Kapitel 9
In welchem drei Damen auf
Schatzsuche gehen
Max hörte das leise
Klicken einer Pistole, die entsichert wurde, dann erstarrte er im
selben Moment, als ihm bewusst wurde, dass sein Nacken kalt
wurde.
Vampire … irgendwo. Aber nicht allzu nahe.
Das plötzliche Aufleuchten einer Kerze sandte
von unten, gerade außerhalb seiner Sichtweite, einen weichen,
gelblichen Schein die Treppe hoch. Dann wurde das Licht heller, als
drei schemenhafte Gestalten die Stufen hinauf- und in seine
Sichtweite kamen.
»Wen haben wir denn da - Maximilian!«
Er kannte diese nervtötende Stimme nur allzu
gut. Verdammtes Miststück.
»Sara.« Es wollte ihm einfach nicht gelingen,
ebenso erfreut zu klingen wie seine ehemalige Verlobte. »Und
Starcasset. Was für eine unschöne, wenn auch nicht gänzlich
unerwartete Überraschung.«
Er erkannte, dass Victoria, auf deren Gesicht
zwei schmale Streifen zu sehen waren - hatte sie etwa geweint? -
von George Starcasset in Schach gehalten wurde. Dabei starrte sie
Max mit einem solch verachtungsvollen Ausdruck an, als wäre es
irgendwie seine Schuld, dass sie vor den Lauf einer Pistole geraten
war.
Noch bevor er sich rühren konnte, kam Sarafina
schon auf ihn zu. Sie war eine dralle Blondine mit schönen braunen
Augen und einem Geist, der kaum mehr zustande brachte als kokette
Bemerkungen und Gespräche über Mode. Er hatte sie als
vermeintlicher Verehrer durch ganz Rom begleitet und dabei eine
wesentlich größere Zahl von Schäferstündchen mit ihr verbringen
müssen, als ihm lieb gewesen war. Sie war ein hübsches, fröhliches
Ding - genau die Art von Frau, die er heiraten würde, sollte er
sich je dazu entscheiden. Schade, dass sie sich übermäßig stark zu
Vampiren hingezogen fühlte. Au ßerdem gingen ihm ihre Stimme und
ihr albernes Benehmen nach kurzer Zeit regelmäßig fürchterlich auf
die Nerven.
Leider fuchtelte das hübsche, fröhliche Ding
gerade mit einer Pistole vor seiner Nase herum, deshalb war es wohl
besser, seine Zunge zu hüten.
Als sie nach seiner rechten Schulter fasste, sah
er lediglich
mit verärgerter Belustigung zu ihr hinunter. Unwillkürlich schoss
ihm die Frage durch den Kopf, ob sie vorhatte, ihn aus Freude über
ihr Wiedersehen zu umarmen. Doch als sie dann nach seinem Kragen
griff und ihn von seinem Hals wegzog, um seine unverheilten
Bissmale zu entblößen, schubste er sie weg.
»Himmel noch mal, pass doch mit der Pistole
auf«, fluchte er, seinen dürftig gestärkten Kragen wieder
zurechtrückend. »Du wirst noch jemanden verletzen, Sara. Steck sie
weg.«
Es überraschte ihn nicht sonderlich, dass sie
ihm nicht gehorchte, sondern ihm stattdessen den Lauf unsanft in
den Bauch stieß. »Also ist es wahr. Du warst bei ihr.«
Zu spät erinnerte sich Max nun daran, dass es
keinen schlimmeren Zorn gab als den einer verschmähten Frau.
»Vielleicht könntet ihr zwei Turteltäubchen eure
Zwistigkeiten auf später verschieben«, wurden sie nun zum Glück von
Starcasset unterbrochen. Er musste seine eigene Schusswaffe dabei
etwas zu fest in Victorias Körper gedrückt haben, denn sie zuckte
zusammen. Den Blick auf Max gerichtet, fügte er hinzu: »Sicher
erkennen Sie, dass es zu Ihrem eigenen Besten ist, still und leise
mitzukommen.«
Max nickte. »Gewiss. Es liegt auf keinen Fall in
unserem Interesse, die Gäste dort unten in eine Auseinandersetzung
zu verwickeln.« Er sah zu Victoria, um festzustellen, ob sie
begriff, dass sie sich nicht zu einem Kampf hinreißen lassen
durfte, doch sie schaute mit zusammengepressten Lippen zur
Seite.
Bestimmt machte sie sich doch keine Sorgen wegen
ihrer momentanen Misere?
»Gut beobachtet, Mr. Pesaro. Wenn Sie und Ihre
ehemalige
Verlobte nun so freundlich wären voranzugehen, werden Lady Rockley
und ich folgen.«
So schritten sie also paarweise die Treppe
hinunter, wobei sie außer Sicht der Festgesellschaft in dem Saal
hinter dem Vestibül blieben. Dann schubste Sara ihn in die
entgegengesetzte Richtung zu der, aus der Max und Victoria
ursprünglich gekommen waren.
Max war mit mehreren Pflöcken - darunter auch
sein bevorzugter, schwarz bemalter -, einer Pistole und einem
Dolch, der in seinem Stiefel steckte, bewaffnet. Dass weder
Starcasset noch Sara Regalado sie nach Waffen durchsucht hatten,
bewies, was für Amateure sie waren. Vermutlich nahmen sie an, dass
Vampirjäger ausschließlich Pflöcke bei sich trugen.
Er würde warten, bis sie sich weit genug
entfernt hatten, um die Partygäste im Ballsaal nicht zu alarmieren,
und dann zuschlagen. Das Letzte, was sie jetzt bräuchten, wäre eine
Horde hysterischer Damen und polternder Möchtegernhelden, die sich
ihnen in den Weg stellten.
Während sie weitergingen, wurde die Kälte in
seinem Nacken intensiver, woran er erkannte, dass sie zu
irgendeiner grö ßeren Ansammlung von Vampiren gebracht wurden.
Schließlich traten sie durch eine Tür in einen großen Raum, der,
seiner feuchtkalten Atmosphäre nach zu urteilen, zumindest
teilweise unter der Erde liegen musste.
Ganz offensichtlich war in der Villa Palombara
eine Gruppe Untoter zusammengekommen. Möglicherweise war das das
eigentliche Motiv hinter der angeblichen Schatzsuche: Die Tutela
trieb Opfer zusammen, die vermutlich für Sara Regalados Vater und
seine Gefolgsleute bestimmt waren. Regalado hatte
eine ganze Gruppe um sich scharen können, nachdem er vergangenen
Herbst im Anschluss an die Zerstörung des Obelisken von Beauregard
in die Flucht geschlagen worden war.
Konnten sie, überlegte Max, während er neben
Sara weiterschlenderte, die Vampire umso effizienter bezwingen, je
näher sie sich an den Ort bringen ließen, wo diese auf sie
warteten?
Doch dann nahm ihm eine plötzliche Bewegung in
seinem Rücken die Entscheidung ab. Er wusste, dass es Victoria war,
die es irgendwie geschafft hatte, diesen einfältigen Teufel
Starcasset zu überraschen. Max wurde aktiv, sobald Saras
Aufmerksamkeit abgelenkt und der Druck von seinen Rippen
verschwunden war.
Es ist nicht leicht, eine Frau zu entwaffnen,
ohne sie zu verletzen; die Übergänge sind fließend. Deshalb
gestattete Max sich bei diesem Kampf ein wenig Feingefühl. Er glitt
zur Seite, dann vollführte er einen langgestreckten, geschmeidigen
qinggong -Sprung und landete hinter Sara,
Victoria und Starcasset wieder auf dem Boden - ein Manöver, das ihm
trotz der niedrigen Decke des Raumes gelang.
Alles wurde undeutlich, während er kreiselte und
schwebte, durch die Luft sprang und schlitterte, bevor er
Starcasset schließlich mit einem gezielten Tritt seiner
Stiefelspitze außer Gefecht setzte (er hatte keine Bedenken, dem
Einfaltspinsel wehzutun)und dann zu Sara hechtete, sie an der
Taille packte und durch eine nahe gelegene Tür stieß.
Inmitten seiner mühelosen und befreienden Arbeit
bemerkte Max auf einmal, wie Victoria in dem hauchdünnen,
rosafarbenen Kleid, das sie für diesen Anlass gewählt hatte,
davonstürzte.
Es sah ihr nicht ähnlich, sich einem Kampf zu entziehen; doch er
wusste ganz genau, weshalb sie weggelaufen war.
Kaum dass Max wieder Boden unter den Füßen
hatte, schleuderte er Starcasset zu Sara in die Kammer, dann schob
er einen schweren Tisch vor die Tür, verkeilte ihn unter dem Knauf
und rannte Victoria nach. Sein Genick war kalt, und seine Finger
kribbelten. Falls seine Wahrnehmung ihn nicht trog, waren jede
Menge Untote in der Nähe.
Und sie trog ihn nie.
Er schaffte es nur deshalb, Victoria einzuholen,
weil sie - welch Überraschung - falsch abgebogen und in einer
Sackgasse gelandet war.
Er musste sie nicht erst fragen, wo sie
hinwollte, denn sie drehte sich zu ihm um und rief: »Meine Mutter!«
Ihre Augen waren voller Sorge, doch ihr Mund zeigte grimmige
Entschlossenheit, als sie sich an ihm vorbeidrängte.
»Hier entlang.«
Aber sie kamen nicht weit, denn als sie gerade
um eine Ecke bogen, um einem anderen Gang zu folgen, wurde
plötzlich eine Tür geöffnet. Mehr als ein Dutzend Gestalten
strömten heraus, und mindestens ein paar von ihnen waren
Vampire.
Max sah, wie Victoria direkt in sie
hineinrannte, und noch bevor sie reagieren konnte, sprang eine der
Kreaturen sie von hinten an. Sie ging in einem Bündel rosafarbener
Seide und violetter Rosetten zu Boden, doch zog sie den Vampir mit
sich nach unten, bevor sie ihn mit einer einzigen kraftvollen
Bewegung über ihren Kopf katapultierte.
Danach sah Max nichts mehr von ihr, denn er war
gezwungenermaßen voll und ganz mit den vier Untoten beschäftigt,
die sich nun auf ihn stürzten. Den ersten erledigte er kurzerhand
mit seinem Pflock, als schon zwei weitere seinen Platz einnahmen.
Etwas wurde von hinten gegen seine Beine gerammt, sodass seine Knie
nachgaben und er auf dem Boden landete.
Er kam schwankend wieder auf die Füße, als ein
scharfer Knall durch den Korridor schallte. Ein glühender Schmerz
fraß sich direkt unterhalb seines Schlüsselbeins in die Schulter,
gefolgt von einem weiteren knapp über seinem Knie. Keuchend
hechtete Max nach vorn, holte dabei mit seinem unverletzten Bein
aus und drosch es gegen seinen Angreifer, während er versuchte,
sich mit seinem guten Arm abzufangen.
Er rollte zur Seite und sprang auf die Füße, als
von hinten etwas gegen seinen Kopf geschmettert wurde. Dann
herrschte Dunkelheit.

»Ich schwöre, dass ich das Gefühl habe, als würde
uns jeden Moment ein Vampir anfallen!«, flüsterte Lady Nilly
ziemlich laut. Eine schlanke Hand gegen ihren flachen Busen
gepresst, führte sie sie einen dunklen, staubigen Korridor entlang,
der nur von der einen Kerze, die sie in die Höhe hielt, erleuchtet
wurde.
Der Gang war breit genug, dass die Damen, falls
sie es denn gewünscht hätten, zu dritt nebeneinander hätten
hergehen können, wenngleich der eine oder andere Tisch, an dem sie
vorbeikamen, womöglich ein Ausweichmanöver erforderlich gemacht
hätte. Vasen und Statuen, viele von ihnen zerbrochen oder
umgestürzt, dekorierten die wenigen Möbelstücke. Die
Decke war hoch, die Wände vertäfelt, und überall hingen verstaubte
Spinnweben. Mehr als einmal erschraken die Damen durch das
plötzliche Auftauchen blinder Spiegel, die sie zu beobachten
schienen.
»Vampire?«, keuchte Lady Winnie und schlug sich
die Hand lautstark und dabei eine Puderwolke aufwirbelnd gegen den
Busen. Ängstlich kauerte sie sich hinter ihre zierliche Freundin
und deren Kerze. »Ich trage mein Kruzifix nicht! Und dann habe ich
auch noch mein Täschchen mit dem Knoblauch zu Hause vergessen!
Genau wie meinen Pflock!«
»Beruhige dich, Winnie«, ertönte Lady Mellys
Stimme von hinten. »Ich muss dich wohl kaum daran erinnern, dass es
keine Vampire gibt und dieses lächerliche Kruzifix daher völlig
überflüssig ist. Es ist viel zu groß, außerdem poltert es jedes
Mal, wenn du dich bewegst, gegen dein Dekolleté, dass es wie ein
groteskes Herzklopfen klingt. Abgesehen davon ist es so riesig,
dass es schon gefährlich wirkt.«
»Es soll ja auch gefährlich sein«, erwiderte
Winnie in einem Tonfall, der einem Wimmern ziemlich nahe kam. Sie
hatte nach der Rückseite von Nillys Kleid gegriffen und hielt nun
eine Hand voll Seide in den Fingern. »Zumindest für die
Vampire.«
»Das hier muss für die Untoten das perfekte
Gebäude sein, um sich darin zu verstecken«, erklärte Nilly und
drehte sich mit aufgerissenen Augen zu ihren Freundinnen um. Ihre
Kerze erzeugte einen goldenen Schimmer um ihr Gesicht und erhellte
ihre flaumigen, blonden Locken. »Ich spüre es! Diese Ruhelosigkeit
in der Luft, das Gefühl dunkler Schatten, die sich auf uns
zubewegen … das Schlagen von Fledermausflügeln -«
»Hör auf«, quiekte Winnie, die Nillys Kleid nun
losließ, um sich die Hände auf die Ohren zu schlagen. »Ich weiß
nicht, warum wir überhaupt an diesen düsteren, schrecklichen Ort
gekommen sind. Und warum haben wir uns bloß von diesem netten Mr.
Zavier davongeschlichen?«
Als Melly die Hand auf den plumpen Arm der
Herzogin legte, wäre diese um ein Haar an die von Spinnweben
verhangene Decke gesprungen, doch ihre Stimme war scharf genug, um
die Hysterie ihrer Freundin zu durchdringen. »Du benimmst dich wie
ein törichtes Kind, Winnie. Hör jetzt mit diesem Gejammer auf.
Abgesehen davon war es deine Idee, Mr. Zavier loszuschicken, um
Getränke zu holen, damit wir uns unterdessen davonschleichen und
mit der Schatzsuche beginnen konnten. Jetzt lass mich einen Blick
auf diese Karte werfen, Nilly. Und hör auf, von Vampiren zu faseln.
Ich weiß wirklich nicht, warum wir uns überhaupt von dir anführen
lassen.«
Lady Melisande drängte sich an der panischen
Winnie vorbei, die inzwischen nach ihrem Arm gegriffen hatte und
sich an sie schmiegte wie ein gut sitzendes Korsett.
»Ich höre niemanden sonst«, flüsterte die
Herzogin furchtsam und duckte sich vorsichtshalber. »Wir müssen uns
wirklich weit von den anderen Gästen entfernt haben. Ach, warum
sind wir nur hergekommen? Man wird uns morgen mit aufgerissenen
Kehlen und drei eingeritzten X auf unseren schneeweißen Dekolletés
auffinden.«
Melly hatte sich inzwischen die Karte
geschnappt, die in Wahrheit kaum mehr war als ein grober Grundriss
der Villa. Sie bemühte sich, die große, gewellte Skizze in den
Lichtschein
von Nillys Kerze zu halten, ohne dass sie dabei Feuer fing. »Also,
wie schlimm haben wir uns dank dir verlaufen?«
»Sie werden uns nicht die Kehlen aufreißen«,
beschwichtigte Nilly die Herzogin und ignorierte dabei Mellys
Frage. »Vampire tun so etwas nicht, es sei denn, sie sind sehr
zornig oder aber man widersetzt sich ihnen. Sie beißen ihre Opfer
nur in den Hals oder die Schulter und trinken ihr Blut.«
Winnies Hände zuckten nach oben, um ihren
beunruhigend nackten Hals zu bedecken, während sie mit weit
aufgerissenen Augen in alle Richtungen spähte, so als wollte sie
die ihnen auflauernden Vampire zumindest einmal gesehen haben,
bevor sie angriffen. »Aber -«
»Die Mutter der Freundin der Schwester der Frau
meines Cousins wurde von einem Vampir gebissen«, fuhr Nilly fort,
während sie in die sich vor ihnen erstreckende Dunkelheit starrte.
»Sie sagt, es habe kaum wehgetan; auf gewisse Weise soll es sogar
angenehm gewesen sein.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie es angenehm
sein soll, wenn sich riesige Fangzähne in meinen Hals bohren«,
schniefte Winnie und rempelte dabei gegen einen Tisch. »Allerdings
glaube ich, dass ich auf der Stelle in Ohnmacht fallen und schon
allein deshalb nicht das Geringste spüren würde.«
»Kann ich den Damen vielleicht behilflich
sein?«, ließ sich in diesem Moment eine wohltönende Stimme
vernehmen.
Winnie keuchte auf und drückte dabei Mellys Arm
so fest, dass diese ebenfalls keuchte. »Wa-wa-wa -«, war alles, was
sie herausbrachte.
»Haben Sie keine Angst.« Freundlich lächelnd
trat der Mann näher und streckte dabei die Hand aus, so als wollte
er ihre
Furcht beiseitewischen. Er war nicht mehr jung, sondern eher in
ihrem Alter und machte - in einen staubigen Abendanzug gekleidet
und mit einer eigenen Kerze ausgerüstet - eigentlich einen recht
harmlosen Eindruck. An einem seiner Ärmel hing eine Spinnwebe, was
vermuten ließ, dass auch er auf der Suche nach dem Schatz das Haus
durchstöbert hatte. Der Mann sah nicht besonders gut aus, doch
abgesehen von seinem Schnurrbart - den er sich vermutlich als
Ausgleich für sein fehlendes Kopfhaar stehen ließ - hatte er ein
angenehmes Gesicht. Ganz gewiss erweckte er nicht den Eindruck, als
könnte ihm gleich ein Satz Fangzähne wachsen, mit denen er sich
dann auf sie stürzen würde.
»Wir haben keine Angst«, erwiderte Melly mit
angespannter Stimme, während sie sich aus Winnies Umklammerung zu
befreien versuchte. »Wir sind nur kurz stehen geblieben, um einen
Blick auf die Karte zu werfen. Nehmen Sie auch an der Schatzsuche
teil?«
»Selbstverständlich. Vielleicht kann ich Ihnen
zu Diensten sein? Wollten Sie gerade in den Ballsaal zurückkehren,
wo sich der Rest der Gäste bereits versammelt hat?«
»Sind denn alle anderen schon wieder zurück?
Wurde der Schatz gefunden?« Winnie vergaß ihre Nervosität und trat,
aus jeder Pore Enttäuschung verströmend, auf ihn zu.
Noch bevor er darauf antworten konnte, wurden
sie von lauten Geräuschen abgelenkt. Es klang ganz so, als würde in
nicht allzu weiter Ferne ein Kampf stattfinden. »Was ist das für
ein Lärm? Feiern unsere Mitstreiter am Ende schon die Entdeckung
des Schatzes?«, verlangte Winnie zu erfahren.
»Nein, nein, das denke ich nicht.« Der
kahlköpfige Mann
bot Melly seinen Arm. »Dafür ist es noch zu früh. Bitte erlauben
Sie mir, Ihnen behilflich zu sein. Wenn die Damen mit mir kommen
wollen, werde ich Sie in den Ballsaal zurückgeleiten.«
Mit ihren beiden Freundinnen im Schlepptau ließ
Melly sich von ihm fortführen.
»Aber was, wenn er ein Vampir ist?«, wisperte
Winnie Nilly ins Ohr. »Er könnte sich jeden Augenblick in eine
Fledermaus verwandeln, von oben auf uns herabschießen und sich in
unserem Haar verheddern.«
»Falls er einer ist, wird er uns wahrscheinlich
an irgendeinen geheimen Ort bringen und dort über uns herfallen«,
erwiderte Lady Petronilla mit vor Nervosität schriller Stimme. »Ich
frage mich, ob es wohl ein Schlafzimmer ist, oder ob er uns zu
seinem Sarg führen wird, um zwei von uns darin anzuketten, während
er die dritte beißt.«
Lady Winifred schwankte. »Herfallen? Anketten?
Sarg? Oh, wie konnte ich nur so dumm sein, mein Kruzifix zu Hause
zu lassen!«
»Ich werde ihm anbieten, mich als Erste zu
wählen«, versprach Nilly tapfer. »Möglicherweise besteht für dich
und Melly ja die Chance zu fliehen, während er sich über mich
hermacht.«
»Ein Pflock. Vielleicht finde ich irgendetwas,
das sich als Pflock verwenden lässt. Er muss aus Holz sein, nicht
wahr?«
»Ach, du liebe Güte! Er kann gar kein Vampir sein«, verkündete Nilly
plötzlich.
Winnie, die vor Erleichterung einer Ohnmacht
nahe schien, drehte sich zu ihrer Freundin um. »Nein? Bist du dir
ganz sicher?«
»Er hat eine Kerze dabei. Aber natürlich weiß
jeder, dass Vampire im Dunkeln sehen können. Wozu sollte er also
eine Kerze brauchen? Außerdem ist er nicht hübsch genug, und zwar
nicht einmal annähernd«, fügte sie hinzu. »Und auch nicht groß
genug, würde ich meinen.«
»Oh … ja, nicht groß genug. Und er bräuchte
keine Kerze. Ich bin wirklich froh, dass du so eine Expertin auf
dem Gebiet der Vampire bist, Nilly.« Die Herzogin ging nun mit
flotteren, fast schon beschwingten Schritten weiter.
Lady Petronilla wirkte jedoch nicht ganz so
erleichtert wie ihre Freundin. »Aber natürlich könnte ich mich auch
irren. Schließlich bin ich noch nie einem Vampir begegnet.« Fast
schien es, als würde in ihrer Stimme ein Hauch von Wehmut
mitschwingen.
»Wir müssen uns wirklich schlimm verlaufen
haben«, sagte Lady Melisande gerade so laut zu ihrem Begleiter,
dass auch ihre beiden Gefährtinnen es hören konnten. »Ich kann mich
nicht erinnern, dass wir hier überhaupt entlanggekommen
sind.«
Das Lachen des Gentleman klang freundlich und
ein wenig amüsiert über Mellys Verwirrung. »Nein, natürlich nicht,
Madam. Dies ist ja auch der Weg in den Ballsaal. Oder möchten Sie
lieber sehen, wo der Schatz versteckt ist?«
»Der Schatz?« Lady Winifred eilte nach vorn und
gesellte sich an die andere Seite ihres Führers. »Wissen Sie denn,
wo er ist?«
Er lächelte reumütig. »Ich wollte nicht - tja,
Sie haben mich ertappt. Ich werde Sie hinbringen. Aber Sie müssen
mir versprechen, keiner Menschenseele zu verraten, dass ich es war,
der Ihnen den Weg gewiesen hat.«
»Aber natürlich nicht! Und falls es dort
tatsächlich einen Schatz zu finden gibt, können Sie sicher sein,
dass wir mit Ihnen teilen werden, Sie guter Mann«, sagte Winnie
beschwichtigend. »Abgesehen davon wäre es ganz bestimmt das Beste,
wenn wir uns unverzüglich dort hinbegeben würden, anstatt zuerst in
den Ballsaal zurückzugehen und anschließend wieder herzukommen …
schließlich könnte sonst jemand anders den Schatz vor uns finden.
Und das wäre wirklich eine unschöne Sache.«
»In der Tat. Ihre Logik ist zwar recht
kompliziert, trotzdem aber durchaus - hmm. Wenn ich Sie also
hinführen soll, müssen wir jetzt in diesen Korridor abbiegen«,
erklärte er und eskortierte sie weiter.
Dieser Gang war enger und niedriger als die
anderen, die sie passiert hatten. Er war weder möbliert noch
dekoriert, was darauf hindeutete, dass der Bereich, den sie nun
durchquerten, Teil des Dienstbotentraktes war.
Winnie, der dies nicht entging, hielt es für
eine brillante Tarnung. »Aber selbstverständlich muss der Schatz im
hinteren Teil der Villa sein, den nie jemand betritt.« Wobei sie
natürlich übersah, dass die Zahl der Dienstboten, die den Haushalt
führten, weitaus größer gewesen sein musste als die der
eigentlichen Bewohner.
Nilly war ein Stück hinter ihre beiden, den
Gentleman flankierenden Freundinnen zurückgefallen. Deshalb hörte
niemand ihr leises, überraschtes Keuchen, als sie plötzlich eine
Hand auf ihrer Schulter spürte; man war zu sehr in ein Gespräch
über die Schatzsuche vertieft.
Sie drehte sich um und fand sich einem
hochgewachsenen
Mann mit schwarzem Haar und heller Haut gegenüber, der gekleidet
war, als wollte er ins Theater gehen. Er lächelte, und sie sah sehr
weiße Zähne hinter seinen Lippen aufblitzen.
Seine Augen funkelten rot.
Nilly öffnete den Mund, um zu schreien, dann
besann sie sich eines Besseren. Sie schloss die Augen und drehte
den Kopf zur Seite, sich dabei der Tatsache vollkommen bewusst,
dass zwischen ihrem hochgesteckten Haar und dem tiefen Ausschnitt
ihres Kleides jede Menge nackter Haut frei blieb. Mit angehaltenem
Atem ließ sie die Kerze fallen, dann hörte sie, wie sie auf dem
Holzboden davonrollte.
Ihre Haut kribbelte, während sie wartete, ihre
Venen pochten leise, und ihr Herz hüpfte in ihrer flachen Brust auf
und ab. Dann veränderte sich die Atmosphäre, und sie hörte etwas,
das wie ein Stoß klang, gefolgt von einem seltsamen Ploppen und
einem leisen Zischen.
Anschließend fragte eine angenehme, samtige
Stimme: »Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Madam?«
Nilly öffnete die Augen. Der Mann, der vor ihr
stand, war nicht länger dunkelhaarig und bleichgesichtig; und er
hatte auch keine rotglühenden Augen.
Mit seinem gelockten, lohfarbenen Haar, das im
Schein seiner Kerze wie Karamell schimmerte, war er nicht minder
attraktiv, jedoch auf eine andere, goldene Weise. Er sah sie mit
einer hochgezogenen Braue und einem amüsierten Zug um seinen
sinnlichen Mund an.
»Ich … Sie … er...«
»Er ist fort, und Sie sind jetzt in Sicherheit,
Madam. Oder sollte ich lieber Mademoiselle sagen?« Er schenkte ihr
ein bezauberndes
Lächeln. »Aber was tut eine anmutige Dame wie Sie -«
»Nilly!«
Ihre Aufmerksamkeit wurde wieder auf den
dunklen, schmalen Korridor gelenkt, in dem das Rascheln von
Kleidern und das Knistern von Papier ihre beiden Freundinnen
ankündigten, deren Begleiter jedoch nirgends zu sehen war.
»Ach!«, jammerte Nilly sichtlich
enttäuscht.
»Warum trödelst du herum?«, verlangte Melly zu
wissen. »Wie wir inzwischen festgestellt haben, kann man sich in
diesem riesigen Haus nur allzu leicht verirren.«
»Außerdem hältst du uns bei unserer Schatzsuche
auf«, ergänzte die Herzogin. »Ich schwöre, dass ich es dir nie
verzeihen werde, Petronilla, falls wir wegen deiner Bummelei zu
spät kommen.«
»Lasst uns jetzt weitergehen. Der freundliche
Gentleman wartet auf uns.« Melly zeigte den Gang hinunter in die
Dunkelheit.
»Wo ist denn deine Kerze? Jetzt haben wir nur
noch eine einzige Lichtquelle, und du weißt doch, wie schlecht ich
im Dunkeln sehe«, schimpfte Winnie. »Wenn Rudgers das Feuer nicht
brennen lässt, kann ich nachts selbst in meinem eigenen
Schlafzimmer kaum die Hand vor Augen erkennen.«
Nilly drehte sich zu dem goldhaarigen Mann um
und stellte fest, dass er verschwunden war. Sie öffnete den Mund,
dann klappte sie ihn lautlos wieder zu.
Es gab nicht den leisesten Hinweis darauf, dass
auch nur einer der beiden Männer je hier gewesen war, abgesehen von
ihrer Kerze, die auf den Boden gefallen und bei der Landung
ausgegangen war, und eines kleinen Aschehäufleins, das sie zuvor
nicht bemerkt hatte. »Aber …« Nilly gab den Versuch auf, etwas zu
sagen, und schloss sich mit einem letzten Blick über ihre Schulter
den anderen an.
»Ich frage mich, ob Victoria inzwischen zu der
Party zurückgekehrt ist«, bemerkte Melly plötzlich, während sie und
ihre Gefährtinnen zu der Abzweigung zurückliefen, an der sie,
nachdem ihnen aufgefallen war, dass Nilly ihnen nicht mehr folgte,
den Gentleman zurückgelassen hatten.
»Ich hoffe, dass sie diesen netten Mr. Zavier
gefunden hat«, meinte Nilly, die die Kontrolle über ihr
Sprachzentrum endlich zurückerlangt hatte. »Vielleicht lernen sich
die beiden ja näher kennen.«
»Das möchte ich ganz gewiss nicht hoffen.« Lady
Winifreds Haltung wurde so steif, als ob Nilly eben vorgeschlagen
hätte, dass Victoria sich in einen Vampir verlieben solle. »So
freundlich er auch sein mag, er ist doch viel zu ungehobelt und
unrasiert, außerdem ist er unserer Marquise standesmäßig
unterlegen. Immerhin ist sie von einer bloßen Tochter aus gutem
Hause zur Gattin des Marquis von Rockley - möge er in Frieden ruhen
- aufgestiegen, und da wollen wir doch nicht, dass sie künftig in
irgendeiner kalten, zugigen Burg in Schottland lebt. Wo vermutlich
Vampire herumschleichen -«
»Meine Damen«, rief ihnen der Gentleman entgegen
und winkte sie dabei zu sich. »Sind wir wieder vollzählig?«
»Das sind wir, Sir. Bitte führen Sie uns
weiter«, erwiderte Melly, der es recht genehm war, dass sie
einander bislang noch nicht vorgestellt hatten.
Als sie gerade zu ihm aufgeschlossen hatten, kam
plötzlich
eine hübsche blonde Frau aus einem angrenzenden Gang auf sie
zugestürzt. Der Mann drehte sich überrascht um, als die junge Frau
auch schon nach seinem Arm griff, um ihn von den drei Damen
wegzuziehen. »Endlich! Ich habe schon die ganze Villa nach dir
abgesucht!« Dann wurde ihre Stimme sehr leise, aber es klang, als
sagte sie irgendetwas über einen … Senator?
»Hoffentlich besteht diese ungezogene junge Dame
nicht darauf, uns zu begleiten«, zeterte Winnie mit einem finsteren
Blick zu den beiden, die sich inzwischen so weit entfernt hatten,
dass sie nicht mehr hören konnte, was sie sprachen. Denn trotz
ihrer Klagen über ihr schwaches Sehvermögen funktionierten
zumindest Winnies Ohren bestens. Was konnte an einem römischen
Senator schon so wichtig sein, dass diese Gans deshalb ihre
Schatzsuche stören musste?
Dann ertönte von hinten das Geräusch schwerer,
hastiger Schritte. Sie drehten sich um und entdeckten Zavier, der
eilig auf sie zugelaufen kam. Er war in Begleitung eines zweiten
Gentleman - der Winnie und Melly fremd, Nilly hingegen durchaus
vertraut war, denn immerhin hatte der attraktive Blondschopf ihr
Tête-à-tête mit dem dunkelhaarigen, blasshäutigen Mann
verhindert.
»Da sind Sie ja!«, rief Zavier erleichtert aus.
Seine Wangen waren so stark gerötet, dass es selbst in dem
spärlichen Licht auffiel, außerdem hielt er etwas in der Hand -
etwas Langes, Dünnes und Spitzes -, aber Nilly war die Einzige, die
es bemerkte, bevor er das Ding in seine Jackentasche schob. »Wir
müssen jetzt gehen«, verkündete er mit einem Blick in die
Runde.
Der blonde Mann, der nun ebenfalls zu ihnen
getreten war,
spähte in die Dunkelheit hinter ihnen. Aber als die Damen seinem
Beispiel folgten, mussten sie feststellen, dass ihr Führer und die
junge, blonde Frau verschwunden waren.
»Wir hatten den Schatz schon fast gefunden«,
beschwerte sich die Herzogin, als Zavier ihr seinen Arm anbot. »Wir
können jetzt nicht einfach gehen.«
»Ich bedaure, doch der Schatz wurde bereits
entdeckt, und es ist höchste Zeit, die Villa zu verlassen. Alle
anderen Gäste sind längst fort«, erklärte der blonde Mann mit der
samtigen Stimme.
»Und was ist mit Victoria?« Lady Melly nahm
Zaviers anderen Arm, dann warf sie noch einmal einen Blick nach
hinten, um herauszufinden, wo um alles in der Welt der Gentleman
abgeblieben sein mochte, der sie hierher gebracht hatte. »Wie
irritierend, dass er einfach so verschwunden ist«, murmelte sie.
»Er war recht charmant, und ich habe noch nicht einmal seinen Namen
erfahren.«
»Victoria hat mir für einige Zeit im Salon
Gesellschaft geleistet, dann ist sie, in dem Glauben, dass Sie dies
ebenfalls getan hätten, nach Hause gefahren. Nachdem Sie
verschwunden waren -« Mr. Zavier musterte Winnie mit grimmigem
Blick, den sie mit allem Hochmut, den sie zustande brachte,
erwiderte, »- ist sie mit ihrem reparierten Schuh zurückgekehrt und
war dann ziemlich enttäuscht, als sie feststellen musste, dass Sie
ohne sie gegangen waren. Aber kommen Sie nun, meine Damen, wir
sollten uns besser auf den Heimweg machen.«
»Erlauben Sie?« Der blonde Gentleman reichte
Nilly seinen Arm, dann geleitete er sie zügig den Korridor
zurück.
Sollten sich die beiden Herren hin und wieder
nach hinten
umgesehen haben, so fiel es den Damen nicht auf; sie waren viel zu
sehr darauf konzentriert, mit den langen, flotten Schritten ihrer
Begleiter mitzuhalten.
»Aber dies ist nicht der Weg, auf dem wir
hereingekommen sind«, protestierte Lady Melly, als sie eine kleine,
unscheinbare Tür erreichten, bei der es sich keinesfalls um den
prunkvollen Haupteingang handelte, durch den man sie eingelassen
hatte.
Die Nachtluft war frostig, und der Halbmond
schien auf sie herab, als sie die Villa verließen und auf … Gras
traten.
»Meine Schuhe«, quiekte Nilly und hüpfte dabei
auf komische Weise von einem Fuß auf den anderen. »Sie sind
ruiniert!«
»Kommen Sie weiter«, befahl Mr. Zavier. Er
führte sie an der düsteren Hausmauer entlang zum vorderen Teil des
Gebäudes, wo ihre Kutsche wartete.
Beim Einsteigen wurden die Damen von ihren
knackenden Gelenken daran erinnert, dass sie sich wegen des
Karnevals und all der anderen aufregenden Ereignisse während der
letzten Woche kaum ausgeruht hatten. Außerdem fiel ihnen auf, dass
außer ihrer Kutsche keine andere zu sehen war. Nachdem Mr. Zavier
ihnen hineingeholfen hatte, folgte er mit einem geschmeidigen Satz
und schlug dabei die Tür hinter sich zu.
Er klopfte energisch gegen das Dach, dann lehnte
er sich, von wallenden Röcken und keuchenden Damen umringt, in
seinem Sitz zurück. Auch wenn es ihm nicht besonders behagte, von
so viel Weiblichkeit umgeben zu sein, er hatte nun mal seine
Pflicht zu erfüllen.
Dass der blonde Gentleman verschwunden war,
bemerkte
das Trio erst, als die Kutsche bereits von der Straße abbog, an
der die Villa lag.
Tatsächlich konnte sich keine der Damen daran
erinnern, ihn nach dem Verlassen der Villa noch einmal gesehen zu
haben.
»Ich fasse es einfach nicht.« Empört starrte
Winnie durch das Rückfenster der Kutsche. »Dieser Lump! Er hat uns
mit einem Trick dazu gebracht zu gehen, damit er sich den Schatz
selbst holen kann.«
Die drallen Ellbogen vor der ebenso drallen
Brust verschränkt, richtete sie den Blick wieder nach vorn, dann
brütete sie den ganzen restlichen Weg zur Villa Gardella wortlos
vor sich hin.