Kapitel 17
In welchem nach einem ereignisreichen Abend die Vorzüge italienischer Desserts erörtert werden
Victoria zog den Pflock aus ihrer Tasche, dann huschte sie entlang der Mauer in Richtung Villa Palombara.
Die Kälte in ihrem Nacken war noch nicht beunruhigend intensiv; sie schätzte, dass nicht mehr als drei Untote in der Nähe waren. Ob es sich bei einem von ihnen um Regalado in Begleitung ihrer Mutter handelte, würde sie bald herausfinden. Innerlich betend, versuchte sie den furchtbaren Gedanken beiseitezuschieben, dass er hier sein könnte … während sie gleichzeitig befürchtete, dass er es nicht wäre.
Mit festem Griff ihren Pflock umklammernd, schlüpfte sie zwischen einen dornigen Strauch und die alte Mauer und spähte um die Ecke. Es war inzwischen so düster geworden, dass sie kaum mehr als blaue, graue und schwarze Schatten erkennen konnte. Doch dann bemerkte sie in einiger Entfernung ein schwaches, rotes Glühen: Vampiraugen.
Dann verschwand es wieder. Entweder hatte sich die Kreatur abgewandt, oder aber sie versteckte sich. So oder so würde Victoria den Untoten nicht davonkommen lassen. Sie bewegte sich so schnell und leise vorwärts, wie die tropfenden Zweige und das feuchte Gras es zuließen, während sie weiterhin angestrengt in die Finsternis starrte und sich dabei wünschte, zu den speziellen Fähigkeiten der Venatoren würde auch eine gute Nachtsicht gehören.
In der Ferne schrie eine Frau - oder zumindest versuchte sie das, bevor der Laut unverzüglich erstickt wurde -, was Victoria dazu veranlasste, sich nun zügiger und unvorsichtiger durch das Gebüsch zu kämpfen. Es hatte nicht nach Melly geklungen. Andererseits hatte Victoria ihre Mutter erst einmal schreien hören, und zwar als eine Maus die Frechheit besessen hatte, über ihren Frisiertisch zu trippeln.
Sie schlich weiter auf die Kampfgeräusche zu, ohne sich zu gestatten, darüber nachzudenken, was sie dort finden würde.
Einen Schritt nach dem anderen. Eine Schlacht nach der anderen.
Sie rannte über zugewachsene Wege und unter nicht zurückgeschnittenen Bäumen hindurch, zwischen dem ausladenden Gebäude und der hohen Mauer entlang, die das gesamte Anwesen umschloss, bis sie die Vorderseite des Hauses erreichte. Weitere Schreie und Rufe ließen sie ihr Tempo noch weiter beschleunigen, sodass sie, als sie die Front der Villa schließlich erreichte, um ein Haar über eine Bank gestolpert wäre, die von der Dunkelheit verborgen wurde.
Sie konnte gerade noch rechtzeitig ausweichen, um sich nicht das Bein anzuschlagen, dann blieb sie schwer atmend stehen und starrte zu der Gruppe von Schemen, die sich vor ihr bewegten. Sie waren zu undeutlich, als dass Victoria hätte erkennen können, ob es sich bei einer der miteinander ringenden Gestalten um ihre Mutter handelte. Sie zählte insgesamt sechs: drei rote Augenpaare - purpurrote; zum Glück war es nicht das Rosarot von Wächtervampiren oder das Violettrot von Imperialen - und dann die drei bleichen, verängstigten Gesichter ihrer Opfer, die wie wild um sich schlugen, während sie zum Vordereingang der Villa gezerrt wurden. Scheinbar waren sie gerade erst eingetroffen.
Victoria verließ ihre Deckung und stürzte auf einen der rotäugigen Vampire zu. Die Untote sah überrascht auf, dann wechselte ihre Miene von Entzücken zu Entsetzen, als sie den Pflock in Victorias Hand bemerkte. Sie ließ ihr Opfer los, stürmte nach vorn, blockte die Abwärtsbewegung des Pflocks mit dem Unterarm ab und packte Victorias Handgelenk.
Victoria verfluchte sich selbst dafür, dass sie auf eine so unoriginelle Taktik hereingefallen war, und wechselte den Pflock in ihre freie Hand. Dann riss sie die Vampirfrau mit der anderen an sich und pfählte sie von hinten.
Die Untote zerfiel zu Staub, der auf Victorias Arm rieselte, während diese sich auf dem matschigen Untergrund schnell umdrehte, um es mit den anderen aufzunehmen. Ihr Fuß rutschte weg, doch sie konnte sich gerade noch rechtzeitig unter dem Hieb eines männlichen Untoten hinwegducken, bevor sie ein weiteres Mal herumschoss, um ihr Ziel von hinten zu treffen und ihm den Pflock in den Rücken zu stoßen.
Während der Vampir noch in einer Aschewolke zerstob, gab der dritte sein Opfer frei, indem er die schluchzende Frau brutal zu Boden stieß. Als er sich Victoria zuwandte, sah sie, dass er einen langen, abgebrochenen Ast in der Hand hielt. Er ließ ihn mit einer kraftvollen Bewegung blitzschnell durch die Luft sausen und traf dabei Victorias Schulter mit solcher Wucht, dass sie zurücktaumelte.
Doch sie fiel nicht hin, sondern fing sich an einem nassen, dornigen Busch ab, als im selben Moment Verbena und Lady Winnie auf die Bildfläche gestürmt kamen. Die nachfolgenden Geschehnisse spielten sich dann so schnell ab, dass Victoria kaum etwas davon mitbekam. Das Nächste, was sie bewusst registrierte, war, dass ihr Ziel von den weiten Röcken, die das Hinterteil der Herzogin von Farnham umwogten, verdeckt wurde. Dann folgte ein plötzliches, schmerzerfülltes Kreischen des Vampirs … ein Tumult von Bewegungen … ein schmatzendes Geräusch … und dann, wie aus heiterem Himmel … das altvertraute Fft!, als der Untote zu Staub zerfiel.
Anschließend war nichts mehr zu hören außer dem leisen Weinen der Frau, bei der es sich leider nicht um Lady Melly handelte, und den keuchenden Atemzügen der anderen Beinahe-Opfer: ein Mann und eine zweite Frau, die, ihrer Aufmachung nach zu urteilen, irgendeine Abendveranstaltung hatten besuchen wollen.
Victoria lief zu der Stelle, wo der letzte Vampir niedergestreckt worden war, und fand dort Lady Winnie, die ihr handgroßes Kruzifix an ihren kissenweichen Busen drückte. »Ich … er …« Sie nieste, und ihre kleinen Schweinsäuglein traten wie schimmernde Murmeln aus den Höhlen.
»Ich hab Ihnen doch gesagt, dass Sie sie ins Herz stechen müssen und nicht ins Auge!«, tadelte Verbena mit in die Hüften gestemmten Händen und hoch erhobenem Kinn die Herzogin. »War ein ziemliches Glück, dass ich Ihr Kruzifix gesehen habe und die Chance bekam, ihn mit dem hier zu übergie ßen.« Sie hielt ein kleines Fläschchen hoch, von dem Victoria wusste, dass es Weihwasser enthalten hatte.
Eine sehr nützliche Flüssigkeit, die Victoria nur leider allzu oft mitzunehmen vergaß, wenn ihre Zofe sie nicht daran erinnerte.
»Ihr müsst jetzt gehen«, sagte Victoria bestimmt. »Ich werde Lady Melly finden, falls sie hier ist, und ihr könnt eine weitere gute Tat vollbringen« - sie warf Verbena einen tadelnden Blick zu -, »indem ihr diesen armen Leuten dabei helft, sicher nach Hause zu gelangen.«
»Aber du kannst nicht alleine hierbleiben«, widersprach Lady Winnie. Sie hatte ihre Atmung wieder unter Kontrolle und zeigte sich so starrköpfig wie eh und je. »Das ist viel zu gefährlich! Auch wenn es tatsächlich überhaupt nicht schwierig ist, diese Monster zu pfählen, kann ich dich nicht guten Gewissens allein hier zurücklassen.«
Victorias Ungeduld verstärkte sich immer mehr, zusammen mit ihrem panischen Bedürfnis, von diesen schwatzhaften Frauen wegzukommen und ihre Mutter zu suchen.
Sie wünschte, sie hätte Eustacias goldenes Pendel mitgenommen, das dazu diente, unerwünschte Erinnerungen bei Personen auszulöschen, die nichts mit ihrer Welt zu tun haben sollten - wie zum Beispiel bei Möchtegern-Vampirjägern oder Beinahe-Opfern der Untoten. Solch ein Hilfsmittel würde ihr jetzt überaus gelegen kommen; andererseits hätte es sie noch mehr kostbare Zeit gekostet, das Pendel einzusetzen.
Keine Zeit. Sie durfte keine Zeit mehr verlieren.
»Ihr müsst jetzt gehen«, insistierte Victoria barscher, als sie jemals zuvor mit Winnie gesprochen hatte. »Nehmt diese Leute mit und geht, bevor euch noch etwas zustößt.«
»Victoria!« Winnie klang nicht nur überrascht, sondern auch überaus aufgebracht. »Wie kannst du es wagen -«
»Ich wage es, weil ich muss!« Überwältigt von Frustration, Angst und Zorn wandte Victoria sich von der dicklichen Herzogin ab. Ihr ganzes Denken war auf die Frage konzentriert, wo ihre Mutter sein mochte und was Regalado ihr inzwischen womöglich antat. Zwar war ihr Nacken nun nicht mehr kalt, doch das verhieß nichts Gutes. Es bedeutete, dass keine Vampire mehr in der Nähe waren, also war Regalado entweder nicht mehr in der Villa, oder er war so tief in ihr verborgen, dass sie seine Präsenz nicht mehr spüren konnte.
Victoria wollte ihnen gerade wieder befehlen zu gehen, als ihr mit einem Mal bewusst wurde, dass Lady Nilly nicht bei ihnen und auch sonst nirgendwo zu sehen war. Sie drehte sich vor den Augen der sie fassungslos angaffenden Herzogin im Kreis, um die Umgebung mit den Augen abzusuchen, doch von Lady Petronillas stockdürrer Gestalt fehlte weit und breit jede Spur.
»Nilly!«, rief sie und tauchte dabei tiefer in die Dunkelheit ein. Ihr Nacken war nicht kalt, also konnte sie nicht …
Lady Winnie und Verbena stürmten einer vierspännigen Kutsche gleich an Victorias Seite durch das Unterholz. Doch sie mussten glücklicherweise nicht lange suchen, denn schon wenige Meter weiter in Richtung Magischer Tür kam ihnen Lady Nilly entgegengelaufen. Dünn und bleich schimmerte sie wie eine Mondsichel in der dunkelgrauen, lediglich von schwarzen Schatten durchbrochenen Nacht.
»Nilly!«, kreischte Winnie und drängte sich mit gezücktem Pflock an Victoria vorbei. »Wie kannst du es wagen, uns einen solchen Schrecken einzujagen?«
Aber irgendetwas stimmte nicht. Victorias Hände wurden eiskalt, als sie die dunklen Male an Nillys Hals sah.
»Sie wurde gebissen«, erklärte sie, noch bevor Verbena die Chance bekam, auch nur den Mund aufzumachen.
Nillys Augen waren geweitet und glasig, ihre Lippen zu einem leisen Lächeln verzogen. Ihr Haar, das sie normalerweise zu einem straffen Knoten an ihrem Hinterkopf aufgesteckt trug, flankiert von zwei präzisen, von ihren Schläfen herabhängenden Locken, fiel ihr nun offen über die Schultern.
»Nilly!« Noch bevor Victoria zu ihr gelangen konnte, hatte Winnie ihre Freundin schon an den Armen gepackt und schüttelte sie unsanft. Zu jedermanns Erleichterung flackerte Erkennen in Lady Nillys Augen auf.
Ihre Lippen teilten sich, hoben sich an den Mundwinkeln, und sie seufzte. »Ja«, lächelte sie. »Bitte entschuldige, Winnie«, fügte sie hinzu und streckte die Hand nach ihrer Freundin aus.
»Nicht«, befahl Victoria scharf. Soweit sie wusste, konnte ein Mensch nicht derart schnell in einen Vampir verwandelt werden. Der Untote musste zuerst einen Großteil des Blutes seines Opfers trinken und ihm dann sein eigenes, vergiftetes, anbieten, um den Verlust auszugleichen. Anschließend würde das Opfer bewusstlos werden und dann als Untoter erwachen. Ganz gewiss war nicht genügend Zeit verstrichen, als dass Lady Nilly dieses Schicksal ereilt haben könnte.
Trotzdem würde Victoria kein Risiko eingehen. Aber noch bevor sie weitersprechen konnte, hatte ihre Zofe schon eine zweite Weihwasserphiole aus ihrer Tasche gekramt. Falls Lady Nilly vor Schmerz kreischen sollte, sobald Verbena es auf ihr Fleisch schüttete, würde Victoria wissen, dass für die Freundin ihrer Mutter jede Hilfe zu spät kam.
Ihre Mutter. Großer Gott.
Victoria entriss Verbena das Weihwasser und spritzte es auf den verwundeten Hals der älteren Dame. Diese schrie zwar auf, allerdings eher überrascht und entrüstet denn schmerzgepeinigt.
Dem Himmel sei Dank.
»Bringt sie nach Hause. Jetzt gleich.« Sie sah erst Verbena, dann Winnie an, und beiden schien klar zu sein, dass sie keine Widerrede dulden würde. »Ist Oliver hier?«
»Ich hab ihm gesagt, er soll bei der Kutsche warten«, erwiderte Verbena, während sie den Rückweg antraten. »Er wollte eigentlich mitkommen, aber ich hab ihm erklärt, dass es besser wäre, wenn jemand dort wartet. Für den Fall, dass wir wie der Blitz verschwinden müssen.«
Als sie sich der Vorderseite der verlassenen Villa näherten, war Victorias Nacken noch immer nicht kalt. Die drei Sterblichen, die sie vor den Vampiren gerettet hatten, kauerten in einer Ecke des Tores. Einer der Frauen entfuhr ein lautes Stöhnen, als Victoria mit ihren Begleiterinnen in Sicht kam, doch sie schenkte ihr keine Beachtung.
»Das Tor ist verschlossen«, verkündete Verbena, sobald sie es erreicht hatte.
»Geh zur Seite.« Victoria merkte selbst, dass sie mit ihren kurzen, barschen Befehlen ironischerweise langsam wie Max zu klingen begann, aber sie hatte jetzt keine Zeit für gute Manieren. Sie trat zum Tor, musterte das Metallschloss, das offensichtlich zugesperrt worden war, nachdem Verbena und die beiden Damen es passiert hatten, dann begann sie, daran zu ziehen.
Das war der Moment, in dem sie die heranrollende Kutsche hörte und ihr Nacken plötzlich kalt wurde.
Eine Sekunde lang blieb sie wie erstarrt stehen, dann bedeutete sie den anderen mit einem knappen Winken, in Deckung zu gehen. Vielleicht, nur vielleicht …
Mit angriffsbereit erhobenem Pflock glitt sie in die Dunkelheit und wartete.
Als die Kutsche vor dem Tor holpernd zum Stehen kam, spendete ihre Laterne ein schwaches Licht, das durch die Eisenstangen fiel. Victorias Puls begann zu rasen. Es war durchaus möglich.
Mit verkrampften Fingern und angehaltenem Atem starrte sie weiter zum Tor.
Geräusche wurden laut, als jemand aus der Kutsche stieg - dem leisen Rascheln und Knistern von Stoff nach zu urteilen, musste es eine Frau sein - und gaben Victorias Hoffnung neue Nahrung. Falls es wirklich ihre Mutter war und sie noch immer …
Ein Kichern, das so kokett klang, dass sie es niemals mit Lady Melly in Verbindung gebracht hätte, ertönte in der Dunkelheit, und eine Welle der Erleichterung spülte über Victoria hinweg. So seltsam sie auch klingen mochte, es war definitiv ihre Mutter.
Das Schloss quietschte, und Victoria drängte sich enger gegen die feuchtkalte Wand, wobei sie plötzlich merkte, dass ihre Zehen sich in ihren durchnässten Schuhen wie kleine Eisstücke anfühlten; aber sie verschwendete keinen Gedanken daran. Ihre Mutter war hier.
Nur noch ein kurzer Augenblick …
Die Kette wurde gelöst, und das Tor schwang auf. Dann kam ihre Mutter in Sicht - am Arm von niemand Geringerem als Conte Regalado. Sie wirkte wie eine verliebte junge Frau, die einen Spaziergang mit ihrem Verehrer - dessen Glatze im Dämmerlicht glänzte - unternahm.
Noch bevor Victoria sich auch nur rühren konnte, drängte sich etwas - besser gesagt jemand - in einer bauschigen Wolke spitzenbesetzter Röcke und mit einem unhandlichen Pflock herumfuchtelnd an ihr vorbei.
»Lassen Sie sie sofort los!«, herrschte Lady Winnie ihn an, so als wäre sie eine Aufsichtsdame im Almack’s, die gerade einem Mann untersagte, ein drittes Mal mit derselben Debütantin zu tanzen.
Regalado wandte sich mit einem jähen, charmanten Lächeln, bei dem seine weißen Zähne aufblitzten, der Herzogin zu. »Also, wenn das nicht Ihre Freundin ist, liebste Melly. Sind Sie gekommen, um sich uns anzuschließen?«
Ihre Mutter erlaubte ihm, sie beim Vornamen zu nennen? Jetzt schon?
Victoria schüttelte angesichts der Absurdität des Gedankens den Kopf; vielleicht war ihre große Erleichterung darüber, dass ihre Mutter unverletzt und am Leben war, der Auslöser für derart banale Überlegungen. Immerhin waren sie nicht mehr in London, und ganz bestimmt hatten sie im Moment ganz andere Sorgen als die Einhaltung von Anstandsregeln.
»Winnie! Grundgütiger! Was tust du denn hier?«
»Nun, meine Liebe, wir waren ein wenig in Sorge«, erwiderte die Herzogin mit ruhiger Stimme und versteckte dabei den Pflock hinter ihren Röcken.
Victoria sah keinen Grund, abzuwarten, bis die anderen die Situation in höflichen Worten erörtert hatten. Sie trat aus der Dunkelheit. Als Regalado sie entdeckte, wurde sein Lächeln um eine Nuance schärfer.
»Guten Abend, Conte«, begrüßte Victoria ihn. »Mutter.«
»Victoria!« Melisandes Stimme klang verständlicherweise schrill und fassungslos. »Was hat das alles zu bedeuten?«
Victoria blieb nichts anderes übrig, als sie fürs Erste zu ignorieren, auch wenn sie wusste, dass sie später dafür büßen würde. Ihr klingelten schon jetzt die Ohren, wenn sie nur daran dachte. Falls sie Wayren nicht dazu überreden konnte, Eustacias goldenes Pendel zu benutzen, würde das, was sie anschließend sagen und tun musste, ihre Mutter weit mehr schockieren als ihr unerwartetes - und undamenhaftes - Auftauchen.
Doch für den Moment musste sie sich kurz fassen, denn sie hatte weder das Verlangen noch die Geduld, sich in langen Erklärungen und unvermeidlichen Diskussionen zu ergehen. »Regalado, da Sie Ihre Fangzähne bislang von meiner Mutter ferngehalten haben und sie offenbar einen wunderbaren Nachmittag in Ihrer Gesellschaft verleben durfte, werde ich so großzügig sein, Ihnen die Wahl zu lassen: Geben Sie sie frei, oder ich verwandle Sie in einen Haufen Asche.«
Regalado sprang beinahe von Melly weg in seinem Eifer, Victorias Befehl nachzukommen. »Aber selbstverständlich, meine Liebe. Natürlich. Nichts für ungut. Ihre Mutter ist eine sehr charmante und bezaubernde Dame, das muss ich schon sagen. Ich hatte wirklich nichts Böses im Sinn.«
Victorias Augen wurden schmal. Das lief ein bisschen zu glatt. Aber das Kältegefühl in ihrem Nacken war noch immer ziemlich schwach - es stand genau im Einklang mit Regalados Präsenz -, und sie roch auch nicht den widerwärtigen, modrigen Verwesungsgestank eines Dämons.Vielleicht war der Mann ja einfach nur noch immer derselbe verachtungswürdige, oberflächliche Feigling, der er vor seiner Vampirwerdung gewesen war.
Obwohl die Seele in ihrer untoten Form zu purer Bösartigkeit mutierte, unterzog sich die an sie geknüpfte Persönlichkeit offensichtlich keinen nennenswerten Veränderungen.
»Victoria, wie kannst du es wagen!« Lady Melly griff nach Regalados Arm, so als wollte sie erneut ihren Besitzanspruch auf den Mann anmelden. »Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist, allerdings bist du schon seit deiner Ankunft in Rom nicht mehr du selbst. Es will mir einfach nicht in den Sinn, was du durch deine Einmischung zu erreichen hoffst -«
Während ihre Mutter ihre Standpauke fortsetzte, sehnte Victoria sich erneut verzweifelt nach Eustacias Pendel.
Dabei war es pure Ironie, dass Lady Melly vor vielen Jahren selbst zum Venator berufen worden war. Sie hatte die Verpflichtung abgelehnt und sich stattdessen dazu entschlossen,Victorias Vater zu heiraten. So war alles Wissen über Vampire und Venatoren aus ihrem Gedächtnis gelöscht worden, und ihre Tochter hatte später all ihre venatorischen Fähigkeiten und Instinkte übernommen.
Selbst Regalado, so kriecherisch und schmierig er auch sein mochte, reagierte mit leichtem Befremden auf Lady Mellys klettenhaftes Verhalten. Er versuchte, sich ihr zu entziehen, während er Victoria weiterhin nervös beobachtete.
Am Ende war es fast schon ein Segen, als zwei weitere Vampire auftauchten. Hätte sich die Situation weiter in diese Richtung entwickelt, wäre es schwierig geworden für Victoria, ihre Mutter von dem unpassendsten aller möglichen Heiratskandidaten wegzulotsen.
Doch nun setzte das Erscheinen der beiden Untoten - bei denen es sich offensichtlich um Regalados Kutscher handelte sowie eine Frau, die ironischerweise als Anstandsdame fungiert zu haben schien - die nächsten Ereignisse in Gang.
Ohne zu ahnen, in welche Situation sie da platzten, stürzten sich die Neuankömmlinge mit gebleckten Fangzähnen und rot glimmenden Augen auf sie. Das Ganze endete nur wenige Minuten später nach einem chaotischen Wirrwarr aus Spitze, Seide und nassen Federn (auf Lady Mellys Hut, nachdem sie mit dem Gesicht voran in einen Busch geschubst worden war), Pflöcken von unterschiedlicher Größe und Tauglichkeit, jeder Menge verpuffender, grunzender Laute und dem Klappern schwerer Silberkreuze. Das Resultat bestand in zwei Häufchen Vampirasche, drei Beinahe-Opfern, die noch immer an einer Wand kauerten, und einer entrüsteten Witwe, die hastig zu Oliver und seiner Kutsche eskortiert wurde. Dann sah man die flappenden Rockschöße des Conte Regalado, als dieser die Vordertreppe der Villa hinaufstürmte.
Victoria, die noch nicht einmal außer Atem geraten war, fühlte sich rundherum gut und zutiefst befriedigt. Auf Verbenas Gesicht lag ein selbstgefälliges Lächeln, und irgendwie hatte ihre Herrin das Gefühl, dass der arme Oliver, der dazu abkommandiert worden war, bei der Kutsche zu warten, nie die Details ihres Abenteuers erfahren würde.
»Entschuldigt mich einen Moment«, sagte Victoria zu niemandem im Besonderen, während sie gleichzeitig die Tür musterte, durch die der Graf soeben verschwunden war. Falls er annahm, dass sie ihn auch nur einen weiteren Tag am Leben lassen würde, damit er ihrer Mutter den Hof machen konnte, so irrte er sich ganz gewaltig. »Lasst die Kutsche bitte warten.«
Sie schlüpfte davon, während der Rest einer nach dem anderen einstieg, wobei Lady Melly noch immer mit schriller Stimme ihrem Unmut über die Welt im Allgemeinen und ihre Tochter im Besonderen Luft machte. Sie hatte nicht sehen können, was mit den Vampiren geschehen war, denn als sie sich endlich aus diesem unglückseligen Busch befreit hatte, waren sie längst zu Staub zerfallen.
Victoria plante, die Unwissenheit ihrer Mutter zu vervollständigen, indem sie so bald wie möglich das goldene Pendel benutzte.
Aber zuvor musste sie sich noch um den Conte kümmern.
Es fiel ihr nicht schwer, Regalado aufzuspüren. Geleitet von dem Irrglauben, Victoria habe ihn einfach ziehen lassen - sozusagen als freien Untoten -, war er nicht weit in die Villa hineingegangen, sondern beobachtete stattdessen durch ein Seitenfenster, wie Oliver den Damen in die Kutsche half.
»Neugier ist der Katze Tod«, bemerkte sie, als er sich zu ihr umdrehte. Dann stieß sie ihm den Pflock in die Brust. »Und die des Vampirs ebenfalls.« Er implodierte zu einem nicht besonders bemerkenswerten Aschehäuflein.
Um zu gewährleisten, dass sie alle sicher nach Hause zurückkehrten, zwängte Victoria sich zu Lady Winnie, ihrer schmollenden Mutter und einer verträumt dreinblickenden Nilly in die Kutsche.
Zwei der anderen Beinahe-Opfer - eine Miss Anne Malloren und eine Mrs. Stefania Faygan, beides Amerikanerinnen - stiegen ebenfalls mit ein. Ihr männlicher Begleiter zog es vor, zusammen mit Verbena und Oliver auf dem Kutschbock zu fahren, während Victoria eingezwängt zwischen einem Wust von Röcken saß und zur Zielscheibe der mörderischen Blicke ihrer Mutter wurde.
Doch da sich daran nun mal nichts ändern ließ, fand sie sich mit ihrer unbehaglichen und dennoch von unendlicher Erleichterung geprägten Rückfahrt zur Villa Gardella ab.Victoria hatte Oliver angewiesen, die drei zusätzlichen Passagiere zuvor zu ihren Quartieren zu bringen, deshalb würde ihr - zumindest bis sie die Kutsche verlassen hatten - die unvermeidliche Strafpredigt erspart bleiben.
Also entspannte sie sich ein klein wenig, nun da ihr Nacken wieder warm war und die Kutsche sie zügig von der Villa des Schreckens wegbrachte. Offensichtlich waren die Damen nicht gewillt, die Ereignisse des Abends zu erörtern, denn sie plauderten über dieses und jenes, so als würden sie gerade von einem Theaterbesuch zurückkehren. Victoria glaubte, mit halbem Ohr gehört zu haben, wie die dunkelhaarige Miss Malloren irgendetwas über Schwimmen mit Haien sagte, doch musste das in einem Moment gewesen sein, als sie mit den Gedanken nicht ganz bei der Sache gewesen war; sie musste sie falsch verstanden haben. Ganz gewiss würde niemand etwas derart Verrücktes tun.
Andererseits … angesichts von Victorias eigener Profession war es am Ende vielleicht doch gar nicht so verrückt.
Die andere Frau, Mrs. Faygan, die ein bildhübsches roséfarbenes Kleid mit darauf abgestimmten rosaroten Perlen trug, schien sich dagegen für italienische Nudelgerichte zu begeistern.
Damit entfernte sich ihr Gespräch immer weiter von Vampiren, Pflöcken und grusligen Villen, bis zwischen den Damen schließlich eine hitzige Debatte über die Vorzüge von Cannoli im Vergleich zu englischen Zitronenbiskuits entbrannte.
Victoria lauschte der Unterhaltung mal mehr, mal weniger aufmerksam, dennoch realisierte sie erst, als ihre drei Gäste ausstiegen, dass sie etwas vergessen hatte.
Das Lederband mit dem kleineren Splitter lag noch immer irgendwo in den Gärten der Villa Palombara.