Kapitel 15
In welchem sich unsere Heldin recht provozierend gibt
Als es Zeit wurde zu gehen, beschlich Victoria sogar ein
Gefühl der Erleichterung, dass Sebastian nicht mehr im Konsilium war.
Es gab so viel Ungeklärtes zwischen ihnen, so viele Dinge, die sie sagen und wissen wollte … doch solange sie sich nicht darüber im Klaren war, was sie wegen alldem empfand, das sie in den letzten Stunden erfahren hatte, wollte sie ihm nicht gegenübertreten. Ihr Körper kribbelte und summte noch immer von der Ekstase ihres Liebesspiels - falls man es denn so nennen durfte.
Mit diesem Gedanken wagte sie sich auf einen gefährlichen Pfad. War es denn Liebe, die sie an Sebastian band? Die sie dazu verleitete, sich ihm hinzugeben, und diese intime Erfahrung mit ihm zu teilen?
Wie konnte das sein, wenn sie ihm doch nicht vertraute? Aber obwohl sie ihm vielleicht nicht vollkommen traute, und trotz seiner Neigung, immer den leichtesten Weg zu wählen und Gefahren zu meiden, fühlte sie sich in seiner Gegenwart dennoch entspannt, ja, oft sogar glücklich.
Mit Phillip war es so viel einfacher gewesen. Er war attraktiv, charmant, vermögend und zuverlässig gewesen. Ganz offenkundig hatte er sie geliebt, sie beinahe schon angebetet. Er hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht, und damals hatte sie törichterweise geglaubt, ihn annehmen zu dürfen. Sie hatte geglaubt, alles haben zu können, beide Seiten ihres Lebens intakt und strikt getrennt halten zu können.
Sie hatte sich in Phillip verliebt. Ihn geheiratet.
Und ihn zerstört.
Victoria blinzelte ihre Tränen weg. Dies war kein guter Zeitpunkt für Selbstvorwürfe; Gott wusste, dass sie sich die schon oft genug gemacht hatte. Das Einzige, was sie jetzt noch tun konnte, war, mit ihrem Leben fortzufahren. Und nicht wieder dieselben Fehler zu begehen.
Deshalb wäre, sollte sie jemals wieder eine feste Beziehung mit einem Mann eingehen, jemand wie Sebastian - der ihre Welt kannte, sie verstand und akzeptierte - eine adäquate Wahl. Vielleicht würde sie sogar eines Tages aufhören, die Arznei zu nehmen, die verhinderte, dass sie schwanger wurde, und ein Kind bekommen. Soweit sie wusste, gab es keinen anderen Gardella, der ihre Linie hätte fortsetzen können. Aber im Moment konnte sie sich trotzdem nicht vorstellen, wie sie das bewerkstelligen sollte.
All diese Gedanken schwirrten ihr im Kopf herum, während sie den Hauptsaal des Konsiliums verließ. Es war inzwischen später Nachmittag geworden. Sie hatte ein paar Stunden geschlafen, nachdem Sebastian gegangen war, und sich anschlie ßend mit Wayren und Ilias getroffen. Die anderen waren nach Hause gegangen, um sich ebenfalls ein wenig auszuruhen, bevor sie später in der Nacht wieder zusammenkommen würden.
Sie ging an Wayren vorbei, die in ihrer Bibliothek saß und sie gar nicht zu bemerken schien, so sehr war sie in die Lektüre irgendeines alten Manuskripts vertieft, und dann weiter zu dem Lagerraum. Es gab noch eine letzte Sache, um die Victoria sich im Konsilium kümmern musste, obwohl alle anderen dachten, dass auch sie schon nach Hause gegangen sei. Sie hatten vereinbart, sich vor Einbruch der Dämmerung zu treffen, um das Alchimistische Portal zu öffnen - Victoria, Zavier, der sie noch immer kaum eines Blickes würdigte, Michalas, Brim und vielleicht noch Max, den sie seit dem Morgen vor der Villa Palombara nicht mehr gesehen hatte. Doch Wayren hatte erklärt, dass er sie begleiten würde.
Victoria hatte das silberne Armband ihrer Tante bereits an sich genommen. Es war genau dort gewesen, wo Sebastian es seiner Aussage nach versteckt hatte: hinter dem Porträt Catherine Gardellas mit ihrem protzigen Smaragdring. Sie hatte wirklich ein Faible für Schmuck gehabt.
Der Gedanke zauberte ein schwaches Lächeln auf Victorias Lippen, deshalb spann sie ihn noch ein wenig weiter: Die Frau war genauso üppig mit Juwelen behängt wie ihre Lehnsherrin, die alte Königin Bess. Wie sie in ihrem schweren Kleid mit der Halskrause allerdings gegen Vampire hatte kämpfen können, war ihr ein Rätsel.
Sie hatte sich das massive Armband anschließend an den Oberarm geschoben, und als sie nun die Tür des Lagerraums hinter sich zuzog, merkte sie, wie sich das kalte Metall allmählich ihrer Körperwärme anpasste. Der Schlüssel war sicher darin versteckt, deshalb blieb ihr nun nichts weiter zu tun, als die beiden Stücke von Akvans Obelisken zu holen und sie aus dem Konsilium zu bringen.
Als sie den pflockförmigen Splitter mit raschen Bewegungen aus seinem Versteck zog, spürte sie die sirrende Wärme, die von ihm ausging. Seine Bösartigkeit schien die Luft zu verpesten, deshalb schob sie ihn schnell in die Tasche des langen Mantels, den sie über ihrem geschlitzten Rock trug. Er war viel zu maskulin, als dass er vor Lady Mellys Augen Gnade gefunden hätte, aber dank ihres Kleides könnte Victoria, wenn sie ein wenig vorsichtig war, ihr vielleicht doch vortäuschen, angemessen gekleidet zu sein.
Doch natürlich wäre es das Beste, sich von ihrer Mutter gar nicht erst in ihrem seltsamen Aufzug erwischen zu lassen, und das war auch genau das, was Victoria beabsichtigte. Falls alles nach Plan lief, würde sie nicht vor dem frühen Morgen heimkehren, und die Damen schliefen dann sicherlich.
Das schmale Lederband mit seinem Obsidiananhänger verstaute Victoria in der Brusttasche ihres Mantels. Sie wollte nicht riskieren, dass die beiden Fragmente erneut egeneinanderrieben; gleichzeitig wollte sie es auch nicht in einer Tasche mit ihren Waffen aufbewahren, denn das Band könnte nur allzu leicht verloren gehen, wenn sie zum Beispiel schnell ihren Pflock ziehen musste.
Sie zog die Tür hinter sich zu und verließ die Asservatenkammer, doch anstatt in den Brunnensaal zurückzukehren und von dort aus über die Santo Quirinus das Konsilium zu verlassen, wandte Victoria sich nach rechts, um durch den anderen Geheimgang ein paar Häuserblocks von der kleinen Kirche entfernt ins Freie zu gelangen.
Der späte Nachmittaghimmel war düster und grau verhangen, die Sonne wurde von schweren Wolken verdeckt, und ein kalter Regen nieselte herab. Der große Splitter in Victorias Manteltasche schlug schwer gegen ihren Oberschenkel, als sie vorbei an den wenigen Reisenden und Händlern, die sich an einem solch nasskalten Tag nach draußen gewagt hatten, durch die Straßen eilte.
Victoria trug außerdem eine Pistole und zwei Pflöcke bei sich, von denen sie einen so hastig und nachlässig in ihr Haar geschoben hatte, dass Verbena das Herz stehen geblieben wäre, hätte sie es gesehen, während der andere in einer schmalen Schlaufe an der Taille ihres Rocks steckte. Am Oberteil ihres hochgeschlossenen Ausgehkleides trug sie ihr liebstes Silberkruzifix, außerdem hatte sie zusätzlich noch drei Weihwasserphiolen an verschiedenen Stellen ihrer Kleidung versteckt.
Unter welcher sie ihr Spezialkorsett trug.
Victoria fühlte sich selbstsicher und gut gerüstet für alles, was ihr möglicherweise begegnen würde, während sie sich vom Borgo aus ihren Weg über den Tiber zum Esquilino bahnte, wo die Villa Palombara stand. Sie hätte Oliver instruieren können, sie abzuholen und mit dem Landauer hinzubringen, aber dann hätte ihn möglicherweise jemand vor der Kirche warten sehen und Fragen gestellt; im Übrigen war dies eine Aufgabe, die Victoria allein erledigen wollte.
Sie hatte die gefährlichen Splitter ins Konsilium gebracht, und sie würde diese Gefahr nun bannen, indem sie die Obsidianfragmente an einem anderen, sicheren Ort versteckte. Mit schnellen Schritten bewegte sie sich durch die Straßen, vorbei an Geschäften, die wegen des wetterbedingten Mangels an Kundschaft geschlossen wurden. Dabei hielt sie sich von den Kutschen fern, die durch schmutzige Pfützen über das Kopfsteinpflaster rumpelten, während sie die reicheren Einwohner Roms beförderten, und wartete auf die unverkennbare Kälte in ihrem Nacken. Oder auf ein Prickeln auf ihrer Haut, das ihr signalisierte, dass jemand - oder etwas - ihr folgte. Es dämmerte zwar noch nicht, aber die Sonne war von Wolken verdeckt, und manche Vampire konnten sich an bewölkten Tagen wie diesem auch vor Einbruch der Nacht im Freien bewegen.
Doch sie witterte nichts, was ihre Instinkte in Alarmbereitschaft versetzt hätte. Mit gesenktem Kopf und wachsamen Augen sah sie sich nach allen Seiten um, während sie weiterlief. Ihre Finger waren eisig; dasselbe galt für ihre Ohren, denn ihr Mantelkragen war nicht hoch genug, um sie zu bedecken, und auch ihr nachlässig aufgestecktes Haar bot keinen Schutz vor der Kälte. Victoria zog es vor, keine Handschuhe zu tragen, wenn ein Kampf drohte, denn sie machten ihre Hände zu rutschig, als dass sie ihre Pflöcke sicher hätte halten können.
Sie hatte keine Ahnung, wie schnell oder mühelos Akvan den Splitter würde ausfindig machen können, aber angesichts der Zügigkeit, mit der das Konsilium attackiert worden war, nachdem der Splitter den Anhänger berührt hatte, sollte sie besser keine Zeit verlieren.
Wenn die Möglichkeit bestanden hätte, bis zur Abenddämmerung zu warten, sie hätte es getan. Aber es wäre unklug gewesen, den Vampiren und Dämonen für eine weitere Nacht die Gelegenheit zu geben, Jagd auf den Splitter zu machen. Falls sie sich beeilte, konnte sie ihre Aufgabe noch vor Sonnenuntergang zu Ende bringen.
Schließlich erreichte sie den zerklüfteten Teil der Mauer, welcher an der Rückseite des gleich einem lang gezogenen Fünfecks geschnittenen Anwesens der Villa Palombara lag. Weit entfernt ragte am anderen Ende des Grundstücks hinter einem Dickicht von Baumwipfeln der Dachfirst hervor.
Victoria würde sich ein weiteres Mal durch das Unterholz kämpfen müssen, und - was für ein Glück -, es war wieder ein regnerischer Tag. Und die Magische Tür, deren halb verfallene Mauer einen kleineren, zur Villa gehörenden Garten umgab, lag etwa in der Mitte des Terrains. Trotzdem war es noch immer besser, nass zu werden, als zu versuchen, sich ihr von der Vorderseite her zu nähern, wo sie von der Villa aus gesehen werden könnte.
Selbst mithilfe des Baumes gestaltete es sich für Victoria schwierig, über die Mauer zu klettern, doch nachdem sie um ein Haar aufs Gesicht gefallen wäre, als sich einer ihrer Stiefelabsätze im Saum ihres Rockes verfing, schaffte sie es am Ende doch noch. Allerdings landete sie auf allen vieren im nassen Gras, wobei sie sich eine Hand an einem Ast anschlug, die andere in einem Büschel Unkraut versenkte und mit ihrem verletzten Bein so unglücklich auf einem Stein aufkam, dass ihr ein sengender Schmerz durch den Körper fuhr.
Leise fluchend begann sie, sich auf die Füße zu rappeln, als ihr Blick plötzlich auf ein Paar abgewetzter, schwarzer Stiefel fiel.
»Ich erwarte dich schon seit Stunden.«
Warum musste es ausgerechnet immer Max sein, der Zeuge wurde, wenn jede Anmut sie verließ?
»Wie töricht von dir, so lange im Regen herumzustehen. Was tust du hier eigentlich?« Victoria belastete ihr schwaches Knie nur behutsam, während sie sich die nassen, schmutzigen Handflächen an ihrem Mantel abwischte. Obwohl es inzwischen zu nieseln aufgehört hatte, war die Luft noch immer dunstig und regenschwer.
»Auf dich warten.«
Sie strich sich eine Locke, die ihr bei ihrem Sturz über die Augen gefallen war, aus dem Gesicht und blickte zu ihm hoch. Die Art, wie er sie mit seinen dunklen Augen unter seiner tropfenden Hutkrempe hervor anstarrte, so als hätte er sie nie zuvor gesehen, sandte ihr einen leisen Schauder über den Rücken. »Was ist los? Habe ich einen Fleck im Gesicht?«
»Ja, hier.« Noch bevor sie auch nur blinzeln konnte, wischte er ihr schon mit seinem großen, rauen Daumen über die Wange. »Hast du das Bruchstück von dem Obelisken dabei?«
Sie hätte nicht überrascht sein sollen. Und war es auch nicht. »Ja, zusammen mit dem letzten Schlüssel.« Sie rempelte gegen einen hohen, jungen Baum, an dem noch immer ein paar Blätter hingen, sodass sich ein leichter Sprühregen auf ihre Arme und den Boden ergoss.
Max nickte. »Eine gute Strategie. Benutz den letzten Schlüssel, um die Magische Tür zu öffnen, hol heraus, was auch immer interessant für uns ist, und schließ dann den Splitter dort ein. So wird ihn anschließend nicht nur niemand ohne die Schlüssel an sich nehmen können. Akvans eigene, energetische Macht wird außerdem verhindern, dass er, selbst wenn er in ihrer Nähe ist, die geringere Kraft der beiden Obsidianfragmente wittert.«
»So wie die Energie irgendwelcher anderer Splitter, die er möglicherweise hat, die Präsenz von diesen hier überlagern wird.« Sie standen noch immer jenseits der Mauer neben der hohen Eiche, aus deren Ästen ein schwacher Wind alten Regen auf sie niederprasseln ließ. Es herrschte absolute Stille, und die grauen und braunen Büsche verbargen sie gut vor jedweden Beobachtern, die möglicherweise aus den Fenstern der Villa spähten. »Woher wusstest du, was ich vorhabe?«
»Es war die einzig logische Schlussfolgerung. Du hast den letzten Schlüssel gefunden, und du warst dir der Gefahr, die die Bruchstücke des Obelisken darstellen, bewusst. Es war nicht schwer, eins und eins zusammenzuzählen.« Normalerweise hätte Max bei einer solchen Unterhaltung arrogant geklungen, doch heute machte er einen recht verhaltenen Eindruck.
Victoria glaubte, den Grund zu kennen. »Du hast mit Wayren über den Angriff gesprochen.«
Wieder nickte er. »Ja, vorhin.« Dann vollführte er eine seiner typischen, ungeduldigen Handbewegungen. »Lass uns jetzt loslegen. Es sei denn, du wartest noch auf jemand anderen? Auf Zavier vielleicht? Oder … nein, es muss Vioget sein, der dich zögern lässt.« Nun lag wieder dieser altvertraute Spott in seiner Stimme.
Victoria hatte bereits begonnen, in das Dickicht hineinzumarschieren, doch bei seinen Worten blieb sie stehen und drehte sich um. Sie stellte fest, dass Max direkt hinter ihr stand. »Warum hast du mir nie von Sebastian erzählt?«
Er zog eine dunkle Braue hoch. »Von Sebastian? Nun, der Mann ist nicht gerade mein Lieblingsthema.«
»Er ist ein Venator. Das hast du mir nie gesagt.«
Wieder diese herablassende Miene. »Welchen Unterschied macht das schon? Er trägt zwar das Blut der Gardellas in sich, ist womöglich sogar einer der Auserwählten; aber er hat sich dazu entschieden, seine Berufung zu ignorieren. Er ist es nicht wert, dass ich auch nur einen Gedanken an ihn verschwende.«
»Er hat dir das Leben gerettet.«
»Wofür ich ihm auf ewig dankbar sein werde.« Die Bitterkeit, mit der er dies sagte, strafte seine Worte Lügen. »Er hätte viele weitere Leben retten können, wenn er den ihm zugedachten Platz im Konsilium eingenommen hätte.«
»Trotzdem trägt er eine vis bulla
Max zog nun beide Brauen hoch, und Victoria spürte, wie sie angesichts dieses wissenden Ausdrucks errötete. »Ah, das erklärt also, warum du so lange gebraucht hast, um die Splitter aus dem Konsilium zu bringen. Du warst anderweitig … beschäftigt.«
Sie hielt die Luft an, um die Röte, die ihre Wangen zu überziehen drohte, zu bezwingen. Es gab keinen Grund, warum sie ihm gegenüber die sittsame Jungfer spielen sollte; er wusste, dass sie und Sebastian eine Affäre gehabt hatten. »Und wenn schon. Immerhin bin ich jetzt hier.«
Max musterte sie mit unergründlichem Blick. Dann verzog er die Lippen zu einem harten Lächeln. »Also ist deine Wahl auf Sebastian gefallen. Hast du Zavier unversehrt gelassen, oder ist sein Herz inzwischen nur noch ein Scherbenhaufen?«
Victoria brachte keine angemessene Antwort zustande, denn sie erinnerte sich nur zu gut an den Schmerz und den Zorn im Gesicht des Schotten. Stattdessen hob sie das Kinn und schob dabei die Hände in die Seitentaschen ihres Mantels. Sie wünschte sich plötzlich, dass ein Untoter auftauchen würde, den sie pfählen könnte. Sie wollte irgendetwas anderes tun, als Aug in Auge dem Mann gegenüberzustehen, der verdammt noch mal immer Recht zu haben schien.
»Ich hatte dich gewarnt«, fuhr Max fort, der ihr Schweigen richtig deutete. »Und wer wird der Nächste sein,Victoria? Bestimmt willst du nicht peu à peu deine ganze Venatorenarmee vernichten, nur weil du dich nicht beherrschen kannst -«
Er brach ab, schluckte die Worte hinunter, dann schien er sich noch höher aufzurichten, während er sich gleichzeitig von ihr zurückzog und seinen unvermittelten Anflug von Rage im Keim erstickte. »Das hier führt zu nichts. Außerdem bleibt uns nicht mehr viel Zeit, bis die Sonne untergeht.«
Er drängte sich an ihr vorbei und begann, sich mit seinen langen Beinen zügig einen Weg durch das Gestrüpp entlang der Mauer zu bahnen, sodass die Zweige und hohen Gräser in seinem Kielwasser wippten und tropften. Als Victoria sich umdrehte, um ihm zu folgen, regnete Wasser auf ihr Haar und ihre Arme herab, und sie wünschte sich, sie hätte ebenfalls einen Hut mitgenommen.
In einer ihrer Manteltaschen fühlte sie das schwere Metall ihrer Pistole, in der anderen die warme Glätte des Obsidiansplitters. Während sie Max hinterherlief, amüsierte sie sich mit dem nicht ganz müßigen Gedanken, was von beidem ihm wohl zwischen seinen breiten Schultern den dauerhafteren Schmerz zufügen würde.
Sie ließ die Pistole wieder in die Tiefen ihrer Tasche gleiten, hielt den Splitter jedoch weiterhin fest. Er fühlte sich gut und kraftvoll an. Gewichtig. Ihr war nie zuvor aufgefallen, wie gut er sich in ihre Handfläche schmiegte, wie er mit ihr zu verschmelzen schien. Zwar hatte sie schon früher darüber nachgedacht, was für eine effiziente Waffe er abgeben würde, doch hatte sie ihn noch nie lange genug gehalten, um zu spüren, wie stark er wirklich war.
Der Stein erwärmte sich in ihren Fingern, und sie zog ihn heraus, um seine glänzende, schwarze Form zu bewundern. Ein Objekt des Bösen. Selbst in dem verbliebenen trüben Tageslicht, in den Schatten des verwilderten, ungepflegten Gartens war sein blau-schwarzer Schimmer so intensiv, als würde er von innen brennen.
Sie verlangsamte ihre Schritte, während sie ihn betrachtete, fasziniert von dem inneren Strahlen des dunklen Obsidians.
Eine großartige Waffe. Plötzlich sirrte eine derart starke Empfindung ihren Arm hinauf bis zu ihrer Schulter, dass sie den Splitter vor Überraschung beinahe fallen gelassen hätte.
Das Knacken von Zweigen im Unterholz lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf Max. Ihr wurde plötzlich klar, weshalb er so abrupt davongestürmt war, und sie sah auf, als er nun wieder in Sicht kam. Er hatte seinen Hut verloren, und das Haar hing ihm in feuchten, dunklen Strähnen ins Gesicht, auf dem sich der Schatten eines Bartes zeigte. Er sah verärgert aus.
Genauso verärgert, wie sie sich fühlte.
»Victoria«, begann er, doch dann bemerkte er, was sie da in der Hand hielt. »Was -«
Doch sie ließ ihn nicht aussprechen. »Du bist ja bloß eifersüchtig.« Sie blieb ein kurzes Stück von ihm entfernt stehen und sah ihm in sein scharf gemeißeltes Gesicht.
»Also das ist deine Meinung?« Er starrte auf sie herunter. »Du hältst übermäßig viel von dir,Victoria.«
»Keine Frau würde dir erlauben -«
Sein Lachen war kurz und verächtlich. »Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber ich habe nie im Zölibat gelebt, weder erzwungenermaßen noch freiwillig. Ich bin einfach nur anspruchsvoll, was die Wahl meiner … Partnerinnen anbelangt. Du hast den Beweis selbst gesehen, wie kannst du also daran zweifeln?« Flink wie eine Schlange ließ er die Finger nach vorn schnellen und legte sie um das Handgelenk, mit dem sie den Splitter festhielt.
Victoria reagierte mit einem dumpfen Lachen, das selbst in ihren eigenen Ohren seltsam klang. »Du sprichst von dem Abend, als ich dich und Sara dabei beobachtet habe, wie ihr vollkommen derangiert aus diesem Zimmer gekommen seid. So entschlossen, wie du warst, mich aus der Stadt zu jagen, würde ich dir durchaus zutrauen, das Ganze absichtlich inszeniert zu haben.«
»Du willst behaupten, es hätte gereicht, dir meine Zuneigung zu meiner Verlobten zu zeigen, um dich zu vertreiben? Wenn es doch nur so einfach gewesen wäre.« Er drückte ihr Handgelenk so fest, dass ihr ein heftiger Schmerz den Arm hinaufzuckte. »Lass ihn fallen,Victoria.«
»Zuneigung zu Sara Regalado? Du kannst unmöglich etwas für sie empfunden haben.« Ihre Finger wurden unter seinem Klammergriff kalt, taub und zunehmend schwächer. Sie versuchte, den Arm wegzureißen, aber er war schneller und hielt sie nun mit beiden Händen fest. Er war sehr, sehr stark. Sie hatte zwei vis bullae, und trotzdem fiel es ihr schwer, ihm Widerstand zu leisten.
»Wenn es sein muss, werde ich dir den Arm brechen. Lass ihn los.«
»Das würdest du nicht wagen«, spie sie ihm entgegen, von rasendem Zorn übermannt.
»Und ob ich das würde.« Als er den Druck seiner Finger noch weiter verstärkte, waren sein Gesicht und sein muskulöser Körper viel zu nah an ihrem, seine Augen dunkel und brennend, sein Mund entschlossen. »Lass ihn los,Victoria.«
Stöhnend öffnete sie die Finger, und der schwere Splitter fiel ihr aus der Hand. Er landete mit einem dumpfen Geräusch neben ihrem Fuß auf der Erde, aber noch bevor sie sich bücken konnte, um ihn wieder aufzuheben, hatte Max ihn schon mit einem Tritt aus ihrer Reichweite befördert.
Noch immer ihr Handgelenk umklammernd, zog er sie wieder nach oben, dann umfasste er zusätzlich ihre andere Schulter und starrte ihr mit grimmigem Blick in die Augen. Als er sie anschließend kurz schüttelte, war der Druck seiner Finger noch immer so fest, dass sie sich durch die schwere Wolle ihres Mantels in ihr Fleisch bohrten.
Obwohl sie den Splitter fallen gelassen hatte, konnte sie seine Wärme noch immer in der Hand spüren, zusammen mit einem leisen Prickeln, das von ihrem Arm in ihren ganzen Körper ausstrahlte. Als sie seinen Blick nun erwiderte, wusste sie ganz genau, was sie sagen musste, um ihn zu provozieren.
»Wirst du mich jetzt küssen?«, fragte sie kühn. Max stieß sie von sich, sodass sie rückwärts gegen einen Ast taumelte und sich ein sanfter Tropfenregen in ihren Kragen ergoss.
»Ich ziehe es vor, nicht einer in einer langen Reihe zu sein.«
»Wovor hast du Angst, Max?«
Er lächelte nun wieder. Allerdings war es kein freundliches Lächeln, es entsprach eher jenem unangenehmen Gefühl, das sie soeben durchströmte. »Du willst also, dass ich dich küsse, Victoria?«
Seine Miene weckte in ihr das Bedürfnis zurückzuweichen, doch sie widerstand ihm. »Warum nicht?«
Die Wärme des Splitters war inzwischen aus ihrer Hand gewichen, und ihre Finger fühlten sich kalt an. Max kam näher, und Victoria merkte, wie die Efeublätter, die sich an der Mauer hinter ihr rankten, gegen ihren Rücken strichen.
»Ja … warum eigentlich nicht?«
Er ragte stark, groß und nah über ihr auf, und Victorias Herz begann so wild zu pochen, als wollte es ihr aus der Brust springen. Ihre Lungen fühlten sich so eng an, dass sie glaubte, nicht atmen zu können, aber als sie es dann doch tat, nahm sie Max’ Geruch mit in sich auf - den seines feuchten Wollmantels, das vage Aroma von Wein und die Essenz dessen, was er war.
Sie fühlte die Berührung der Steine hinter sich, während sie mit den Fingern an der Mauer Halt suchte, so als fürchtete sie, die Balance zu verlieren.
Dann beugte Max sich - die Hände beidseitig neben ihren Kopf gelegt, jedoch weit genug entfernt, um sie nicht zu berühren - zu ihr, bis sein dunkler Kopf ihr die Sicht nahm und Victoria die Augen schloss, dann legte er den Mund auf ihren.
Max küsste sie so, wie er alles tat: arrogant, geschmeidig und äußerst kunstfertig.
Er war kein bisschen zögerlich. Es gab kein sanftes Berühren von Lippen, so als wollte er die ihren langsam erforschen, ihren Geschmack erproben oder Victoria die Chance lassen, sich zurückzuziehen, sollte sie ihre Meinung geändert haben.
Gleichzeitig war es aber auch kein Raubzug, kein Anmelden von Besitzansprüchen oder die Entfesselung einer lang unterdrückten Leidenschaft.
Es war … es war Max. Einfach nur Max.
Er war stark und sinnlich und sehr behutsam. Falls sie je gedacht hatte, dass seine Lippen sich unnachgiebig oder rau anfühlen würden, wurde sie nun eines Besseren belehrt, als ihre Münder sich wieder und wieder in einer schlüpfrigen Choreographie trafen und voneinander lösten, bis ihr Kuss zu einer einzigen fließenden, rasanten Spirale wurde, die in ihren Bauch und dann noch weiter nach unten kreiselte.
Die Finger noch immer in die nasse, erdverkrustete Mauer gekrallt, lehnte Victoria sich mit leicht abgewinkelten Knien dagegen, um ihr Gleichgewicht zu halten. Doch es war noch immer Raum zwischen ihren Körpern; obwohl sie die Wärme seiner Nähe in der frostigen, frühabendlichen Luft spürte, gab es keine Berührung außer der ihrer küssenden, sich neckenden Münder.
Max knabberte genüsslich für einen langen Moment an ihrer Unterlippe, dann zog er sich, mit der Nase über ihre Wange streichelnd, zurück.Victoria legte den Kopf in den Nacken und spürte, wie die Feuchtigkeit der Blätter in ihr Haar sickerte und Max’ Atem warm über ihre Schläfe strich, als er sich nun wieder zu ihr beugte.
»Könnten wir uns jetzt, da deine Neugierde befriedigt ist, wieder unserer eigentlichen Aufgabe zuwenden?«, murmelte er.
Damit löste er sich von der Mauer, von Victoria, und wandte ihr den Rücken zu, um den vergessenen Splitter aufzuheben. Noch bevor Victoria wieder ganz zu Atem gekommen war oder auch nur daran dachte, ihn zurückzuverlangen, hatte Max ihn schon in seine Tasche gesteckt.
Mit zitternden Fingern und weichen Knien drehte sie sich von ihm weg, bevor er den benommenen Ausdruck auf ihrem Gesicht bemerken konnte.
Doch diese Sorge erwies sich als unbegründet, denn Max würdigte sie kaum eines Blickes, sondern gab ihr lediglich mit einer seiner typischen, scharfen Gesten zu verstehen, ihm zu folgen. »Wir haben genug Zeit verloren. Der Sonnenuntergang rückt immer näher«, rief er ihr über die Schulter zu, während er seinen Weg entlang der Mauer fortsetzte.
Jener Mauer, von der jetzt winzige Steinchen unter Victorias Fingernägeln hafteten.