Kapitel 20
In welchem unsere Heldin
wieder einmal in einem dunklen Tunnel landet
Leise und sorgsam darauf
achtend, dass Sebastian sie nicht bemerkte, folgte Victoria ihm die
Treppe in den kalten Keller eines dreistöckigen Hauses hinab. Das
Gebäude war ihr mit seinen getünchten Mauern und dem kleinen
Hinterhof nur allzu gut vertraut, denn es handelte sich um
dasselbe, in welchem Sebastian sie letzten Herbst gefangen gehalten
hatte. Er und Max hatten versucht, sie von Nedas - jenem Vampir,
der Akvans Obelisken aktivieren wollte - fernzuhalten. Allerdings
war Sebastians Plan fehlgeschlagen, denn Victoria hatte sich
befreien können, indem sie aus einem Fenster geklettert war, sodass
sie nicht nur Zeuge der Zerstörung des Obelisken wurde; sie hatte
außerdem auch Nedas erschlagen können.
Vielleicht war Sebastian ja die ganzen Monate
über hier gewesen, sodass sie ihn jederzeit persönlich hätte
kontaktieren können, wäre sie in der Lage gewesen, das Gebäude
wiederzufinden … doch dies war nun eine müßige Überlegung.
Sie war hier und dürstete nach Rache. Das Blut
pulsierte in ihren Schläfen und sandte sein Echo in ihre Brust
hinab, während sie, Pflock und Pistole griffbereit, weiterschlich.
Ihr Nacken war schon seit geraumer Zeit eiskalt, woraus sie
schloss, dass eine beträchtliche Anzahl Untoter in der Nähe sein
musste - und vermutlich um Beauregard herumscharwenzelte.
Der Gang, in dem Victoria sich nun wiederfand,
war kühl, dunkel und sehr eng. Während sie ein gutes Stück hinter
Sebastian zurückblieb, wurde ihr mit einem Mal bewusst, dass sie
seit ihrer Berufung zum Venator relativ viel Zeit damit verbracht
hatte, durch tiefe, dunkle Tunnel zu schleichen, zu rennen oder
verfolgt zu werden. Dies war einer der Nachteile, die mit der Jagd
auf Untote einhergingen, allerdings gewöhnte Victoria sich
allmählich daran. Wie stellte man einen Vampir? Indem man ihm unter
die Erde folgte. Wie spürte man die Untoten auf? Indem man in einer
dunklen, feuchtkalten Höhle nach ihnen suchte. Wie fand man ein
Artefakt des Bösen? Indem man einem engen Tunnel folgte.
Diese absurden Gedanken halfen Victoria, sich
abzulenken und ihren Drang, schneller zu laufen und Sebastian zur
Rede zu stellen, zu bezähmen. Falls sie sich vorzeitig zu erkennen
gab oder entdeckt würde, könnte das die Dinge erheblich schwieriger
machen. Victoria zog es vor, das Überraschungsmoment auf ihrer
Seite zu haben, wenn der Gegner zahlenmäßig überlegen war. Was in
diesem Fall mehr als wahrscheinlich war.
Als sie an einer Ecke kurz innehielt, fiel ihr
außerdem auf, dass Beauregards Behausung für einen derart mächtigen
Vampir recht primitiv zu sein schien. Die Korridore, die sich vor
ihr erstreckten, waren eng und dunkel, die Wände rau, der Boden mit
Steinchen übersät, und mehr als einmal lief sie mit dem Gesicht
durch herabhängende Spinnweben.
Eine Ratte huschte an ihren Füßen vorbei; nein,
es waren sogar zwei. Doch Victoria zuckte selbst dann nicht
zusammen, als sie einen kleinen, pelzigen Körper an ihrem Rocksaum
entlangstreichen fühlte. Beauregard duldete Ratten in seiner
Nähe? Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass
Lilith oder auch nur Regalado sich einen solchen Affront hätten
gefallen lassen.
Doch als sie schließlich Stimmen hörte und sich
an der schmutzigen Wand weiter voranpirschte, um um die letzte Ecke
zu spähen, musste Victoria ihren ersten Eindruck revidieren. Ihr
Weg endete vor einer Türöffnung, die von einer Art Wandteppich
verdeckt wurde; er fiel gerade wieder zu, woraus sie schloss, dass
Sebastian eben hindurchgeschlüpft sein musste. Also schlich sie
sich heran und schob den Vorhang ein winziges Stück zur Seite, um
hindurchlinsen zu können.
Doch statt einfach und unelegant entpuppte sich
Beauregards Versteck als ebenso hübsch, wenngleich auch weniger
plüschig eingerichtet wie Lady Winnies Salon: Teppiche bedeckten
den Fußboden. Kerzen und Fackeln leuchteten in Wandhaltern, auf
Tischen und in schulterhohen Kandelabern. Die Decke war
überraschend hoch - selbst ein Mann von Max’ Körpergröße hätte
aufrecht unter ihr stehen können. Die Möbel, zu denen auch ein
Cembalo zählte, waren aus edlem, dunklem Holz gefertigt und zum
Teil mit prächtigen Brokatkissen gepolstert. Eine große Holztür auf
der anderen Seite verriet Victoria, dass Sebastian den Raum durch
eine Geheimtür im rückwärtigen Teil betreten haben musste. Der
Größe und Stärke dieses Haupteingangs nach zu urteilen - ganz zu
schweigen von der eisigen Kälte in ihrem Nacken -, ließ Beauregard
ein paar von seinen Freunden jenseits davon warten.
Im Inneren des Raumes beugten sich gerade zwei
Schöpfe - einer weizenblond, der andere eher silbern - über einen
Tisch, um etwas zu studieren, das wie ein einzelnes Blatt Papier
aussah.
Victoria entschloss sich zu handeln. »Es scheint, du hast mir
einen weiteren Anlass zur Beschwerde gegeben, Beauregard.«
Zu ihrer immensen Befriedigung rissen beide
überrascht die Köpfe hoch. Auf Sebastians Gesicht lag ein ähnlich
erstarrter, schuldbewusster Ausdruck wie in dem Moment, als er von
Victoria im Konsilium ertappt worden war. Wohingegen Beauregards
Miene, nachdem der anfängliche Schock verpufft war, solch
hinterhältiges Vergnügen zeigte, dass sich Victoria die Nackenhaare
aufstellten.
»Willkommen, meine Liebe. Willkommen in meiner
bescheidenen Behausung.« Mit einer schwungvollen Geste forderte
Beauregard sie auf, einzutreten.
Victoria schob sich an dem Wandteppich vorbei,
wobei sie sorgsam darauf achtete, mit dem Rücken zur Wand zu
bleiben, um etwaige hässliche Überraschungen von hinten zu
vermeiden. Sie blieb ruhig und konzentriert, kontrollierte die
rasende Wut, die durch ihre Adern und Muskeln tobte. Eins nach dem
anderen.
»Wie bist du hierher gelangt?«
Sebastians Stimme lenkte Victorias
Aufmerksamkeit auf ihn. Mit seiner betretenen Miene und der
einzelnen, knabenhaften Locke, die ihm in die Stirn fiel, sah er in
dem schmeichelnden Kerzenlicht einfach umwerfend aus. Aber noch
bevor sie etwas erwidern konnte, sagte Beauregard: »Ich schätze,
sie hat ihren Weg hierher auf dieselbe Weise gefunden wie zuvor ihr
Liebhaber - Zander, Zavier, wie war noch mal sein Name? Bestimmt
hat er ihn ihr verraten.« Lächelnd richtete er den Blick nun wieder
auf sie. Seine Augen waren noch immer blau und seine Fangzähne
nicht ausgefahren, trotzdem nahm Victoria
sich in Acht. »Oder vielleicht hast du dich ja an deinen
Aufenthalt hier im letzten Herbst erinnert, bevor sich all die
unschönen Dinge zutrugen.«
»Unschöne Dinge?«, wiederholte Victoria. Sie
vermied es, Sebastian anzusehen, denn sie durfte sich auf keinen
Fall ablenken lassen. »Und ich dachte, du würdest Nedas’
Vernichtung begrüßen, ebenso wie die Vereitelung seines Plans, den
Obelisken zu aktivieren. Immerhin bist du dadurch zu ganz neuer
Macht gelangt.«
Beauregard neigte bestätigend den Kopf. »Das bin
ich in der Tat.«
»Falls dies ein geistiger Wettstreit werden
soll, wirst du schnell feststellen, dass du der Unterlegene bist.
Tatsächlich denke ich, dass du in jeder Hinsicht unterliegen
wirst.« Sie gönnte ihm einen Blick auf den Pflock in ihrer
Hand.
»Nun denn, in dem Fall sollten wir jetzt besser
zum Geschäftlichen kommen. Ich vermute, du hast inzwischen
festgestellt, dass ich dir dein Eigentum zurückgegeben habe, und
jetzt bist du gekommen, um mir meines zu bringen.«
»Ich habe dein Kupferarmband, falls es das ist,
worauf du anspielst. Aber zuerst musst du zurückgeben, was du mir
gestohlen hast.«
»Hat er es denn nicht zurückgeschafft? Ich hoffe
doch, dass Gardriel und Hugh nicht allzu grob mit ihm umgesprungen
sind.«
Er? Victoria wurde kalt, als sie plötzlich
begriff, dass Beauregard das Lederband mit dem Splitter gar nicht
hatte. Er hatte die ganze Zeit über von Zavier gesprochen.
Beziehungsweise von dem, was noch von ihm übrig war. Die an Zavier
verübte Gräueltat war eine Botschaft an sie gewesen, nichts
weiter.
Ihr Kopf begann zu pochen, als neuer Zorn in ihr
aufloderte, und ihre Finger zitterten, während sie den Drang
niederkämpfte, auf der Stelle anzugreifen.
Victoria atmete tief durch, dann glitt ihr Blick
zu Sebastian, der sie und seinen Großvater scharf beobachtete. Sie
machte sich keine Illusionen darüber, für welche Seite er sich
entscheiden würde … deshalb war sie froh, zusätzlich eine
Schusswaffe mitgenommen zu haben.
»Also konnte er dir nicht verraten, wo du uns
finden würdest«, schloss Beauregard gerade. Er war hinter dem Tisch
hervorgetreten und kam nun mit dem gewellten Blatt Papier in der
Hand gleichmütig auf sie zu. »Dann musst du wohl eher zufällig auf
uns gestoßen sein.«
Victorias Aufmerksamkeit wurde, so wie er es
zweifellos beabsichtigt hatte, auf das Stück Pergament gelenkt, das
unterm Gehen sanft gegen sein Bein strich. Es erinnerte sie an das
Manuskript, das Max aus dem Labor der Villa Palombara mitgenommen
hatte.
Jenes Manuskript, das sie ins Konsilium gebracht
hatten.
Ihr Blick schoss zu Sebastian, der sie
unverwandt anstarrte.
»Lass mich dieses Schriftstück sehen.«
Die Bereitwilligkeit, mit der Beauregard es ihr
reichte, bestätigte ihren Verdacht, bevor sie auch nur einen
einzigen Blick darauf geworfen hatte. Trotzdem überprüfte sie die
lose Seite ganz genau. »Du bist ein Feigling und ein Dieb«, fauchte
sie Sebastian an.
Er hielt ihrem Blick unerschrocken stand, das
zumindest
musste Victoria ihm lassen. Doch das war auch schon alles, was für
ihn sprach.
»Es war eine zwingende Notwendigkeit,Victoria.
Eine Frage von Leben oder Tod.«
»Verdammt sollst du sein, du und deine ständigen
Rechtfertigungen«, erwiderte sie, während tiefschwarzer Zorn ihr
Sichtfeld einengte. Sie hatte tatsächlich angefangen, ihm zu
vertrauen, an ihn zu glauben. Ihn an sich heranzulassen. »Verdammt
sollst du sein, Sebastian Vioget, und dein Großvater ebenso.« Sie
wandte sich an Beauregard. »Du hast Zavier beinahe umgebracht - und
das nur, um mich abzulenken, sodass du deinen Enkelsohn losschicken
konntest, damit er seine schmutzige Arbeit verrichtet.«
Beauregard grinste. »Bei Luzifer, du bist
schnell, meine Teuerste. Schnell im Begreifen, schnell im
Beschuldigen, schnell im Verurteilen. Und ziemlich appetitlich,
wenn du derart in Rage bist.«
Victoria war nicht länger gewillt, sich zu
beherrschen. Mit hoch erhobenem Pflock stürzte sie auf den Vampir
zu.
»Victoria, nein!« Sebastian sprang zwischen sie,
und sie rammte ihm den Pflock in die Schulter. Es war wesentlich
schwieriger, das Eschenholz in das Fleisch eines Sterblichen als in
das Herz eines Vampirs zu treiben; sie fühlte den unschönen
Widerstand, als es sich durch Haut und Muskeln fraß. »Tu das
nicht«, keuchte er und griff dabei nach ihrem Arm, um sie von sich
zu stoßen. »Er will -«
»Geh mir aus dem Weg«, verlangte sie. Er stöhnte
vor Schmerz, als sie den Pflock aus seiner Schulter zog. Blut
färbte seine Spitze rot und durchtränkte sein Hemd, was ein
unvertrauter
Anblick war, denn normalerweise floss dabei kein Blut.
Aber sie durfte sich von solchen Gedanken jetzt
nicht aufhalten lassen. Sie schubste Sebastian mit aller Kraft von
sich, sodass er nach hinten taumelte, während er gleichzeitig von
neuem nach ihr zu greifen versuchte.
»Victoria, tu das nicht«, wiederholte er. »Er
will dich besiegen. Er will uns auseinanderbringen.«
Mit grimmigem, entschlossenem Blick wandte sie
sich ihm zu. »Geh mir aus den Augen, denn sonst wirst du mit ihm
sterben. Ich habe genug von deinen Lügen und Täuschungen.«
Sie drehte sich wieder zu Beauregard um, der sie
leise lächelnd und mit einem bösartigen Funkeln in den Augen
beobachtete. »Willst du wirklich, dass er stirbt?«, fragte
er.
»Dein Tod ist es, den ich will.«
»Dabei vergisst du nur leider, dass ich schon
seit sechshundert Jahren tot bin.« Seine Augen wurden rot, als er
seinen Enkel mit einem nonchalanten Winken bedachte. »Lass uns
allein, Sebastian.«
»Nein.« Mit der Geschmeidigkeit einer großen
Katze glitt er vollkommen unbewaffnet zwischen sie.
Victoria betrachtete sein blasses Gesicht, sah
die finstere Entschlossenheit in seinen Augen, den dunklen Fleck,
der sich unter seinem linken Schlüsselbein ausbreitete, und sie
bemerkte auch, dass seine Atmung keuchender klang, als sie sollte.
Er war noch immer anziehend wie die Sünde selbst, noch immer mehr
als attraktiv und noch immer imstande, sie wegen alldem, was sie
miteinander geteilt hatten, in seinen Bann zu ziehen. Gott sei Dank
war er kein Vampir, sodass er zumindest kein
hypnotisches Netz über sie werfen konnte. »Du hast uns bestohlen.
Du hast uns verraten, Sebastian. Ich … will … dich … nicht … mehr …
sehen.«
Während Victoria und Sebastian sich noch
gegenüberstanden, hatte Beauregard sich auf die Wand hinter seinem
Schreibtisch zubewegt. Sie hörte in einiger Entfernung ein leises
Geräusch.
»Du hast dich entschieden, Sebastian. Du hast
deine Wahl getroffen, als du diesen Verrat begingst - als du dich
ins Konsilium geschlichen hast, während wir uns um Zavier sorgten,
während Max -« Sie hielt kurz inne. »Es war deine Entscheidung, und
jetzt geh mir aus dem Weg, damit ich das Ganze zu Ende bringen
kann.«
Die große Tür wurde aufgestoßen, und vier
kräftige Vampire - drei Männer und eine Frau - stürmten herein. Mit
plötzlich schneller und lauter schlagendem Herzen wirbelte Victoria
zu ihnen herum. Sie hielt ihren Pflock bereits in der Hand, doch es
würde ein harter Kampf werden. Sie nahm eine geduckte
Angriffshaltung ein.
Sebastian hatte sich ebenfalls umgedreht und in
Verteidigungsstellung gebracht. »Victoria, das Armban-«
Seine Worte erstarben in einem Aufkeuchen, als
ihm der erste der Untoten die Faust in den Magen rammte, bevor ihn
gleich darauf ein zweiter von der anderen Seite attackierte und
ihn, als Sebastian herumschoss, brutal zu Boden stieß. Instinktiv
riss Victoria ihren Pflock hoch, doch eine starke Hand packte von
hinten ihr Handgelenk, während ihr gleichzeitig ein Arm um die
Taille geschlungen und so fest zugedrückt wurde, dass sie keine
Luft mehr bekam. Sie versuchte, sich freizukämpfen, indem
sie nach hinten austrat, wobei sie beobachtete, wie Sebastian sich
auf die Füße rappelte, nur um gleich darauf durch einen
Stiefeltritt gegen den Unterkiefer wieder zu Fall gebracht zu
werden. Bei einem Normalsterblichen wäre dabei der Knochen zu Bruch
gegangen. Als ein anderer Vampir ihn anschlie ßend wieder auf die
Beine zerrte, gelang Sebastian ein gut gezielter Fausthieb, doch
ohne Pflock hatte er keine Chance.
»Du sagtest, du wolltest ihn aus dem Weg haben«,
raunte Beauregard ihr ins Ohr.
Victoria riss den Kopf nach hinten und
schmetterte ihn gegen Beauregards Nase, dann versuchte sie wieder,
sich aus seiner erstickenden Umklammerung zu befreien. Doch er
hielt sie weiter unnachgiebig fest und ließ dabei seine andere Hand
um ihre Kehle gleiten, um sie enger an sich zu pressen.
Die Hand drückte zu, schnitt ihr die Luft ab,
und Victoria wand sich verzweifelt in seinen Armen, sie stampfte
mit den Füßen auf, ließ den Ellbogen nach hinten schnellen, um ihn
Beauregard in die Rippen zu stoßen, trat um sich, rang um Atem
…
Dann plötzlich wurde sie mit solcher Wucht zur
Seite geschleudert, dass sie gegen einen Stuhl stieß und ihre Hand
auf den Tasten des Cembalos landete. Sie drehte sich gerade noch
rechtzeitig um, um zu sehen, wie die Tür ins Schloss fiel;
anschließend herrschte mit Ausnahme der letzten verklingenden,
disharmonischen Cembaloklänge Stille in dem Salon.
Stille, aber trotzdem war sie nicht
allein.
Ihr Nacken war kalt; ihre Finger zitterten. »Und
das nach allem, was er für dich getan hat?«, fragte sie mit
demütigend bebender Stimme.
Beauregard bückte sich, um das Papier
aufzuheben, das sie hatte fallen lassen, und legte es zurück auf
den Tisch. Dann sah er sie an. »Ist es nicht das, was du von mir
erwartet hattest? Illoyalität und Manipulation? Was glaubst du
wohl, wo Sebastian beides gelernt hat?«
»Du würdest ihn nicht umbringen. Dafür ist er zu
nützlich für dich.«
Beauregard gab sich entsetzt. »Ihn umbringen?
Aber natürlich nicht. Ich habe ihm lediglich dabei geholfen, deinen
Wünschen nachzukommen. Du solltest mir dankbar sein, denn nun
können wir uns ohne seine Einmischung unterhalten. Sollen wir jetzt
endlich zum Geschäftlichen übergehen? Du hättest mich getötet. Oder
es zumindest versucht.« Er musterte den Pflock, der ihr aus der
Hand gefallen und davongerollt war. »Nur fürchte ich leider, dass
das warten muss. Du hast etwas, das mir gehört.«
»Und du hast etwas, das mir gehört.« Sie würde
seine Scharade für den Moment mitspielen. Bis sie die Chance bekam,
dem Bastard den Kopf abzuschneiden.
»Es ist doch nur eine einzige Seite«, wiegelte
er ab und griff dabei wieder nach dem Papier. »Und du darfst es
Sebastian wirklich nicht verübeln. Er würde alles für mich tun;
seine Loyalität ist seine große Schwäche, sosehr ich auch versucht
habe, sie ihm auszutreiben. Aber ich bin nun mal alles, was er hat,
und er kann den Gedanken, mich auf ewig in den Fegefeuern der Hölle
zu wissen, einfach nicht ertragen.« Beauregard erschauderte leicht.
»Auch für mich ist diese Vorstellung nicht gerade angenehm. Deshalb
war ich, als die Tür zu Palombaras Labor nach all den Jahren
endlich wieder geöffnet wurde, verständlicherweise
sehr daran interessiert, nicht nur mein verschollenes Armband,
sondern auch diese spezielle Seite an mich zu bringen.«
»Wirst du mir auch verraten, was an dieser Seite
so wichtig ist?« Victoria bemühte sich um einen leichten, sorglosen
Tonfall, während sie sich abwechselnd auf Details des Zimmers, die
Suche nach ihrem Pflock und Beauregard konzentrierte.
Als er sie nun ansah, zeigten seine Augen ein
dunkles Rosarot, sodass Victoria rasch den Blick senkte.
»Bestimmt kommst du, wenn du genau darüber
nachdenkst, selbst auf die Antwort.« Seine Worte waren weich und
verführerisch, und sie spürte die Fesseln seines Banns so intensiv
über ihre Haut streicheln, als ob er sie tatsächlich
berührte.
»Es geht um eine Pflanze. Nachdem Sebastian
bereit war, bei dem Diebstahl zu helfen, muss es etwas mit deiner
Unsterblichkeit zu tun haben. Oder mit deiner zerstörten Seele«,
entgegnete sie. Ihre Stimme klang so fern und dumpf, als käme sie
aus einem Tunnel; blinzelnd trat Victoria einen Schritt zurück. Ihr
benommenes Gehör wurde wieder klar, und sie fühlte sich
ruhiger.
Sie bekam die Erinnerung an das Blut auf
Sebastians Hemd einfach nicht aus dem Kopf. Eine Verletzung, für
die sie verantwortlich war.
»Es ist eine für die Untoten sehr nützliche
Blume«, fuhr Beauregard fort, »und, falls man dem alchimistischen
Pilger, der zu Palombara kam, Glauben schenken darf, auch für die
Sterblichen. Doch sie trägt nur sehr selten, nicht öfter als ein
oder zwei Mal pro Jahrhundert, Blüten. Ich brauchte diese Seite, um
sie identifizieren zu können, denn tatsächlich soll sie noch
in diesem Jahr erblühen. Und als deine Tante starb, wusste ich,
dass es nun leichter sein würde, an den letzten Schlüssel zum Labor
zu kommen.«
Er lächelte. »Ich hoffe, du weißt meine Brillanz
zu würdigen. Mein Ziel bestand nämlich von Anfang an darin, deine
Aufmerksamkeit auf Akvan zu lenken, während er und seine
nichtsnutzigen Anhänger versuchten, die Schlüssel aufzuspüren.
Gleichzeitig habe ich dafür gesorgt, dass er von den Aufzeichnungen
erfuhr und der eine Schlüssel, den Palombara selbst hatte, von
einem Getreuen Akvans gefunden wurde; natürlich hatte ich ihm den
bewussten Schlüssel in jener letzten Nacht gestohlen. Ich wusste,
dass ich auf die eine oder andere Art mein Armband zurückbekommen
würde, sobald die Tür erst einmal geöffnet worden wäre.«
Den Blick von ihm und seinen pinkfarbenen Augen
weiterhin abgewandt, positionierte Victoria sich so, dass der
Schreibtisch zwischen ihnen und ihr selbst ein gutes Stück von
Beauregard entfernt stand. Sie verspürte keine Angst; sie war schon
in viel schlimmeren Situationen und zahlenmäßig weitaus
unterlegener gewesen. Doch falls er ein weiteres Mal Verstärkung
herbeirufen sollte, so wie er es offensichtlich zuvor getan hatte,
als er hinter den Schreibtisch getreten war, würde sie sich in
derselben Lage wiederfinden wie Sebastian.
Oder in einer noch schlimmeren.
»Du wolltest, dass Sebastian dir den Schlüssel
gibt, nicht wahr?«
Er neigte bejahend den Kopf. »Allerdings war ihm
gar nicht bewusst, dass er ihn überhaupt in seinem Besitz hatte,
bis du ihn dann viel später darauf angesprochen hast.«
»Trotzdem hast du zugelassen, dass ich ihn
benutze.«
»Er hat es abgelehnt, ihn mir auszuhändigen,
falls das deine eigentliche Frage ist. Doch das war für mich nicht
relevant, denn sobald du die Tür erst einmal geöffnet hättest,
hätte ich mir nehmen können, was ich begehrte. Nur dass ihr zu
schnell wart, du und dieser verfluchte Pesaro, und er mit den
Aufzeichnungen verschwunden ist.«
»Und du dachtest wirklich, dass du von mir
bekommen würdest, was du wolltest, indem du einen meiner Männer
misshandeln und beinahe umbringen ließt?«
»Du bist doch hier, oder etwa nicht?«
Ihr gefiel sein Lächeln nicht. Genauso wenig,
wie es ihr gefiel, plötzlich wieder an seinen Mund denken zu
müssen, und daran, wie er sie geküsst und dann das warme, blutige
Rinnsal von ihrer Lippe geleckt hatte.
»Natürlich würdest du kommen, um deinen Freund
zu rächen. Deinen Kampfgefährten. Was hättest du denn sonst tun
sollen?« Seine Stimme klang noch immer so sanft und verführerisch,
als versuchte er, sie einzulullen. »Du bist immerhin ein
Venator.«
Was hättest du denn sonst
tun sollen?
Es war fast, als hätte er ihre früheren Gedanken
gelesen. Sie war ein Venator, mit Leib und Seele und ohne jede
Einschränkung. Natürlich würde sie kommen, um den Tod - oder
Beinahe-Tod - eines der ihren zu sühnen.
Was hätte sie denn sonst tun sollen?
Nichts.
»Ich will mein Armband.« Er kam näher, und
Victoria spannte ihre Muskeln an.
»Ich habe es nicht bei mir.«
Der Vampir grinste, wobei seine langen, spitzen
Fangzähne über seine Unterlippe strichen. Sein silberblondes Haar
umrahmte auf schmeichelhafte Weise sein attraktives Gesicht, und
seine rosaroten Augen glühten. »Natürlich hast du das. Ich kann es
spüren.«
Sie sprang in geduckter Haltung zur Seite und
hob ihren Pflock vom Boden auf. »Dann komm und hol es dir.«
Zähneknirschend blieb sie in Angriffshaltung und wartete. Sie würde
ihn erledigen, hier und jetzt.
Er musterte sie kurz, dann kehrte er dem
Schreibtisch den Rücken zu.
Diese Provokation, diese sorglose Geste, war
alles, was Victoria noch brauchte.
Unerschrocken, zornig und bereit, ihrer
Pattsituation ein Ende zu setzen, stürmte sie mit erhobenem Pflock
auf ihn zu, um ihn ihm in die Brust zu stoßen. Doch Beauregard
schoss blitzschnell zu ihr herum, schnappte sich ihr Handgelenk und
drehte ihr, sich ihren Schwung zunutze machend, den Arm auf den
Rücken, sodass ihr Körper heftig gegen seinen stieß.
Als er mit glühendem Blick zu ihr hinabstarrte,
schloss sie die Augen, dann wandte sie das Gesicht ab, legte den
Kopf in den Nacken und rammte ihm die Stirn gegen das Kinn.
Er war so stark, dass es ihr nur mit Mühe
gelang, sich zu befreien, aber schon einen Sekundenbruchteil später
hatte er sie am Saum ihres Herrenmantels gepackt und riss sie
wieder an sich. Victoria wand und sträubte sich so heftig, dass
drei der Knöpfe absprangen und zu Boden klimperten. Als Beau -
regard ihr nun von hinten den Mantel über die Schultern zog,
waren ihre Hände für einen Moment in den Ärmeln gefangen. Doch es
gelang ihr, sie zu befreien und mit einem Satz von ihm
wegzuspringen, wobei sie den Mantel in seinen Fingern zurückließ,
während sie in den ihren den Pflock behielt.
Zwar geriet sie durch ihre abrupte Bewegung ins
Straucheln, doch fand sie ihr Gleichgewicht rasch wieder, dann
drehte sie sich von neuem zu ihm um und zog dabei das Kruzifix aus
ihrem Mieder, sodass es gut sichtbar vor ihrem Dekolleté
hing.
Als Beauregard den Anhänger entdeckte, zuckte er
zusammen und wich zurück, und Victoria schoss berauscht von dem
Adrenalin, das der Kampf in ihr freisetzte, auf ihn zu. Doch es
gelang ihm, sich in allerletzter Sekunde wegzuducken und somit zu
verhindern, dass der Pflock ins Ziel traf. Stattdessen bohrte er
sich harmlos und etwa an derselben Stelle in seine Schulter, wo sie
zuvor Sebastian verletzt hatte. Eine Welle des Schmerzes jagte
ihren Am hinauf, als er auf der anderen Seite wieder austrat und
gegen den Steinboden stieß, aber Victoria, die Kraft schöpfte aus
dem schweren Kruzifix, das um ihren Hals hing, erholte sich rasch
davon.
Als sie sich gegenüberstanden, mittlerweile
wieder durch den Schreibtisch voneinander getrennt, realisierte sie
erschrocken, dass er noch immer ihren Mantel hielt. Und dass er
sich von ihr und ihrer Kette abwandte, um den Stoff zu betasten, um
nach den Taschen zu fühlen.
Noch bevor sie zu ihm rennen konnte, um ihm das
Kleidungsstück zu entreißen, zog er bereits die Hände aus den
Falten - er hatte das Kupferarmband gefunden. »Ah«, sagte er mit
unverkennbarer Genugtuung in der Stimme.
Victoria sprang mit einem Salto über den
Schreibtisch und
stieß Beauregard noch während ihrer Landung zu Boden, doch er zog
sie mit sich nach unten. Das Silberkreuz schlug gegen ihn, und er
zuckte vor Schmerz keuchend zurück, trotzdem ließ er sie nicht los,
während sie über die Steinfliesen rollten. Dann rutschte das
Kruzifix nach oben und hinter Victorias Schulter, sodass es außer
Sicht war.
Mit einem schnellen Ruck zog er an der Kette,
die daraufhin in Victorias Nacken zerriss, sodass das Kreuz unter
ihr liegen blieb, während sie weiter wie wild miteinander rangen.
Er legte die Finger um das Handgelenk mit dem Pflock und drückte
zu, während sie mit allen Mitteln versuchte, an das Armband zu
gelangen, das er in der anderen Hand hielt. Sie wusste nicht, was
er damit wollte, aber ganz gewiss hatte er nichts Gutes im
Sinn.
Die Hüften gegeneinandergepresst und die Beine
umeinandergeschlungen, als wären sie Liebende, richtete Beauregard
sich über ihr auf, dann ließ er plötzlich ihr Handgelenk los, und
ihr Pflock kam wieder frei. Er rollte sich geschwind zur Seite, und
das Eschenholz zischte nur leicht seinen Arm streifend an ihm
vorbei, bevor es so heftig auf den Steinboden traf, dass es
Victoria das Handgelenk stauchte. Ihr ganzer Arm schmerzte noch von
dem Aufprall, als sie versuchte, mittels eines Überschlags aus
seiner Reichweite zu gelangen, doch er fasste wieder nach ihr und
zog sie zurück. Sie trat nach ihm, aber es war zu spät - etwas
Glattes, Kühles schloss sich um ihr linkes Handgelenk.
Es erfolgte ein leises Klicken, und ihr Arm
wurde taub. Victoria fühlte sich benommen, langsam und träge.
Sie hob wieder den Pflock, um Beauregard zu
attackieren,
doch er fing ihren Stoß in der Luft ab, dann starrten sie sich an,
schwer atmend und auf dem Boden ineinander verkeilt.
»Nun ist es vollbracht«, verkündete er
befriedigt.
Keuchend schaute Victoria zu ihrem linken
Handgelenk.
Das Kupferarmband umfing ihr Fleisch.
»Endlich habe ich dich, wo ich dich haben
wollte«, fuhr er mit glühenden, pinkfarbenen Augen fort.
»Nein … das hast du … nicht!« Sie zwang sich,
den Blick abzuwenden, während sie mit ihrem Pflockarm darum
kämpfte, sich aus seiner Umklammerung zu befreien.
Einen Moment lang waren sie von neuem in einer
Pattsituation, während Victoria versuchte, den Pflock nach unten zu
stoßen, und er gleichzeitig ihren von dem Kupferband umringten Arm
mit brutaler Härte nach oben hielt.
Dann spürte sie, wie ihr Herzschlag langsamer
wurde und sich Beauregards anglich. Ihr Atem wurde eins, und ihr
Bewusstsein schien in einen Nebel oder in eine gemächliche
Unterwasserwelt zu trudeln. Das Kupfer an ihrem Arm fühlte sich so
warm an, als würde sich das Metall in ihr Fleisch brennen, aber sie
konnte ihn nicht bewegen, ohne seine Hand mitzuziehen. Der
unaufhörliche Druck um ihr anderes Handgelenk hatte ihre Finger
taub werden lassen, und noch immer kämpfte er darum, ihr die
tödliche Waffe zu entwinden.
Mit allerletzter Kraft bäumte Victoria sich auf
und entzog ihm ihren Arm, wobei ihr der Pflock aus den gefühllosen
Fingern fiel, sodass ihre Hand harmlos gegen Beauregards Brust
schlug. Sie hörte den Pflock auf den Steinen aufprallen, und das
dumpfe Geräusch, mit dem er aus ihrer Reichweite rollte, klang ihr
so laut in den Ohren, dass es alles andere übertönte.
»Jetzt, endlich«, raunte er und zog sie näher zu
sich. Seine rosaroten Augen hypnotisierten sie, und sie bekam keine
Luft mehr. Er beugte das Gesicht zu ihrem und nahm ihr die Sicht,
während sie darum kämpfte, seinen Bann abzuschütteln … seine
Umarmung … das träge Lustgefühl, das sie zu durchströmen
begann.
Sein Mund kam immer näher, dann wurde alles
schwarz, als sie die Kontrolle über ihre Atmung ganz verlor und ihr
Herzschlag eins wurde mit seinem.