben, dass sie hier sind«, murmelte sie erschöpft. »Mutter ist einfach mit ihnen hierhergekommen, ohne mich vorzuwarnen, und ich habe keine Ahnung, wie ich jetzt nachts das Haus verlassen soll, ohne dass sie es mitbekommen.« In wenigen Stunden würde die Sonne untergehen und die Zeit für die Vampirjagd anbrechen, aber Melly erwartete, dass Victoria ihnen beim Dinner Gesellschaft leistete. Ganz bestimmt würde sie außerdem von ihr verlangen, dass sie sich ihnen nicht nur tagsüber, sondern auch abends bei diversen Vergnügungen anschloss.
Tatsächlich hatte der Mangel an Einladungskarten auf dem Tisch im Flur Lady Melly zu einem weiteren Monolog darüber verleitet, wie zurückgezogen Victoria seit Eustacias Tod lebe und wie schrecklich es doch sei, wenn man das gesellschaftliche Leben vernachlässige. Und wie froh sie war, nun hier zu sein, um die Dinge in Ordnung zu bringen.
Doch das war nur die kleinste von Victorias Sorgen.
Verbena löste Victorias Haar aus dem zwanglosen Knoten an ihrem Hinterkopf. »Aber Sie müssen jetzt, wo Ihre Mama hier ist, mehr auf Ihre Frisuren und Kleider achten. Sie wird nicht zulassen, dass Sie nicht auch wie eine Marquise aussehen, wo Sie den Titel doch nun endlich haben.« Sie klang sehr zufrieden über diese neue Entwicklung, was keine wirkliche Überraschung war. Verbena liebte nichts mehr, als ihre Kreativität an Victorias Frisuren und Garderobe auszutoben, während sie gleichzeitig immer neue Methoden entwickelte, um in beidem all die Gerätschaften unterzubringen, die ihre Herrin eventuell benötigen könnte.
Als Victoria kürzlich entschieden hatte, die von Kritanu sowohl für ihr Training als auch die anschließenden Ruhephasen favorisierte lange Tunika und den geschlitzten Rock zu tragen, war Verbena schier in Ohnmacht gefallen. Doch da Victoria die Villa Gardella meist nur verlassen hatte, um sich ins Konsilium zu begeben und anschließend die Straßen nach Vampiren zu durchkämmen, spielte es ihrer Meinung nach keine Rolle, was sie trug. Da sie in Rom nur wenige Leute kannte, gab es für sie so gut wie keine gesellschaftlichen Anlässe, die ihre Teilnahme erfordert hätten. Und, wenn sie ganz ehrlich war, wollte sie es auch genau so haben.
Ihre Tage der Bälle, Dinnerpartys und Hauskonzerte - die zum Glück auch - waren vorüber. Sie war ein Venator, und dafür lebte sie.
Aber all das würde sich nun, da Melly und ihre Entourage hier waren, schlagartig ändern.
»Mutter hat keinen Zweifel an ihrem Missfallen gelassen, was die Wahl meiner Kleider und Frisuren betrifft. Allerdings denkt sie, dass es mit meiner Trauer um Eustacia zusammenhängt.« Victoria schaute sehnsüchtig zu ihrem Bett. Mit viel Glück würde sie noch zwei Stunden Schlaf bekommen, falls sie ihre sorgenvollen Gedanken beiseiteschieben konnte. »Nur leider hat mir das Thema ein noch viel größeres Problem bewusst gemacht.« Sie sah in den Spiegel und blickte in die kristallblauen Augen ihrer Zofe.
»Ich hab keine Bedenken, dass Sie sich Ihre Mama und die beiden gackernden Hühner vom Leib halten werden. Allerdings hab ich gehört, wie sie gesagt hat, dass Sie nach London und in die Gesellschaft zurückkehren sollen. Sie will, dass Sie wieder heiraten und ihr ein paar kleine Häschen in Windeln schenken.«
Victoria schüttelte den Kopf. »Nein, nein, damit werde ich schon fertig, denke ich. Es gibt da ein viel größeres Dilemma.« Sie schloss für einen Moment die Augen. »Dieses silberne Armband, das meine Tante immer trug … ich muss es unbedingt finden. Sobald meine Mutter sich daran erinnert, wird sie es für sich haben wollen. Aber noch schlimmer ist, dass auch die Vampire bereits danach suchen, weil nämlich ein ganz spezieller Schlüssel darin versteckt ist.«
Wieder trafen sich ihre Blicke im Spiegel. Verbenas Augen weiteten sich in ihrem Puttengesicht, dann schürzte sie die Lippen.
»Das, Mylady, ist wirklich ein verdammt großes Problem.«
»Und zwar umso mehr, als meine Mutter glaubt, dass Eustacia im Schlaf gestorben sei. Natürlich geht sie davon aus, dass sich das Armband an ihrem Körper befunden haben muss und ich es einfach hätte abnehmen können.«
»Und wenn Ihr Tantchen es Kritanu hinterlassen hat?«
Victoria schüttelte den Kopf. »Nein, das hat sie nicht getan. Er gab mir all ihre persönlichen Sachen, und es war nicht darunter.«
Die apfelwangige Zofe schnalzte, die Mundwinkel mitleidig gesenkt, mit der Zunge. Dann hoben sie sich plötzlich. »Aber, Mylady, Sie vergessen, dass eine gewisse Person die Leiche anschließend noch gesehen hat. Das muss so sein, denn sonst hätte sie Ihnen die vis bulla Ihrer Tante nicht schicken können. Vielleicht -«
»Ich weiß.« Als Victoria nun aufstand, um ihr Bett anzusteuern, tat ihr mit einem Mal der Kopf weh. »Und genau das ist das Schlimmste an dem Ganzen.«
Denn nun würde sie nicht nur die Vampire daran hindern müssen, die Schlüssel zu finden und mit ihnen die Magische Tür zu öffnen. Es blieb ihr allem Anschein nach auch nichts anderes übrig, als irgendwie Kontakt zu Sebastian aufzunehmen und ihn um Hilfe zu bitten.
Anschließend würde er wie üblich von ihr erwarten, dass sie sich für besagte Hilfe erkenntlich zeigte.
Aber wenn sie ehrlich war, konnte sie sich Schlimmeres vorstellen. Viel Schlimmeres.

Victorias Treffen mit Ylito wurde auf einen regnerischen Vormittag zwei Tage nach der Ankunft ihrer Mutter und deren Freundinnen verschoben. Trotzdem war es reines Glück, dass es ihr tatsächlich gelang, unbemerkt aus der Villa zu schlüpfen. Melly hatte für diesen Tag eigentlich einen gemeinsamen Besuch des Kolosseums geplant, dann jedoch einen Migräneanfall bekommen. Victoria hatte rasch ein ähnliches Leiden ersonnen und sich in ihr Zimmer zurückgezogen, wo sie Verbena instruiert hatte, bis zum nächsten Morgen niemanden hereinzulassen.
»Heute ist der erste Tag, an dem sie mich nicht zu einem Einkaufsbummel, einer Stadtbesichtigung oder einem Teekränzchen nötigt«, stöhnte Victoria, während sie sich durch den Dienstbotentrakt zum Hinterausgang schlich. »Hoffentlich halten die Kopfschmerzen den ganzen Nachmittag über an, damit sie auch noch das Abendessen versäumt.«
»Na, na, Mylady, solche Sachen sollten Sie Ihrer Mutter aber lieber nicht wünschen«, warnte Verbena. »Sie kann ja auch nichts dafür, dass sie Sie gern in hübschen Kleidern sehen möchte, um Sie herzuzeigen.«
»Um mich zu verheiraten, meinst du wohl«, murmelte Victoria, um ihr schlechtes Gewissen zum Schweigen zu bringen. Mit der Hand an der Hintertür hielt sie inne. »Außerdem ist es schon recht erstaunlich, dass jemand wie sie, der so viel Wert auf Schicklichkeit legt, nicht auf Trauerkleidung besteht, obwohl Tante Eustacia gerade mal drei Monate tot ist.«
»Das mag sein, wie es ist, Mylady, aber so nah Sie beide sich auch gestanden haben mögen, am Ende war sie doch nur Ihre Großtante. Da wird keine lange Trauerzeit erwartet, nicht mal in London, aber Sie sind jetzt auch noch in Rom. Und wenn Lady Melly Trauer tragen würde, könnte sie diese Woche nicht zum Karneval gehen.« Verbena blickte auf, und Victoria sah das Mitgefühl in ihren Augen. »Sie sind immer noch so jung und hübsch, Mylady. Ihre Mama will doch nur, dass Sie glücklich sind. Sie will diese Traurigkeit aus Ihren Augen vertreiben.«
Glücklich. Victoria wusste nicht, ob das überhaupt möglich war.
Aber wenn schon nicht glücklich, dann vielleicht wenigstens zufrieden. Oder erleichtert, dass ihre Rolle für die Welt bedeutsamer war, als nur die unwichtigere Hälfte einer Ehegemeinschaft zu sein, ein Schoß, der einen Erben hervorzubringen hatte oder eine Anziehpuppe, mit der ihre Mutter angeben konnte.
Victoria hatte eine wichtigere Aufgabe, als die meisten Frauen oder Männer sich auch nur vorzustellen vermochten. Wenn es ihr nur gelang, zu derselben Zufriedenheit, derselben inneren Ruhe zu finden, wie ihre Tante sie als Illa Gardella besessen hatte, so wollte sie sich gar nicht mehr wünschen für ihr Leben.
Da ihre Mutter sie wieder aufgehalten hatte, verspätete Victoria sich bei ihrem Treffen mit Ylito an der Villa Palombara. Trotz der feuchten Kälte, die Anfang Februar herrschte, ließ Victoria Oliver einen weiten Umweg durch die Stadt fahren, um sicherzugehen, dass niemand ihnen von der Villa Gardella aus folgte. Nachdem er den Landauer vor der brüchigen Mauer angehalten hatte, die von einer alten Eiche durchwachsen und zerstört worden war, drehte er sich zu ihr um.
»Das hier soll der Treffpunkt sein?« Oliver sah Victoria fragend an. Nicht nur waren seine Fahrkünste besser als die seines Kollegen Barth zu Hause in London, seine Sorge um ihre Sicherheit schien ebenfalls größer zu sein. Im Gegensatz zu Verbenas Vetter scheute er durchaus davor zurück, eine Frau allein auf der Straße zurückzulassen, vor allem in einer Gegend, die man fraglos als gefährlich bezeichnen musste.
Aber natürlich hatte er, wiederum im Gegensatz zu Barth, auch nie beobachtet, wie Victoria gegen einen Vampir kämpfte.
»Ja, du kannst mich hier absetzen und nach Hause zurückfahren.«
Sie hatte nie zuvor einen Menschen mit solch dunkler Haut gesehen wie Ylito. Selbst Kritanus, dessen mahagonifarbener Teint und glattes, schwarzes Haar seine indische Abstammung verrieten, war heller als die des Hermetikers.
»Sie sind also die neue Illa Gardella.« Er betrachtete sie nachdenklich. Seine tiefe, geschmeidige Stimme überraschte Victoria, denn insgeheim hatte sie erwartet, dass sie ebenso exotisch klingen würde, wie er mit seiner dunklen Haut und den wirren, fingerlangen Locken, die nach allen Richtungen von seinem Kopf abstanden, aussah. Wayren hatte ihr erzählt, dass Ylitos Familie ursprünglich aus Ägypten stammte, sein Großvater das Land der Pyramiden jedoch vor fast einem Jahrhundert verlassen hatte, um in Rom bei den Venatoren zu studieren.
»Und Sie sind der geheimnisvolle Ylito«, erwiderte Victoria mit einer kleinen Verbeugung. »Es ist mir eine große Ehre, Sie kennen zu lernen, besonders, nachdem ich gehört habe, dass Sie das Konsilium nur selten verlassen.«
Ylito schien mindestens zwei Jahrzehnte älter zu sein als sie selbst mit ihren zweiundzwanzig Jahren. Er trug Stiefel, Hosen, Hemd und Mantel, so wie die meisten Männer, trotzdem verliehen ihm die dunkle Haut und das majestätische Auftreten eine ganz besondere Aura. Der Hermetiker vollführte nun seinerseits eine formvollendete Verbeugung. »Kommen Sie, lassen Sie uns diese seltsame Tür in Augenschein nehmen.«
Jetzt bei Tageslicht konnte Victoria die große Kluft in der Mauer richtig sehen. Ein niedriger Zweig der riesigen Eiche war irgendwann einmal hindurchgewachsen und hatte einen schmalen Spalt geschaffen, doch im Laufe der Zeit waren der Stamm und die Äste seinem Beispiel gefolgt und hatten die Mauer ganz geöffnet. Der Schatten des riesigen Baumes hatte, zusammen mit einem Gewirr kahler Weinranken, den Durchschlupf bei ihrem letzten Besuch verborgen.
Victoria drehte sich zur Seite, um über die feuchten Steine zu rutschen, dann kletterte sie mit Ylitos Hilfe hindurch. Ihr wurde unwillkürlich bewusst, dass es eine gute Entscheidung gewesen war, Zavier nicht mitzunehmen, denn er hätte seinen massigen Körper niemals durch die schmale Öffnung zwängen können. Sobald auch Ylito anschließend wieder mit beiden Füßen auf dem Boden stand, setzte sie sich in Bewegung, und er folgte ihr.
Der Untergrund war so nass und matschig, dass er Victorias Schuhe durchtränkte, und die noch eingerollten, sprießenden grünen Blätter würden die Sicht schon bald noch mehr blockieren.
Ylito blieb angewidert stehen, um sich den Schlamm von der Seite eines Stiefels zu wischen, dann folgte er Victoria weiter durch das kniehohe Gras in Richtung eines seltsam aussehenden, grauen Ziegelgebäudes. Dahinter ragte der aus den für Rom typischen, fahlgelben Steinen erbaute Hauptteil der Villa auf.
Während Victoria weiterstapfte, wandte sie ihre Gedanken von ihrem nassen, kalten Kleid ab und richtete sie auf etwas, das fast genauso unangenehm war: nämlich die Frage, wie sie Sebastian aufspüren sollte.
In London hatte sie früher die Möglichkeit gehabt, ihn in seiner Schänke, dem Silberkelch, zu kontaktieren, allerdings lag der inzwischen in Schutt und Asche. Das letzte Mal hatte sie Sebastian hier in Rom gesehen, als er wie üblich zu einem Zeitpunkt aufgetaucht war, der ihr gar nicht gepasst hatte. Abgesehen von einer Zeitungsannonce fiel ihr wenig ein, das sie tun konnte, um ihn ausfindig zu machen.
Doch dann kam ihr eine Idee. Sebastian hatte sie zwei jungen Frauen vorgestellt - den Zwillingen Portiera und Placidia. Wenn sie sich an sie wandte, würde sie möglicherweise in Erfahrung bringen, wie sie Sebastian kontaktieren konnte.
Ganz zu schweigen davon, dass ihre Mutter über die Wiederbelebung ihres gesellschaftlichen Interesses entzückt sein würde.
Victoria hatte die beiden Abende seit der Ankunft ihrer Gäste zu Hause verbracht, um mit ihnen Whist zu spielen, den neuesten Klatsch zu erfahren und auch ansonsten all jene Dinge zu tun, von denen sie geglaubt hatte, sie mit ihrer Heirat und dem Auszug aus dem Haus ihrer Mutter hinter sich gelassen zu haben. Natürlich war auch als Marquise von ihr erwartet worden, ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen nachzukommen, allerdings zu ihren eigenen Bedingungen.
»Da ist es.« Victoria zeigte auf die graue Steinmauer, während sie und Ylito durch dasselbe Tor gingen, das die Vampire zwei Nächte zuvor benutzt hatten. Ein Stück weiter rechts war der glatte, weiße Türstock zu sehen, der das massive Steinportal umgab.
»La Porta Alchemica«, verkündete Ylito und trat näher.
Victorias durchnässter Rock streifte gegen seine Hosenbeine, als sie sich ebenfalls auf die Tür zubewegte. Bei Tageslicht besehen, wirkte sie gar nicht mehr so breit. Eher durchschnittlich, außerdem war sie so niedrig, dass jemand von Max’ Statur sich hätte bücken müssen, um die Schwelle zu überschreiten.
Sie sah zu, wie Ylito mit seiner dunklen Hand über den wei- ßen Marmor strich, so als würde er mit den Fingerspitzen die eingravierten Zeichen entziffern. In den Türsturz war ein gro ßer Kreis mit zwei sich überlagernden Dreiecken gemeißelt, von denen eine Spitze nach unten und die andere von einem Kreuz gekrönt nach oben zeigte.
»Jupiter … Zinn … diameter sphaerae thau … circli … non orbis prosunt … Venus … Kupfer …«, murmelte Ylito, während er die rechte Seite des Türstocks abtastete.
»Was heißt das?«
»Es sind alchimistische Symbole - diese stehen für den Planeten Jupiter«, erklärte er und deutete dabei auf die Zeichen über der Tür, die wie ein Kreuz mit einem nach rechts ausgerichteten Pfeil aussahen. »Sie repräsentieren das Metall Zinn. Darunter befindet sich das Zeichen der Weiblichkeit, oder Venus, es ist der Kreis mit dem Kreuz darunter. Dann sind da noch Merkur und Mars«, fügte er, zur anderen Seite gestikulierend, hinzu.
»Was hat das alles zu bedeuten?«
Ylito lächelte sie an, und seine weißen Zähne blitzten auf. »Ich weiß es nicht, und offensichtlich erging es Palombara ebenso. Es wird erzählt, dass er die Aufzeichnungen eines Alchimisten fand, der auf der Suche nach einem mysteriösen Heilkraut nach Rom kam. Nachdem der Alchimist verschwunden war, studierte Palombara seine Notizen und ließ einen Teil der darin abgebildeten Symbole in die Tür einmeißeln. So heißt es zum Beispiel unter dem Jupiter-Symbol: ›Der Diameter der Kugel, das Tau im Kreis und das Kreuz des Globus sind für den Blinden von keinerlei Nutzen.‹ Was nichts anderes bedeutet, als dass man zwar über die notwendigen Instrumente verfügen mag, diese aber wertlos sind, solange man nicht weiß, wie man sie verwendet.«
Victoria, die wieder die seltsamen Symbole betrachtete, konnte nicht anders, als ihm zuzustimmen.
In den Stein des Portals war ein großer Kreis eingelassen, der die Tür zur Hälfte ausfüllte. Die Scheibe, welche bündig mit ihrer Umgebung abschloss, bestand aus einem andersfarbigen Stein, in den ein weiteres Dreieck geschnitten war. An jeder seiner drei Spitzen befand sich eine rechteckige Kerbe, die nicht breiter als zwei Finger und einen Daumen lang war. Victoria stellte fest, dass das Moos und die Erde von der Kerbe rechts unten weggekratzt worden waren, so als hätte kürzlich jemand etwas in das Loch gesteckt.
Sie schob die Finger hinein und untersuchte den Stein um die Öffnung, bei der es sich zweifellos um eines der Schlüssellöcher handeln musste, auch wenn es keinerlei Ähnlichkeit aufwies mit den Schlüssellöchern, die sie kannte. Was sie auf den Gedanken brachte, dass der Schlüssel vermutlich nicht ein langer, metallener mit einem Bart war; er musste irgendwie anders geformt sein. Mehr wie ein schmaler Streifen, der sich in die enge Öffnung würde schieben lassen. »Ylito, sehen Sie sich das hier an.«
Mit einem leisen Knacken seiner Knie ging er neben ihr in die Hocke und drückte die Finger seitlich in den Spalt. Sie verschwanden bis zu den Knöcheln, und seine dunklen Augen blitzten interessiert auf. »Der Schlüssel. Einer der Schlüssel wurde gefunden.« Er schaute sie mit einer plötzlichen Lebhaftigkeit im Blick an, die sie zuvor nicht an ihm wahrgenommen hatte. Offensichtlich war er über alle Maßen fasziniert. »Si, in diesem Spalt steckt einer der Schlüssel, und er kann nicht mehr entfernt werden, bis die Tür geöffnet wird. Er wurde an seinen Platz geschoben, und da wird er bleiben. Jeder Schlüssel passt in den für ihn bestimmten Schlitz, von wo aus er das Innere des Schlosses anhebt, sodass die Scheibe gedreht werden kann. Auf diese Weise kann die Tür anschließend zur Seite geschoben werden.«
Victoria nickte mit klopfendem Herzen. War der benutzte Schlüssel jener, der Augmentin Gardella übergeben und an Eustacia weitervererbt worden war? Wie hatten sie von ihm wissen können? Und waren die anderen ebenfalls gefunden worden?
Dann bemerkte sie oberhalb des Schlüssellochs, dort, wo das Moos entfernt worden war, eine kaum sichtbare Gravur.
Ylito sah sich die eingemeißelte Schrift genauer an, indem er seine flinken Hände darübergleiten ließ, so als könnte er sie auf diese Weise leichter lesen. »Es ist der Name des Schlüssels. ›Deus et homo‹, Gott und Mensch. Und sehen Sie dort: sein Symbol - ein großer Kreis mit Strahlen wie die der Sonne und ein kleinerer Kreis an seiner Unterseite. Dasselbe Zeichen wird auch in den Schlüssel eingraviert sein, damit der Benutzer weiß, in welches Loch er passt.«
»Und die beiden anderen?« Victoria kam näher heran und kratzte mit den Fingernägeln die feuchte Erde weg, um den linken, unteren Winkel des Dreiecks sehen zu können. »Haben sie ebenfalls Namen?«
»Sie werden alle in diesem Symbol über der Tür genannt.« Ylito lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den großen Kreis über dem Portal. »Sehen Sie, es benennt die Schlüssel - ›tri sunt mirabilia: Deus et homo, mater et virgo, trinus et unus‹, was übersetzt heißt: ›Es sind der Wunder drei: Gott und Mensch, Mutter und Jungfrau, der Eine und die Drei.‹ Die Wunder werden durch die drei Schlüssel repräsentiert, die Zugang zu diesem geheimen Labor gewähren.«
Victoria studierte die um den Kreis herum geschriebenen Worte, dann beugte sie sich wieder zu der linken Spitze des Dreiecks hinunter und schabte das Moos darüber weg. Sie konnte genug entziffern, um zu erkennen, dass es »mater et virgo« war, der Mutter-und-Jungfrau-Schlüssel. Sie ließ sich mit klopfendem Herzen auf die Absätze zurücksinken, ohne sich um das feuchte Gras zu kümmern, das ihre Oberschenkel und ihren Rumpf durchnässte. »Und das hier?«, fragte sie, während Erleichterung sie durchströmte und die Anspannung aus ihren Muskeln vertrieb.
»Das ist der Spalt für den mater-et-virgo-Schlüssel«, erklärte Ylito gelassen, während er die Symbole mit dem Finger nachzeichnete. »Eine schmale Mondsichel zur Linken - welche die Jungfrau symbolisiert -, die dann einen weiten Bogen macht, um den vollen, reifen Kreis der Mutter zu berühren.« Er sah auf. »Es sind zwei Teile eines früher sehr gebräuchlichen Symbols der drei Göttinnen: Jungfrau, Mutter und Greisin.«
»Eustacias Armband ist genau mit diesem Zeichen für Mutter und Jungfrau markiert. Sie haben ihren Schlüssel bisher nicht gefunden.«
Ylitos Gesicht wurde ausdruckslos. »Allerdings sehen wir vor uns den Beweis, dass jemand gerade im Moment danach sucht.«