Kapitel 23
In welchem an einem Bett gewacht wird
Es gibt nichts, das wir für sie tun können.« Wayren ließ den
Blick durch den Saal wandern. Der Brunnen des Konsiliums plätscherte hinter ihr, und doch war sein funkelndes Weihwasser in diesem Fall keine Hilfe. »Fühlt ihr es denn nicht? Man kann sie sogar hier noch spüren.«
Sie wusste, dass sie die Präsenz eines Untoten witterten - eine zerstörte Seele aus ihren eigenen Reihen, die man in die geheiligten und geheimen Hallen des Konsiliums gebracht hatte; sie erkannte es an der absoluten Hoffnungslosigkeit in Sebastians schönem Gesicht und an dem Selbsthass und dem Schuldbewusstsein, die ihn zu überwältigen drohten.
Und an dem Gemurmel und den Blickwechseln von Michalas und Brim, die, obwohl sie während ihres Kampfes gegen die Vampire verletzt und bewusstlos geschlagen worden waren, stark und aufrecht im hinteren Teil des Saales standen.
Und an Max, dessen Züge vollkommen leer waren. Der es inzwischen zwar nicht mehr spüren konnte, der aber dennoch Bescheid wusste. Der sich in einen dunklen Winkel zurückgezogen hatte, so als könnte er sich dadurch von allen anderen abschotten.
Was jetzt, da Victoria verloren war, womöglich auch das Beste wäre.
»Ich werde bei ihr warten, bis sie erwacht. Zusammen mit Ylito. Der Rest von euch -« Wayren sah erst Sebastian, dann Max an, »- kann tun, was er möchte. Es dauert noch etliche Stunden bis Sonnenuntergang.«
Sie wandte sich von ihnen ab, von ihren düsteren, mutlosen Gesichtern und dem unterschwelligen Zorn, der in ihnen brodelte. Sie hoffte, betete, dass er sich nicht gegen Sebastian richten würde, denn sosehr Max ihm auch die Schuld geben wollte, sosehr Sebastian dies selbst tat, wusste Wayren doch, dass es nicht so einfach war.
Seufzend passierte sie die Gemäldegalerie. Es würden bald weitere Porträts hier hängen, denn Zavier lag im Sterben, und Stanislaus’ war bereits in Arbeit. Und Victoria …
Als sie Schritte hinter sich hörte, drehte sie sich zu Sebastian um, der ihr gefolgt war. »Ich will bei ihr sein, wenn sie wach wird«, sagte er.Von seinem Charme, seiner leichten, humorvollen Art war nun nichts mehr zu spüren. Stattdessen erfüllten ihn tiefer Kummer und wütendes Bedauern, aber auch grimmige Entschlossenheit.
Er würde ein guter Venator werden. Seine Zeit war nun endlich gekommen.
»Willst du uns nun ganz beitreten?« Wayren trat ein wenig zur Seite, sodass sie nebeneinander herlaufen konnten.
»Ich habe keinen Grund mehr, es nicht zu tun. Wenn ich schon eher … ich habe mich dumm und verantwortungslos verhalten.«
Das hatte er, aber trotzdem verstand sie ihn, so wie sie es stets tat. Er würde, so wie vor ihm Max, seinen Platz unter den Venatoren einnehmen und über seine Fehler und sein Versagen hinauswachsen.
»Du hast deinen Großvater getötet. Glaube nicht, dass ich nicht wüsste, wie schwer dir das gefallen sein muss. Du wirst um ihn trauern.«
Mit sorgenvollem, verhärmtem Gesicht sah Sebastian sie an. Trotz der Erschöpfung und des Schmerzes in seinen Zügen erinnerte er sie erneut an den großen Uriel - wenngleich ihn eine außergewöhnliche Sinnlichkeit umgab, die Uriel bestimmt nicht gutgeheißen hätte. »Gibt es wirklich gar keine Hoffnung? Nichts, das unternommen werden kann?«, fragte er leise.
»Nein«, ertönte hinter ihnen flach und kalt Max’ Stimme. »Sie hat sein Blut getrunken.«
Wayren blieb stehen und wartete, bis er zu ihnen aufgeschlossen hatte, dann erklärte sie: »Er hat ihr eine große Menge Blut abgenommen, wodurch er sie sehr schwächte, doch indem sie anschließend seines trank, hat sie den Verlust ausgeglichen. Wenn sie aufwacht, wird sie eine Untote sein.«
»Warum pfählen wir sie dann nicht jetzt sofort und ersparen uns dieses entsetzliche Warten?«, wollte Sebastian wissen.
»Weil du sehen musst, zu was sie geworden ist, um von ihr Abschied nehmen zu können«, erwiderte sie. »Um zu verstehen, was passiert ist. Und dass es sich nicht rückgängig machen lässt.«
Sie waren nun an dem Raum angelangt, in dem Victoria lag. Niemandem war der Zutritt gestattet worden, seit Max mit ihrem bewusstlosen, blutbefleckten Körper in den Armen ins Konsilium gerannt gekommen war. Er hatte ihn anschließend Ylito und Ilias übergeben.
Die Kammer war klein, zu klein für fünf Personen, doch Wayren wusste, dass es sinnlos wäre zu versuchen, Max und Sebastian draußen zu halten. Man hatte Victoria gebadet und angekleidet, so als wäre sie ein Leichnam, der auf seine Beerdigung wartete. Ihr dunkles Haar lag zu einem dicken Zopf geflochten über ihrer Brust, und das blütenweiße Tuch ihres schlichten Gewands betonte nur noch mehr, wie bleich sie war. Eine ihrer blau geäderten Hände lag auf ihrem Bauch, und auch auf ihrem Gesicht verlief von der Schläfe bis zur Kinnlinie eine hervortretende Vene.
Als sie eintraten, hob Ylito, der Victoria gerade untersucht hatte, den Kopf und sah Wayren an.
»Sie braucht mehr Blut«, sagte er leise. »Ich weiß nicht, ob es irgendeinen Zweck hat, aber Hannever will es zumindest versuchen.«
»Wird sie es trinken?«, fragte Max, in dessen Fingern etwas Metallisches aufblitzte. Er legte das Messer an sein Handgelenk und wollte schon hineinschneiden, als Wayren seinen Arm festhielt. Sie spürte eine Rage und Unbesonnenheit an ihm, die sie Schlimmes befürchten ließ.
»Warte, Max. Es muss Gardella-Blut sein«, erklärte Ylito.
Sebastian rollte bereits seinen Ärmel hoch, um seinen muskulösen Arm zu entblößen. »Geben Sie mir das Messer, Pesaro.«
Dieser tat wie ihm geheißen, dann lehnte er sich mit vorgetäuschter Gelassenheit gegen die Wand, um das Ganze zu beobachten. Seine Miene war ausdruckslos.
Die Anspannung in dem Zimmer war mit Händen greifbar, und selbst Wayren, die sich normalerweise von solchen Energien nicht beeinflussen ließ, fühlte sich überreizt und nervös.
In diesem Moment trat Hannever ein. »Blut. Jetzt.« Er trug ein Tablett, auf dem sich ein Stapel Becher, zwei kleine Phiolen und ein paar weitere Dinge befanden, und das er auf einem Tisch abstellte. Neben dem Pflock, der auf ihm lag.
Ohne ein weiteres Wort ging er zu Victoria und brachte ihrem Arm einen kleinen Schnitt bei, aus dem er anschließend einen Tropfen dunklen Blutes in ein kleines Gefäß drückte. In der Kammer herrschte eine stille, angespannte, fast schon erstickend intensive Atmosphäre.
Wut, Schuld, Entsetzen, Wahnsinn … all das schien in der Luft zu liegen.
Als Hannever sich von Victoria abwandte, bot ihm Sebastian seinen Arm, woraufhin der Arzt auch in ihn einen kleinen Schnitt machte und dann das Blut in einen der Becher rinnen ließ. Plitsch, platsch, plitsch … das Tröpfeln schien mit der Lautstärke einer Explosion in dem winzigen Raum widerzuhallen.
»Was soll das nützen?«, fragte Max plötzlich barsch.
»Es wird vermutlich gar nichts nützen. Aber sie braucht es. Wir müssen es zumindest versuchen«, entgegnete Hannever, der sich gerade an einer der Phiolen zu schaffen machte. Er mischte einen winzigen Tropfen der Flüssigkeit in Sebastians Blut, dann rührte er das Ganze mit einem schmalen Schilfrohr um. »Nein. Das hier ist es nicht.«
»Versuch du es, Max«, forderte Wayren ihn auf. Sie wechselte einen Blick mit Ylito.
Hannever zufolge würde Max’ Blut ebenfalls nicht das richtige sein.
»Wir müssen ihr Blut besorgen!«, stieß Sebastian mit gepresster Stimme hervor und war schon auf dem Weg zur Tür.
»Zavier«, schlug Max vor. »Lasst es uns mit Zavier versuchen.«
Er suchte Wayrens Blick, anschließend sah diese zu Ylito. »Ja. Es wäre einen Versuch wert. Und er würde es wollen.«
»Wir brauchen seine Einwilligung.«
Wayren nickte. »Er wird sie uns geben. Lasst uns zu ihm gehen und ihn darum bitten.«