Kapitel 2
In welchem unsere Heldin eine widerwärtige Entdeckung macht
Ich habe den Eindruck, dass Zavier von unserer neuen Illa Gardella mehr als bezaubert ist.« Michalas warf Victoria unter seinem breitkrempigen Hut hervor einen verschmitzten Blick zu, während sie mit flotten Schritten die Via Merulana entlangliefen. »Vielleicht hätte ich ihm anbieten sollen, uns zu begleiten.«
Victoria war froh über die Dunkelheit, denn es wäre ihr schrecklich gewesen, wenn er die Röte auf ihren Wangen bemerkt hätte. Wenngleich er die leichte Tönung womöglich der eisigen Februarluft zugeschrieben hätte, denn ihre Nasenspitze war kalt und vermutlich ebenso rot. »Vielleicht hätten Sie das tun sollen, allerdings hätten wir dann vermutlich eine Geschichtsstunde über uns ergehen lassen müssen.«
Michalas gluckste leise, dann winkte er sie weiter. »Da haben Sie wahrscheinlich Recht.«
Victoria war sich natürlich des Interesses, das der Schotte an ihr bekundete, durchaus bewusst, trotzdem war es ihr ziemlich unangenehm, dass auch andere es bemerkt hatten. Aber welche Rolle spielte es letztendlich schon? Zaviers freundliche, aufmerksame Art war so ganz anders als die ungezwungene Korrektheit ihres Ehemanns Phillip … oder der goldene, überwältigende Charme Sebastians.
Die Erinnerung an den Franzosen und daran, wie sie sich letzten Herbst in einer Kutsche von ihm hatte verführen lassen, versetzte ihre Gefühle in Aufruhr, deshalb beschleunigte sie ihre Schritte, während sie neben Michalas weiterging.
Sebastian war der Ur-Ur-Ur-(sie wusste nicht, wie viele Generationen genau)-Enkel des legendären Vampirs Beauregard. Da dieser erst zu einem Untoten gemacht worden war, nachdem er bereits einen Sohn gehabt hatte, war kein Vampirblut an die folgenden Generationen weitervererbt worden. Sebastian war genauso sterblich wie Victoria, aber trotz ihrer intimen Beziehung konnte sie ihm nicht uneingeschränkt vertrauen, denn zum einen schien er ständig wie von Zauberhand aufzutauchen und wieder zu verschwinden - üblicherweise dann, wenn Vampire oder andere Bedrohungen im Spiel waren -, zum anderen machte er keinen Hehl daraus, dass seine Loyalität gespalten war.
Deshalb hatte Sebastian das letzte Jahr damit verbracht, eine Balance zu finden zwischen seiner Ergebenheit gegenüber seinem Großvater und … wie würde er wohl seine Beziehung zu Victoria beschreiben? Als Faszination? Zuneigung? Katz-und-Maus-Spiel?
Sie schnaubte verächtlich, auf eine Weise, die bei ihrer Mutter unweigerlich eine Hustenattacke ausgelöst hätte, wäre sie hier gewesen. Aber glücklicherweise war sie weit weg, in London, wo ihr ein verliebter Lord Jellington zweifellos den Hof machte und sie sich ansonsten damit vergnügte, mit ihren beiden alten Freundinnen Lady Nilly und Herzogin Winnie den neuesten Klatsch auszutauschen.
Aber wie würde Victoria selbst ihre Beziehung zu Sebastian definieren? Als missglücktes Stelldichein? Oder auch als geglücktes … das hing ganz davon ab, von welcher Warte aus man es betrachtete. Als eine Affäre?
Sie versuchte, so wenig an ihn zu denken, wie er dieser Tage vermutlich an sie dachte, jetzt, da sein Großvater die Straßen Roms unsicher machte, Menschen attackierte und ihr Blut trank, wann immer es ihm gefiel, während er sorgfältig darauf achtete, nicht gefasst zu werden. Ganz gleich, welche Gefühle Victoria für Sebastian auch hegen mochte, sie hatte die Pflicht, Beauregard zu stellen und ihm einen Pflock in seine jahrhundertealte Brust zu stoßen.
Aber einmal zumindest musste Sebastian offensichtlich seit letztem Herbst an sie gedacht haben, denn es war ihm irgendwie gelungen, im Anschluss an die schrecklichen Ereignisse jener langen, blutigen Nacht Eustacias vis bulla an sich zu bringen und sie ihr,Victoria, zu schicken. Wie er an sie gelangt war, darüber konnte sie nur Vermutungen anstellen, aber allein die Tatsache, dass er sie ihr zugesandt hatte, grenzte an ein Wunder.
Und dann war da noch Max, von dem sie nichts mehr gehört hatte, seit er ihr seine eigene vis bulla übergeben hatte und weggegangen war. Vor beinahe vier Monaten.
Sein Amulett hatte ihr zusammen mit dem ihrer Tante grö ßere Kraft und Schnelligkeit verliehen als zuvor ihr einzelnes. Anstatt sich in ihrer Wirkung aufzuheben oder Victorias Fähigkeiten so zu belassen, wie sie zuvor gewesen waren, hatten die beiden vis bullae sie schneller, stärker und gesünder gemacht; zumindest hatte es bei ihrer letzten Trainingseinheit mit Kritanu den Anschein gehabt.
Michalas blieb stehen und riss Victoria damit abrupt aus ihrer Gedankenversunkenheit. Zum Glück war nicht gerade ein Vampir hinter irgendeiner Ecke hervorgesprungen, denn sie war während der letzten Minuten geistesabwesender gewesen, als gut für einen Venator war.
»So, jetzt sehen Sie her«, begann er. »Diese hohe Steinmauer umschließt das Palombara-Anwesen. Sie führt in einer Art lang gestrecktem Fünfeck um das ganze Grundstück herum. Wir befinden uns gerade an der Hinterseite und damit an der Stelle, die am weitesten von der Villa, welche an der fünften Ecke der Mauer in der Nähe des vorderen Tors steht, entfernt liegt. Nur ein kleines Stück weiter diese Straße hinauf bin ich damals auf den Haufen von Tierkadavern gestoßen.«
Die Sonne war eben erst untergegangen, und das graue Licht des Himmels spendete gerade noch genug Helligkeit, dass sie die abbröckelnde Mauer - die Victoria um die Hälfte ihrer eigenen Körperlänge überragte - erkennen konnte. An ihrer Oberseite waren hohe, scharfzackige Splitter in die Steine eingelassen worden, um potenzielle Eindringlinge daran zu hindern, über sie hinwegzuklettern. Aber es gab verschiedene Durchbrüche, darunter auch einen besonders großen, wo der Ast einer Eiche gegen die Mauer gewachsen war, bis sie nachgegeben hatte und geborsten war, sodass man nun hindurchklettern konnte.
Die Via Merulana wurde von schmalen, bebauten Grundstücken gesäumt, die besser erhalten zu sein schienen als das Palombara-Anwesen, aber trotzdem war sie keine sehr belebte Straße. Ein paar Kutschen holperten vorbei, und mehrere Fußgänger eilten zielstrebig ihres Weges - die Köpfe gesenkt, entweder um sich gegen die Kälte zu schützen oder aber um unbemerkt und unerkannt zu bleiben. Es war ein bisschen unheimlich, was noch durch den Umstand verstärkt wurde, dass sie und Michalas ohne Laternen unterwegs waren, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
»Seit einhundertvierzig Jahren hat hier niemand mehr gewohnt«, erklärte Michalas, während er den Durchschlupf untersuchte, den der Baum geschaffen hatte. »Allem Anschein nach unterhielt der Marchese ein Geheimlabor, in welchem er und seine Alchimisten-Kollegen ihre Experimente durchführten. Er hat damals behauptet, nur noch zwei Nächte davon entfernt zu sein, das Geheimnis der Transmutation zu lüften, als er plötzlich spurlos verschwand. Das Labor, das vermutlich die Ergebnisse und Überreste seiner Versuche enthält, ist seit seinem Verschwinden verschlossen geblieben.«
Victoria betrachtete nachdenklich die zerklüftete Mauer. »Ich nehme nicht an, dass er in einen Vampir verwandelt wurde?«, fragte sie mit einem Anflug von Humor in der Stimme.
Noch bevor Michalas antworten konnte, wurden beide plötzlich ganz still. »Da wir gerade von den verfluchten Kreaturen sprechen«, murmelte er und zog dabei einen Pflock aus seinem Gürtel. Victoria folgte seinem Beispiel, dann sahen sie einander abwartend an.
Sie fühlte einen kalten Luftzug im Genick, der ihr die Nackenhärchen aufstellte und ihr Bewusstsein schärfte, was stets auf die Anwesenheit von Vampiren hinwies. »Es kommt von dort drüben.« Sie zeigte auf die Mauer. »Jenseits davon.«
Michalas nickte, dann bewegten sie sich gemeinsam auf den Mauerspalt zu. »Wollen Sie vorgehen oder ich?«, fragte er.
»Ich zuerst«, antwortete Victoria, erfreut darüber, dass er nicht versucht hatte, sich vorzudrängeln. Ein paar der männlichen Venatoren, besonders die jüngeren, die nie an Eustacias Seite gekämpft hatten, mussten immer wieder daran erinnert werden, dass sie sich ebenso gut - dank ihrer zwei vis bullae und ihrer direkten Abstammung von den ersten Gardellas sogar noch besser - verteidigen konnte wie sie.
Aber trotz alledem musste Michalas ihr schließlich durch die Öffnung helfen, als sich ihre weit geschnittene Hose, die auf den ersten Blick wie ein Rock aussah, an einem niedrigen Zweig verfing. Dann folgte er ihr.
Die Empfindung in ihrem Nacken wurde stärker, ein Zeichen dafür, dass sie in die richtige Richtung gingen. Das letzte Tageslicht schwand nun sehr rasch, und auf der anderen Seite der Mauer war es zu dunkel, um irgendwelche Details des verwilderten Grundstücks erkennen zu können. Hohe, skelettartige Bäume mischten sich mit dichtem Gebüsch, und die ineinander verschlungenen, braunblättrigen Weinreben und das Gestrüpp eines längst vergessenen Gartens erschwerten ihnen den Weg zusätzlich.
Michalas deutete auf die Überreste eines Fußpfads, der nur noch von ein paar vereinzelten Steinen markiert wurde. Es war ein bleicher Streifen in der Finsternis, der fast gänzlich von dem hohen Gras verdeckt wurde, das im Laufe der Jahre über ihn hinweggewuchert war. Sie schwiegen, während sie dem alten Gartenweg folgten. Victoria spähte in die Richtung, von der sie dachte, dass dort die Villa sein musste, und erwartete unwillkürlich, Lampen oder eine andere Beleuchtung zu sehen. Dabei wusste sie, dass das nicht der Fall sein würde. Es kam ihr einfach merkwürdig vor, dass hier mitten in der Stadt ein solch riesiges, unbewohntes Haus stehen sollte. In London wäre so etwas undenkbar.
Ihr Nacken wurde immer kälter, und Victoria erkannte, dass sie nicht mehr weit von der Villa entfernt waren, als sie an eine zweite, niedrigere Mauer gelangten. Dieses Mäuerchen unterteilte das Anwesen scheinbar in den rückwärtigen Teil mit seinen natürlicher gehaltenen Gärten und in den vorderen, in welchem sich vermutlich das Haupthaus, die Stallungen und die Ziergärten befanden.
Sie spürte drei oder vier Untote ganz in ihrer Nähe, vielleicht sogar direkt hinter der Mauer. Sie und Michalas mussten entweder ein Tor oder aber eine andere Möglichkeit finden, um hindurchzugelangen.
Leise griff sie nach seinem Arm, um ihn auf sich aufmerksam zu machen, dann zeigte sie ihm vier Finger, die im schwachen Mondschein kaum zu sehen waren. Er nickte, dann deutete er auf eine weit klaffende Lücke, wo die beiden Mauern sich eigentlich hätten treffen sollen. Sie war breit genug, dass sie mühelos hindurchschlüpfen konnten.
Aber noch während sie sich darauf zubewegten, hörte Victoria das Knarzen rostigen Metalls: ein Tor, das geöffnet wurde und mit einem Klicken wieder ins Schloss fiel. Sie warteten einen kurzen Moment, dann schlichen sie lautlos auf die Untoten zu.
Acht rote Augen glimmten in der Dunkelheit; die Vampire schienen sich aufgeregt miteinander zu unterhalten. Vermutlich berieten sie darüber, wann und wo sie den für ihre Abendmahlzeit auserkorenen Opfern auflauern sollten. Schade, ihre Dinnerpläne zu ruinieren, aber - Victoria stürzte mit gezücktem Pflock hinter einer Pinie hervor, wobei deren Nadeln ihre Wange streiften.
Das Überraschungsmoment nutzend, pfählte sie einen der Untoten, noch ehe die anderen überhaupt begriffen, dass sie nicht mehr allein waren. Als sie den Pflock in das Herz der Kreatur stieß, erstarrte diese, dann verpuffte sie zu einem hässlichen Häuflein Asche. Das Resultat eines Lebens in verfluchter Unsterblichkeit. Michalas handhabte seine Waffe ebenso gewandt, und so gelang es den beiden mühelos, die drei anderen Vampire ins Jenseits zu befördern, ohne dabei auch nur zu blinzeln oder Atem holen zu müssen. Überrumpelt wie sie waren, entpuppten sie sich als leichte Beute, außerdem schienen sie, ihrem Aussehen nach zu urteilen, noch nicht sehr lange untot zu sein.
Nachdem Victoria ihren zweiten und damit letzten Vampir gepfählt hatte, wurde sie für einen Moment ganz still. Da sie in ihrem Nacken keine Kälte und auch kein Prickeln mehr wahrnahm, verstaute sie den Pflock wieder in der Tasche ihres Herrenmantels.
»Sie sind aus dieser Richtung gekommen«, erklärte Michalas, bevor er in der Dunkelheit verschwand.
Victoria folgte ihm nur allzu gern. Man konnte dieses kurze Gerangel wohl kaum als Kampf bezeichnen; sie hätte ihre Gegner auch in vollem Hofstaat und ohne Michalas’ Hilfe besiegt. Vielleicht würde ihnen auf ihrem Weg ja noch etwas Interessanteres begegnen.
Schließlich entdeckte sie nur ein kurzes Stück hinter der niedrigeren Mauer, durch die die Vampire gekommen waren, die Umrisse der Villa, die groß und düster vor ihnen aufragte. Sie war so finster und totenstill wie ein Mausoleum.
»Hier irgendwo muss sie sein«, ertönte Michalas’ Stimme aus der Dunkelheit. Victoria erkannte, dass er an einer weiteren Mauer entlanglief, einer, die im rechten Winkel von der kürzeren abzweigte und sich in die Dunkelheit hinter der Villa erstreckte.
»Was denn?«
»La Porta Alchemica«, erklärte er, sobald sie zu ihm aufgeschlossen hatte. »Das Alchimistische Portal - jene Tür, die zu Palombaras Labor führt. Ich habe sie nie gesehen, aber sehr wohl davon gehört.«
»Es ist zu dunkel.« Victoria blickte zu einer besonders mächtigen Pinie empor, die auch noch den letzten Rest Mondlicht schluckte. »Ich habe keine Ahnung, wie wir sie finden sollen.«
Michalas schnalzte mit der Zunge. »Wenn wir doch nur irgendeine Lichtquelle hätten. Warum erfindet Miro diesbezüglich nicht mal etwas Nützliches für uns? Wie viele Male habe ich mir schon etwas gewünscht, das ich einfach anschalten oder im Handumdrehen anzünden kann. Wir verbringen so viel Zeit in der Dunkelheit, ohne dabei sehen zu können. All diese ausgeklügelten Waffen, auf die er seine Zeit verschwendet - Pah! Ein Eschenholzpflock ist alles, was ich brauche. Oder vielleicht irgendetwas Hübsches, Kleines, das man bei Bedarf zum Explodieren bringen kann.« Er bedachte Victoria mit einem breiten Grinsen.
Insgeheim stimmte sie mit ihm überein, dass ein Pflock immer noch die beste Waffe war, aber da der Waffenmeister der Venatoren gerade an einer Spezialkleidung für sie arbeitete, hielt sie es für unangemessen, sich zu beklagen.
»Ah, das hier könnte sie sein. Fühlen Sie mal hier«, forderte Michalas sie auf.
Sie stellte sich neben ihn und tastete an dem massiven Sturz herum, der eine in eine Wand eingelassene Steintür umrahmte. Der Mond schien hinter den Bäumen und Wolken hervor und spendete gerade genug Licht, um die glatte weiße Tür und die geheimnisvollen Zeichen, die sich auf ihr und dem Rahmen befanden, sichtbar zu machen.
»Sie wurde mit drei Schlüsseln versperrt, und soweit mir bekannt ist, werden auch alle drei benötigt, um sie wieder zu öffnen«, erklärte Michalas. »Das muss sie tatsächlich sein. Fühlen Sie die runde Scheibe in der Mitte? Und die Gravuren darauf? Auf dem Türrahmen sind noch mehr davon, und falls man der Legende glauben darf, stammen die Worte und Symbole direkt aus jener alchimistischen Schrift, die vor Palombaras Verschwinden in seinen Besitz gelangte.«
»Also bergen diese Symbole das Geheimnis der Unsterblichkeit in sich?«, fragte Victoria mit trockener Stimme, während ihre Fingerspitzen weiter über das Moos, die Erde und die eingeschnitzten Zeichen tasteten.
Michalas bewegte sich hinter ihr in der Dunkelheit zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Plötzlich vernahm sie das unverkennbare Geräusch seines Stolperns, gefolgt von einem »Uff!«, als er hinfiel.
Wie es schien, hatten selbst Venatoren ihre tollpatschigen Momente.
»Beim Kreuze Christi«, fluchte er leise.
»Was ist passiert?« Victoria lief zu der Stelle, wo er nicht weit von dem Tor entfernt, durch das die Vampire gekommen waren, auf dem Boden kauerte.
»Sie … vielleicht wollen Sie das lieber nicht sehen.« Er richtete sich auf und drehte sich um, so als wollte er ihr die Sicht versperren. »Äh, es ist kein hübscher Anblick.«
Victoria, die sich an das Massaker im Bridge and Stokes in London erinnerte, schüttelte den Kopf. »Was ist es?«
In ihrem Bemühen, ihm zu beweisen, dass sie nicht zimperlich war, wäre sie beinahe selbst über sie gestolpert. Sie waren zu viert. Obwohl sie in dem spärlichen Licht kaum Details erkennen konnte, sah sie dennoch genug.
Sie waren noch immer bekleidet. Eines der Opfer trug einen Rock, die anderen drei waren in Hemd und Hosen.
Menschen.
Ohne Köpfe.
Genau wie Tante Eustacia.
Der Vergleich schoss ihr ungebeten durch den Kopf. Alles war voll Blut.
Victoria holte tief Luft und schloss die Augen. Ihr Herz hämmerte wie wild. Ihr drehte sich der Magen um, aber sie schaffte es, nicht die Kontrolle zu verlieren. Sie wartete einen Moment, schluckte mühsam. »Was tun die bloß? Warum trennen sie ihnen die Köpfe ab?«
»Sie haben sie irgendwo anders hingebracht.Vermutlich fort von dem Anwesen.«
Victoria sah Michalas an. »Es kann kein Zufall sein, dass sich nicht weit von hier ein Haufen geköpfter Tierkadaver befindet. Lassen Sie uns nachsehen, ob es noch weitere Leichen gibt. Allerdings finde ich, wir können sie nicht einfach hierlassen.«
»Nein … sollen wir sie irgendwo außerhalb dieser Mauern ablegen, sodass sie gefunden werden? Damit sie vielleicht identifiziert werden können? Ich habe bisher keine Berichte darüber gehört, dass in der Stadt geköpfte Leichen entdeckt wurden«, fügte er hinzu. »Mein Cousin arbeitet bei der Polizei, und er informiert mich über alles, was vor sich geht.«
»Aber wozu ihre Köpfe mitnehmen? Es sind Vampire«, fragte Victoria noch einmal, wenn auch nur, um ihre Gedanken von der morbiden Aufgabe, die vor ihnen lag, abzulenken. Natürlich konnten sie die Toten nicht hier zurücklassen. Michalas hatte vollkommen Recht.
Am Ende trugen sie die Leichen zu einem kleinen Grundstück mehrere Straßen vom Palombara-Anwesen entfernt. Michalas würde seinem Cousin den Hinweis geben, diese spezielle Gasse zu inspizieren, anschließend konnte die Polizei dann zumindest versuchen, die Familien der Opfer ausfindig zu machen.
Nachdem sie ihre Arbeit vollendet hatten, war Victoria zwar schmutzig, blutbesudelt und ziemlich angeekelt, aber da sie noch immer darauf bestand, die Tierkadaver zu sehen, brachte Michalas sie zu der nur zwei Straßen von dem Spalt in der Mauer entfernt gelegenen Stelle, wo er den Haufen entdeckt hatte.
Er war noch immer da, in der dunkelsten Ecke eines zugewucherten Hofs hinter einem ausgebrannten Wohnhaus. Sie hatte keine Ahnung, wie Michalas je auf ihn hatte aufmerksam werden können.
Ihm zufolge war er inzwischen weiter angewachsen. Die Kadaver waren vollkommen verwest, und von dem Haufen ging ein bestialischer Gestank aus. Soweit Victoria erkennen konnte, handelte es sich bei den Opfern ausschließlich um Hunde, Katzen und ein oder zwei Wölfe.
Aber es war mehr als wahrscheinlich, dass die vier toten Menschen ebenfalls für diesen Haufen bestimmt gewesen waren.
»Jetzt wissen wir, dass die Untoten darin verwickelt sind«, bemerkte Victoria, während sie und Michalas sich, noch immer wachsam nach weiteren Vampiren Ausschau haltend, von dem dunklen Hof entfernten. »Aber nun stellt sich die Frage: Was tun sie mit all den Köpfen?«