Kapitel 10
In welchem unsere Heldin in
eine kompromittierende Lage gerät
Als Victoria langsam
wieder zu Bewusstsein kam, stellte sie fest, dass ihr der ganze
Körper wehtat.
Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, wie
Max unter dem Ansturm von Vampiren zu Boden gegangen war; dann
hatte man sie von hinten niedergeschlagen, und alles war schwarz
geworden.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon hier
lag - wo
auch immer das sein mochte. Sie konnte nichts sehen, alles war
rabenschwarz. Auch nachdem sie unzählige Male geblinzelt hatte, um
ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, konnte sie nicht mehr
erkennen als vage Schemen.
Sie konnte sich nicht bewegen. Man hatte ihr die
Hände auf den Rücken gefesselt, und als sie nun mit den
Fingerspitzen herumtastete, trafen sie auf etwas, das sich wie
schmutzige Steine oder Ziegel anfühlte. Der Boden unter ihr war von
derselben Beschaffenheit, was darauf schließen ließ, dass sie sich
in einem unterirdischen Raum befand. Möglicherweise in einem
Verlies.
Eine Vorstellung, die ihr gar nicht
gefiel.
Hinzu kam, dass ihr Nacken kalt war. Eiskalt, um
genau zu sein; er fühlte sich an, als würde ein frischer Wind über
ihn hinwegstreichen. Ihre Frisur hatte sich inzwischen aufgelöst,
sodass ihr das Haar offen über die Schultern fiel, doch bot es
trotzdem keinen Schutz vor der Kälte des Bösen. Ihr Kleid war
vollkommen zerknittert, und Victoria war sich ziemlich sicher, dass
zumindest ein paar der Rosetten und Volants von den Säumen gerissen
worden waren.
Doch war dies nur die kleinste ihrer Sorgen,
denn … Sie drosselte ihre rasenden Gedanken zu einem langsameren
Tempo, um sich besser konzentrieren zu können. Da sie ohnehin
nichts sehen konnte, schloss sie die Augen und lauschte.
Nein. Nein, sie hatte es sich nicht
eingebildet.
Eine düstere Vorahnung beschlich sie, und sie
erschauderte. Der Geruch war schwach, aber er war da: dieser
modrige, faulige, heimtückische Verwesungsgestank eines
Dämons.
Dämonen und Vampire? Hier zusammen?
Sie waren Todfeinde - zumindest wären sie das,
wenn eine der beiden Rassen sterblich wäre. Der Kampf zwischen
Vampiren und Dämonen um die Gunst Satans tobte schon, seit dieser
Judas zum allerersten Vampir gemacht hatte.
Dämonen waren gefallene Engel, und Luzifer war
der Mächtigste unter ihnen. Sie waren schon seit Anbeginn der Zeit
Diener des Todes und des Bösen. Doch nachdem Judas sich in der
Überzeugung, dass ihm der Verrat an Jesus niemals vergeben werden
würde, erhängt hatte, war er mitsamt seiner Seele von Luzifer auf
die Seite der Hölle gelockt und dazu benutzt worden, eine neue
Rasse zu erschaffen, die halb Mensch und halb Dämon war.
Da sie Satans eigene Kreation waren, glaubten
die Vampire, Vorrang vor den Dämonen zu haben; doch die Dämonen
hatten schon so viel länger existiert, dass sie ihre Rasse für die
stärkere hielten und Anspruch darauf erhoben, die Herrschaft über
die Hölle zu erben.
Deshalb wusste Victoria, wie selten es vorkam,
dass die beiden Gruppen gezielt aufeinandertrafen, geschweige denn
in irgendeiner Form kooperierten.
Dann fiel ihr ihre Mutter wieder ein, und ihre
düstere Vorahnung schraubte sich zu blanker Panik empor. Lady Melly
und ihre beiden Freundinnen konnten noch immer in der Villa und
damit in der Gewalt von Vampiren oder Dämonen sein. Vielleicht war
es Zavier nicht gelungen, sämtliche Untote unschädlich zu machen,
die sie und Max attackiert hatten. Ihre einzige Hoffnung bestand
darin, dass er die Präsenz der Vampire rechtzeitig gewittert und
die drei Damen - zusammen mit den anderen Gästen - in Sicherheit
gebracht hatte.
Oder … ein neuer Gedanke besänftigte ihre Angst
ein wenig. Falls Regalado es auf den Schlüssel abgesehen hatte,
wollte er ihre Mutter möglicherweise als Geisel oder Köder
benutzen. In diesem Fall würde man sie nicht verletzen.
Zumindest hoffte sie das.
»Max?«, rief sie leise. Sie glaubte, ein
schwaches Seufzen, vielleicht sogar ein Stöhnen gehört zu haben. Es
musste entweder Max oder irgendein anderer Sterblicher sein; und
beide Optionen waren besser als die Alternativen, die ihr sonst
noch durch den Kopf schossen.
Dann herrschte wieder Stille, und Victoria
schloss erneut die Augen, dieses Mal, um nach etwas zu lauschen,
das näher bei ihr war. Sie war sich sicher, dass sie etwas hörte,
die Gegenwart eines anderen Menschen spürte.
Eines stand fest: Falls Max wirklich hier war,
musste er schwer verletzt sein, denn er gab keinen Ton von sich.
Dieser erschreckende Gedanke weckte in ihr den Entschluss, zu
handeln.
Ihre Füße waren nicht gefesselt, deshalb
breitete sie hinter sich die Hände auf den Boden, um sich auf die
Knie zu stemmen. Während sie sich langsam aufrichtete, begannen
ihre Schläfen heftig zu pochen, und irgendetwas stimmte nicht mit
ihrem rechten Bein. Es war steif und tat schrecklich weh.
Sich an der Wand entlangtastend, um ihre
Orientierung zu behalten, machte Victoria sich daran, ihr Gefängnis
bis in den letzten Winkel zu überprüfen.
Dann hörte sie plötzlich Stimmen, und das eisige
Frösteln in ihrem Nacken verstärkte sich. Noch bevor sie sich
irgendeinen Plan zurechtlegen konnte, wurde auf der ihr
gegenüberliegenden
Seite die Tür geöffnet.Victoria ließ sich mit halb geschlossenen
Lidern gegen die Wand sinken und gab vor, noch immer bewusstlos zu
sein. Jeder noch so kurze Aufschub konnte ihr dabei helfen, eine
Entscheidung zu treffen oder Informationen zu sammeln, die ihr bei
der Flucht nützen würden.
Durch die Türöffnung fiel nun ein wenig Licht in
das Verlies. Ein Schatten blockierte den Durchgang, und der faulige
Verwesungsgeruch wurde etwas penetranter, aber nicht genug, um sie
in Alarmbereitschaft zu versetzen. Wo auch immer der Dämon sein
mochte, er stand jedenfalls nicht in der Tür.
Die Lider noch immer nur einen Spalt weit
geöffnet, sah Victoria, dass der Raum nicht größer als ein kleiner
Salon und praktisch leer war. Ein paar Meter entfernt kauerte ein
großer, zusammengekrümmter Schemen, der Victorias Sorge um Max von
neuem anstachelte; wenn sie sich weiter an der Wand entlanggetastet
hätte, wäre sie früher oder später auf ihn gestoßen. Es gab
keinerlei Möbel und nur die eine Tür.
All das hatte Victoria in einem einzigen
Augenblick erfasst. Nun konnte sie nichts weiter tun, als mit
angespannten Muskeln und bemüht gleichmäßiger Atmung
abzuwarten.
Dann kam plötzlich etwas Großes, Schwerfälliges
in den Raum getorkelt. Es landete in einem entwürdigenden Haufen
mitten in dem Verlies auf dem Boden, wo es von der kleinen Laterne,
die draußen im Gang hing, nur schwach beleuchtet wurde.
»Nur keine Sorge«, ertönte eine Stimme aus
Richtung der Tür. Sie klang vertraut, doch Victoria konnte nicht
genug sehen, um den Sprecher zu identifizieren. »Du musst nicht
lange hier bleiben. Akvan wird bald bereit für dich sein.«
Akvan? Grundgütiger! War das etwa der Dämon, den
sie witterte?
Noch bevor Victoria reagieren konnte, fiel die
Tür auch schon ins Schloss. Sie hörte das dumpfe Knarren, als ein
schwerer Riegel vorgeschoben wurde.
»Autsch«, brummte der Haufen auf dem Boden.
»Hätte es nicht gereicht, mich zu verprügeln? Mussten die mich auch
noch hier reinwerfen, als wäre ich ein Hufeisen?«
Victoria klappte der Mund auf; zum Glück war es
zu dunkel, als dass er ihr fassungsloses, ungläubiges Gesicht hätte
sehen können. »Sebastian? Bist du das?«
»Höchstpersönlich. Oder wenigstens das, was noch
von mir übrig ist.«
»Wie um alles in der Welt bist du hierher
gelangt?«
»Warum überrascht es dich so, mich zu sehen;
oder besser gesagt, zu hören? Man hat mir zu verstehen gegeben,
dass du nach mir suchst. Oder war das - schweig still, mein
klopfend Herz - am Ende nichts weiter als ein Gerücht?«
»Nun ja, ich hatte zwar gehofft, dich in einer
etwas … weniger ungewöhnlichen Lage zu treffen, aber es stimmt,
dass ich nach dir gesucht habe. Ich muss dir nämlich eine Frage
stellen.« Sie rutschte so schnell sie konnte auf dem Hinterteil zu
der Stelle, an der sie ihn hatte zu Boden fallen sehen. Es
herrschte nun zwar wieder völlige Finsternis, doch der kurze
Moment, in dem Licht in ihr Verlies gefallen war, hatte ihr bei der
Orientierung geholfen. Zumindest wusste sie jetzt, wo die Tür lag
und wie groß der Raum war. Und falls es sich bei dem leblosen
Bündel wirklich um Max handeln sollte, könnte sie mehr für ihn tun,
wenn ihre Hände von den Fesseln
befreit wären. »Hat er tatsächlich gesagt, dass Akvan bald bereit für dich ist?«
»Ja, er - Au!«, fluchte er, als sie mit dem
Schuh hart gegen etwas Weiches stieß. »Ich weiß deine Freude, mich
wiederzusehen, ja durchaus zu schätzen, Victoria, aber könntest du
vielleicht etwas vorsichtiger sein? Das war mein … ähm -«
»Entschuldigung.« Victoria spürte, wie ihr die
Röte ins Gesicht stieg. »Würdest du mich losbinden? Dann können wir
uns einen Fluchtplan überlegen.«
»Obwohl ich es mehr als reizvoll finde, dich
gefesselt und wehrlos zu wissen, würde ich dich mit Vergnügen
befreien … wenn ich nur könnte. Mir geht es nämlich auch nicht
besser als dir. Vermutlich sogar schlechter, denn im Gegensatz zu
dir hat man mir auch noch die Füße gefesselt. Weshalb ich es auch
als wirklich beleidigend empfinde, dass sie mich einfach wie einen
Sack Mehl hier hereingeworfen haben.«
So ein Mist. Victoria
hatte, während sie über den Boden gerutscht war, feststellen
müssen, dass das Messer an ihrem Oberschenkel nicht mehr da war.
Und jetzt konnte sie nur hoffen, dass es Sara Regalado gewesen war,
die es ihr abgenommen hatte, und nicht George Starcasset. Oder
irgendjemand sonst. »Setz dich auf, dann können wir uns Rücken an
Rücken gegenseitig befreien«, schlug sie vor.
Unter ausgiebigem Keuchen und Ächzen rappelte
Sebastian sich in eine sitzende Position hoch, dann lehnte er sich
schwer gegen Victoria, die mit angezogenen Knien die Füße gegen den
Boden stemmte, um sich abzustützen. Er fühlte sich warm und solide
an und verströmte diesen vertrauten Nelkengeruch, in den sich ein
Hauch von Schweiß und ein schwaches, rostiges
Aroma mischten. Ihre Schultern berührten sich, und sein Hemd
strich über ihre nackten Schulterblätter. Es war feucht.
»Ich dachte, Akvan sei tot«, sagte sie, sobald
er sicher gegen sie lehnte. Sie fasste hinter sich, spürte seine
Arme, und schließlich berührten sich ihre Finger. Seine fühlten
sich glitschig an, als er in einer aufreizenden Liebkosung ihre
Handfläche streichelte.
Überrascht von der Erotik dieser unerwarteten,
schlichten Berührung, hielt Victoria den Atem an, als das leise
Kribbeln von ihrer Hand ihren Arm hinaufwanderte und sie - trotz
des dunklen, klammen Kerkers - eine warme, sinnliche Empfindung
überkam.
Dann wurden die Bewegungen seiner Finger -
wieder bemerkte sie, dass sie nass zu sein schienen -
zielgerichteter, als er nach den Knoten des Seils tastete. Sie
schnüffelte und roch Blut. »Ist das Blut an deinen Händen? Und an
deinem Hemd?«
»Na ja«, meinte Sebastian leichthin, auch wenn
seine Stimme etwas angespannter klang als sonst. »Die Vampire waren
etwas übereifrig in ihrem Bemühen, mich davon abzuhalten - äh, ihr
Versteck zu finden, und ich wurde dabei ein wenig blutig. Ich werde
versuchen, dein Kleid nicht zu beschmutzen, allerdings könnte sich
das durch unsere Sitzposition ein bisschen schwierig
gestalten.«
»Sie haben dich nicht gebissen.« Es war nicht
als Frage gemeint.
»Nein, das hätten sie nicht gewagt. Wie du sehr
wohl weißt, bin ich immerhin Beauregards Enkel - ein Umstand, der
mich zwar nicht davor bewahrte, in dieses unerfreuliche Verlies
geworfen zu werden, aber zumindest hielt es sie davon ab, mir die
Kehle rauszureißen. Zumindest für den Moment. Und Akvan war
tatsächlich tot, oder zumindest in der Hölle, bis Pesaro den
Obelisken zerstörte. Als er letzten Herbst zerbarst, wurde Akvan,
falls ich es richtig verstanden habe, in geschwächter Form zurück
auf die Erde gerufen - nach Rom, um genauer zu sein. Er hat die
letzten vier Monate damit verbracht, seine ehemalige Stärke
zurückzuerlangen.«
»Also ist er tatsächlich hier? Und wie bist du
in die Villa gekommen? Hör mal auf, Sebastian, und lass mich lieber
versuchen, ob ich deine Knoten lösen kann«, sagte sie schließlich.
»Du hast bisher kaum mehr getan, als mich in mein … nun ja, mich in
ein Körperteil zu kneifen, in das du mich nicht kneifen solltest.
Außerdem bist du verletzt.«
»Und so gelingt es dem Helden nicht, das
Fräulein in Bedrängnis zu retten.« Sebastian seufzte theatralisch,
doch er nahm die Finger weg, und Victoria glaubte sogar, einen
Anflug von Erleichterung in seiner Stimme gehört zu haben.
»Na ja, das ist schließlich nicht das erste Mal,
und ich bin mir fast sicher, dass es auch nicht das letzte Mal
gewesen sein wird.« Victoria fasste wieder nach hinten, um die
Knoten an seinen Handgelenken zu ertasten. Seine Haut war warm und
klebrig, als sie mit den Fingerspitzen den Haarflaum unter seinen
Manschetten berührte.
»Natürlich nicht; schließlich bist du ein
Venator«, entgegnete Sebastian kühl. »Ich bin nur deswegen hier,
weil ich während der letzten Tage im Auftrag meines Großvaters das
Alchimistische Portal bewachen musste. Er ist überzeugt davon, dass
irgendjemand bald versuchen wird, es zu öffnen - und wie es
scheint, handelt es sich bei diesem Jemand um Akvan und seine
teuflischen Anhänger. Ich sah Pesaro früher am Abend dort
herumschleichen, und als ich erfuhr, dass mehrere … nennen wir sie
mal Zivilisten in die Villa eingeladen waren, dachte ich, es wäre
vielleicht besser, ein paar Nachforschungen anzustellen. Ich hatte
nicht erwartet, dich hier ebenfalls anzutreffen.«
Victoria hielt das Seil mittlerweile zwischen
den Fingern und versuchte nun, es zu lockern, aber die Knoten saßen
sehr fest, außerdem wurde sie durch ihre ungelenke Haltung
behindert. »Wolltest du wirklich Nachforschungen anstellen, oder
bestand dein eigentliches Ziel darin, Max anzugreifen?«
»Warum sollte ich ihn angreifen wollen?«, fragte
Sebastian empört. »Vergiss nicht, dass er mir sein Leben
verdankt.«
»Tatsächlich? Irgendwie kann ich mir das nicht
wirklich vorstellen.« Sie bekam die Knoten einfach nicht richtig zu
fassen; ihre Finger waren vor Kälte wie erstarrt und ihre
Handgelenke wund von ihren Versuchen, in vornüber gebeugter Haltung
das dicke, unhandliche Seil aufzuknüpfen.
Dann erinnerte Victoria sich plötzlich wieder an
das Korsett, das Miro auf Verbenas Vorschlag hin speziell für sie
entworfen hatte. Wie hatte sie das nur vergessen können? Zuerst
hatte ihre Zofe zusammen mit Oliver versucht, selbst etwas
Ähnliches anzufertigen, doch ohne die Kunstfertigkeit des
Waffenmeisters hatte sich das Ganze zu einer ziemlichen Katastrophe
entwickelt. Messer und Pflöcke hatten in allen möglichen Winkeln
aus ihm herausgeragt, und als Victoria es trotzdem anprobiert
hatte, war eine Klinge aus ihrer Halterung gerutscht und hatte
durch ihr dünnes Unterhemd in ihre Haut geschnitten. Also hatte
Miro die Idee aufgegriffen und ebenjenes Korsett kreiert, das sie
jetzt trug.
Das Problem war nur: Sie würde Hilfe brauchen,
um es zu erreichen.
»Max war nicht sonderlich erfreut«, fuhr
Sebastian gerade fort. »Ich glaube, er hat letzten Herbst, in jener
Nacht, als der Obelisk zerstört wurde, sogar gedroht, mich zu
verfluchen, weil ich den Vampir pfählte, der ihn zerreißen
wollte.«
»Du?« Victoria konnte ein Kichern nicht
unterdrücken, doch es klang nervös - was nicht zuletzt daran lag,
dass sie ihn gleich um etwas wirklich Peinliches würde bitten
müssen. »Du pfählst keine Vampire, Sebastian. Selbst wenn du es
könntest, würdest du es nicht tun. Jetzt weiß ich, dass du lügst.«
Es war die Wahrheit. Sebastian liebte seinen Großvater Beauregard,
und aufgrund ihrer Beziehung sowie des Wissens, dass jeder Vampir
einst ein sterblicher Mensch mit Angehörigen gewesen war, der
geliebt hatte und wiedergeliebt wurde, weigerte Sebastian sich,
einen Untoten zu pfählen und ihn damit ins Fegefeuer zu
schicken.
Ich kann nicht jemandes
Vater oder Schwester zu ewiger Verdammnis verurteilen, hatte er
ihr einmal erklärt. Das ist eine Verantwortung,
die ich nicht auf mich nehmen werde.
»Lass uns jetzt mit diesem Unsinn aufhören«,
sagte sie. »Ich will endlich diese Fesseln loswerden, außerdem
glaube ich, dass das dort drüben auf dem Boden Max sein könnte.
Aber er hat sich, seit ich aufgewacht bin, weder gerührt noch
irgendeinen Laut von sich gegeben. Und ich bin sicher, er hätte
eine scharfe Entgegnung für dich und deine melodramatische
Behauptung in petto gehabt, wenn er bei Bewusstsein wäre.«
»Schade. Dann scheint mein Opfer letzten Herbst
vergeblich gewesen zu sein.«
»Ich habe ein Messer«, informierte sie ihn, ohne
weiter auf seinen Kommentar einzugehen. »Du wirst mir allerdings
helfen müssen dranzukommen.«
Sebastian lachte. »Ganz bestimmt haben sie dir,
genau wie mir, sämtliche Waffen abgenommen, Victoria. Ich habe
nichts mehr außer meinen Stiefeln und meiner Kleidung.«
»Falls ich das Zwicken an meiner Haut richtig
deute, trage ich noch immer mein Korsett«, fauchte sie. »Und in ihm
ist das Messer versteckt.«
Sie fühlte, wie er ganz still wurde, bevor er
nach einem Moment verwunderten Schweigens leise lachte. »Mein Gott,
Victoria, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Du bittest mich,
dir aus dem Korsett zu helfen? Hier und jetzt?«
Sie musste selbst grinsen, als sie die Mischung
aus Fassungslosigkeit und purer Lust in seiner Stimme hörte. Obwohl
es weder der richtige Ort noch der rechte Zeitpunkt war, sandte ihr
der Gedanke - die Erinnerung an seine Hände, die über ihre Haut,
ihre Brüste und Hüften streichelten - einen kleinen Schauder über
die Arme, der sich eine Sekunde später zu einem wohligen,
erregenden Bauchkribbeln intensivierte. Dann wurde ihr Mund
trocken, als ihr bewusst wurde, wie absurd diese Überlegungen waren
angesichts der Gefahr, in der sie schwebten. In der ihre Mutter
schwebte.
Die plötzliche Erinnerung an Lady Mellys
mögliches Verhängnis verlieh Victorias Stimme einen scharfen
Unterton. »Nein, ich will es nicht ausziehen. Aber eines der
Fischbeinstäbchen vorne links wurde durch ein schmales Stilett
ersetzt. Du musst mir dabei helfen, es herauszuziehen und zu
benutzen. Meinst du, du schaffst das?«
»Ich werde natürlich mein Bestes geben«,
versprach er galant. »Äh … soll ich es von oben versuchen oder von
unten?«
Seine Worte waren so genüsslich, dass Victoria
alle Selbstbeherrschung zusammennehmen musste, um ihm nicht über
den Mund zu fahren, vor allem, da ihr nichts anderes übrig blieb,
als zu antworten: »Von unten.« Sie ärgerte sich darüber, wie nervös
ihre Stimme klang.
Doch zu ihrer Überraschung verzichtete Sebastian
auf eine Erwiderung. Stattdessen positionierte er sich so, dass er
mit ihr zugekehrtem Rücken vor ihr saß, wobei er die Innenseite
ihres linken Oberschenkels berührte. Während er mit seinen
gefesselten Händen ungeschickt herumzutasten begann, um ihren
Rockbund zu finden und sie zwischen ihn und ihr Unterhemd zu
schieben, schickte Victoria ein kurzes Dankgebet gen Himmel, dass
es nicht Max gewesen war, den sie um Hilfe hatte bitten müssen. Die
Vorstellung, wie seine starken, langgliedrigen Finger unter ihr
Kleid glitten, verursachte ihr ein unangenehmes
Bauchflattern.
Sie verdrängte diesen Gedanken kurzerhand und
wurde zusätzlich von Sebastians Fingern abgelenkt, als er sanft mit
den Knöcheln über ihre Schenkel streichelte, die inzwischen nur
noch durch das hauchzarte Gewebe ihres Unterhemds voneinander
getrennt wurden. Tatsächlich war die Baumwolle so dünn, als wäre
sie gar nicht vorhanden. Ihre Atmung wurde ein wenig abgehackt,
deshalb versuchte Victoria, sie zu beruhigen und zu verlangsamen.
Sie wollte nicht über das Kribbeln nachdenken, das sie zwischen den
Beinen verspürte, als ihre empfindsame Haut von der schwereren
Seide ihres Kleides befreit und dann von einem seiner Finger
liebkost wurde.
»Ich hoffe, du erlöst mich aus meinem Elend,
indem du mir sagst, dass dieser Zahnstocher von einer Frau nicht
deine Mutter war«, murmelte Sebastian, während seine Hand über die
Kuhle hinwegstrich, wo ihr Oberschenkel und ihre Hüfte
aufeinandertrafen.
»Dürre Frau? Wovon sprichst du?« Victorias
Stimme klang ein wenig heiser, aber vielleicht würde er es ja nicht
bemerken. Falls seine eigene, gleichmäßige Atmung irgendeinen
Hinweis lieferte, war er ganz auf das konzentriert, was er gerade
tat.
»Sie waren zu dritt - eine hagere Dame, eine
laute, große, dralle und dann noch diese herrische, elegant
gekleidete. Ich hatte ehrlich gesagt gehofft«, fuhr er fort, als
seine Finger nun endlich den unteren Rand ihres Korsetts fanden und
nach der Klinge zu suchen begannen, »dass keine von ihnen deine
Mutter ist. Aber da sie über dich sprachen, als würden sie dich gut
kennen, ahnte ich schon, dass meine Hoffnung vergeblich ist.«
»Du hast sie gesehen? Wenn sie deinetwegen
ebenfalls gefangen genommen wurden, dann werde ich dir das niemals
verzeihen!« Sie wollte sich lieber auf ihren Ärger konzentrieren
als auf seine Finger, die sich nun an den Fischbeinstäbchen zu
schaffen machten. »Es muss dort irgendwo sein. Sein kurzer Griff
ragt unten aus dem Korsett heraus. Nur ein Stück nach … ja, da ist
es! Ich wünschte wirklich, du würdest dich beeilen.«
»Ach, du misstrauisches Mädchen«, ging er nun
verspätet auf ihren Vorwurf ein. »Tatsächlich habe ich die klapperdürre Frau davor bewahrt, das
Abendmahl eines Untoten zu werden. Und ich war es, der diesen Mann,
der sie eigentlich hätte beschützen sollen - Zavier, war das sein
Name? - zu ihnen geführt hat, sodass er sie aus der Villa lotsen
konnte.«
»Also sind sie in Sicherheit?« Victoria stieß
einen tiefen Seufzer aus, der nichts mit dem sanften Kitzeln seiner
Knöchel zu tun hatte, als er begann, das Stilett aus seinem
speziellen Futteral in dem Korsett zu ziehen. »Ach, das hatte ich
ja ganz vergessen, Sebastian. Da ist eine kleine Schlaufe, die
verhindert, dass die Klinge herausrutschen und mein Kleid
beschädigen kann. Du musst die Verschnürung lösen, anschließend
kannst du - Oh! Hör auf damit!«
Sebastian lachte auf seine typische Weise -
leise und mit unterschwelliger Wärme. »Früher hast du es gemocht,
ma chère.«
»Das war, als ich dir noch vertraute.« Sie
fühlte, wie seine Finger, anstatt zu Stellen zu wandern, an denen
sie nichts zu suchen hatten, wieder an dem Korsett zerrten.
»Tatsächlich glaube ich noch nicht einmal, dass ich dir je vertraut
habe, also auch nicht, bevor du mich betäubt und entführt hast. Und
was soll das überhaupt heißen, dass du gehofft hättest, Lady
Petronilla - die schlanke Dame - wäre nicht meine Mutter?«
Sebastian stieß einen erleichterten Seufzer aus,
als das Stilett endlich aus seiner Verankerung glitt und er es
herausziehen konnte.
»Pass auf, dass du mich nicht schneidest«, wies
Victoria ihn an, froh darüber, dass das Ganze überstanden war und
sie ihren Rock unter Zuhilfenahme ihrer Beine wieder nach unten
schieben konnte. »Ich drehe mich jetzt um, damit du meine Fesseln
durchtrennen kannst - oder nein, wenn ich es mir recht überlege,
ist es wohl besser, wenn ich mir zuerst deine vornehme.«
»Eine hervorragende Idee. Zumindest wird sich,
falls du mich schneidest, das Blut nur mit dem mischen, das ohnehin
schon vorhanden ist. Und, um deine Frage zu beantworten«, sagte
er, während sie sich langsam um ihn herummanövrierte, bis sie
wieder Rücken an Rücken waren, und sie sich dann auf die Knie
abrollte, sodass ihre Hände ein Stück höher kamen, »hatte ich
deshalb gehofft, dass du nicht ausgerechnet von diesem
vertrockneten Besen abstammst, da es - zumindest beim männlichen
Teil der Bevölkerung - hinlänglich bekannt ist, dass eine Frau in
zunehmendem Alter ihrer Mutter immer ähnlicher wird.«
Victoria hatte unterdessen das Messer in
Position gebracht und begonnen, ebenso behutsam wie ungelenk das
Seil zu durchtrennen. »Und was bitte stimmt nicht mit Lady
Petronillas Aussehen?« Sie konnte ein leises Ächzen in ihrer Stimme
nicht unterdrücken, als ihr der von ihren Bewegungen hervorgerufene
Schmerz die Arme hinaufschoss. Ihr verletztes Bein tat höllisch weh
unter dem Gewicht ihres Körpers, während sie auf den kalten Steinen
kniete und so schnell arbeitete, wie sie konnte.
»Sie ist flach wie ein Brett. Wenn nicht gar
flacher.«
»Flach wie ein - oh.« Victoria biss sich auf die
Lippe und verdrehte im Dunkeln die Augen.
»Ah, endlich. Ich kann meine Finger wieder
spüren«, frohlockte Sebastian und kitzelte mit besagten Gliedmaßen
Victorias.
»Sei vorsichtig«, warnte sie ihn, »denn sonst
schneide ich sie dir noch ab, und dann spürst du sie überhaupt
nicht mehr. Diese Klinge ist höllisch scharf.«
»Das stimmt, weil ich nämlich schon frei
bin.«
Sie fühlte den Ruck, als er seine Handgelenke
auseinanderzog
und das Seil von ihnen abfiel. Mit einem Stoßseufzer der
Erleichterung nahm er ihr das Messer aus den schmerzenden
Händen.Victoria hörte, wie er die Arme gegeneinanderrieb, so als
versuchte er, das Blut wieder zum Fließen zu bringen. Sie konnte
kaum erwarten, dasselbe zu tun, sobald er ihre Fesseln erst
durchtrennt hätte.
»Was tust du gerade?«, fragte sie
ungeduldig.
»Ich befreie meine Knöchel. Dir ist doch
bestimmt bewusst, mein bezaubernder Venator«, sagte er mit einem
plötzlichen, leisen Lachen, »dass ich frei bin, während du noch
immer gefesselt bist? Und dass ich gerade die seltene Gelegenheit
genieße, dir gegenüber im Vorteil zu sein?«
Ihr zog sich plötzlich alles zusammen, und ein
leichtes Unwohlsein überkam sie. Aber vielleicht war es ja auch
etwas ganz anderes. »Sebastian«, sagte sie mit einem warnenden
Unterton, als ihr mit einem Mal wieder etwas einfiel. »Ich muss
dich wegen meiner Tante etwas fragen.«
»… und dass du meiner Gnade ausgeliefert bist?«
Seine Stimme war zu einem weichen Schnurren verebbt, und plötzlich
glitt er mit solcher Geschmeidigkeit neben sie, dass kein Zweifel
daran bestand, dass er inzwischen auch seine Füße befreit
hatte.
»Sebastian, als du ihre vis
bulla an dich genommen hast -«
Seine Hände fanden mühelos ihr Gesicht - wie er
das in der Finsternis bewerkstelligte, wusste Victoria nicht -,
doch als er seine eleganten und noch immer klebrigen Finger um ihr
Kinn und ihr Genick legte, konnte sie nichts weiter tun, als zu
versuchen, sich ihm zu entziehen, während sie gleichzeitig vergaß,
was sie ihn eigentlich hatte fragen wollen.
Sie war kaum fähig, die Balance halten, hatte
nichts außer ihren schmerzenden Handgelenken und den eiskalten
Fingern, um sich darauf abzustützen. Als Sebastian noch näher kam
und mit ihm dieser vertraute Nelkenduft, der ihm stets anhaftete,
begann ihr Herz wie wild zu schlagen, und sie erkannte, dass sie
nirgendwohin ausweichen konnte als auf den Boden. Und gerade dort
wollte sie auf gar keinen Fall landen.
Er verfehlte ihren Mund beim ersten Mal, sodass
seine Lippen nur seine eigenen Finger an ihrer Wange berührten.
Doch er korrigierte den Fehler sofort, indem er sie auf die Knie
und an sich zog, sodass sich ihre Oberkörper aneinanderschmiegten,
als er sie küsste.