Kapitel 4
In welchem Victoria eine
heftige Abneigung gegen Bonbons entwickelt
Also, wie gefällt Ihnen
Ihr erster römischer Karneval?«, fragte Zavier, als er im selben
Moment von einem übereifrigen Feiernden gegen Victoria geschubst
wurde.
Da es mindestens das zwölfte Mal war, dass er
gegen sie oder sie gegen ihn rempelte, bemerkte Victoria den Stoß
kaum noch; sie war mehr darauf konzentriert, ihre Pappmaché-Maske
an Ort und Stelle zu halten. »Es ist anders als alles, was ich
bisher erlebt habe«, bekannte sie mit kläglicher Aufrichtigkeit.
»Die Menschen scheinen verrückt geworden zu sein!« Sie verstand ja,
wie wichtig es war, dass die Venatoren während der acht
Karnevalsnächte auf den Straßen patrouillierten, aber von der
Notwendigkeit, dabei eine Maske tragen zu müssen, war sie weitaus
weniger überzeugt.
Wenn die schmalen Augenschlitze ihr
ausnahmsweise einmal nicht gerade die Sicht nahmen, konnte sie sich
darauf verlassen, dass stattdessen der lange Schnabel ihres
Vogelgesichts mit der Person vor ihr kollidierte oder aber von
irgendjemandem, der mit Gipsbonbons warf, zur Seite gestoßen
wurde.
Oder sie wurde selbst von einem getroffen, was,
wie die wei ßen Abdrücke auf ihrer Maske und Kleidung bewiesen,
bereits mehr als einmal geschehen war.
Zavier lachte vergnügt, doch ihr fiel auf, dass
seine Aufmerksamkeit
nicht ein einziges Mal von dem, was um sie herum geschah,
abschweifte. Wegen all des lustigen Treibens und der Maskenzüge,
die sich von der breiten Via del Corso in die schmaleren, dunkleren
Seitenstraßen ergossen, war die Nacht geradezu prädestiniert für
Vampirangriffe - oder schlimmer noch, Entführungen durch die Tutela
im Auftrag ihrer untoten Herren. Und nun bestand auch noch die
Gefahr, aus unerfindlichen Gründen verschleppt und geköpft zu
werden. Zwar hatte bisher keiner von ihnen beiden einen Vampir
gewittert, aber es war gerade erst Mitternacht, und die Dämmerung
in dieser Februarnacht damit noch viele Stunden entfernt.
Obwohl der Karneval schon fast eine ganze Woche
andauerte, war dies die erste Nacht, in der Victoria und Zavier
gemeinsam patrouillierten. Es war gleichzeitig das erste Mal, dass
sie seit der Ankunft ihrer Mutter überhaupt auf die Jagd ging …
abgesehen von der einen Gelegenheit, als es ihr heimlich, still und
leise gelungen war, einen Vampir zu pfählen, der die Dreistigkeit
besessen hatte, sich an Lady Nilly heranzuschleichen, als sie
gerade von einer späten Karnevalsveranstaltung heimkehrten.
Zu Lady Mellys großer Freude hatte sie ihren
geheimen Plan, Sebastian zu finden, in die Tat umgesetzt, indem sie
den Tarruscelli-Zwillingen Portiera und Placidia einen Besuch
abstattete. Leider hatte der Nachmittagstee bei ihnen Victoria eine
Flut von Einladungen zu Maskenbällen, Pferderennen und auch auf den
Balkon der Tarruscellis beschert, von dem aus man den gesamten
Corso überblickte, auf welchem der Großteil der Feierlichkeiten
stattfand. Es kam Victoria merkwürdig vor, in eine Welt der Feste
und Bälle zurückkatapultiert
zu werden, nachdem sie die letzten Monate ihre ganze
Aufmerksamkeit - und ihr Leben - ihren Verpflichtungen als Venator
gewidmet hatte. Es fühlte sich sogar noch seltsamer an als damals,
als sie nach Phillips Tod wieder in die Öffentlichkeit
zurückgekehrt war.
Vielleicht hatte sie mit alldem inzwischen
wirklich abgeschlossen.
Obwohl sie nun herumgesessen und Konversation
betrieben hatte, während sie in Gedanken bei viel wichtigeren
Dingen war, hatte Victoria am Ende trotzdem kein Glück gehabt. Sie
hatte das Gespräch mit den Zwillingen nicht auf Sebastian lenken
können, um etwas über seinen Verbleib zu erfahren.
Vielleicht war er noch nicht einmal mehr in
Rom.
Aber zumindest war es Victoria an diesem Abend
gelungen, die Botschaften ihrer Mutter (»Der Barone Zacardi ist ja
so entzückt von dir!«) zu ignorieren und unter dem Vorwand
schrecklicher Erschöpfung zu Hause zu bleiben. Ilias hatte ihr
erklärt, dass heute Rosenmontag und damit der vorletzte Tag des
Karnevals war. Das hieß, die Fiebersäule der Erregung - und der
Gefahr - würde weiter ansteigen und morgen Nacht schließlich ihren
Höhepunkt erreichen.
Lady Melly und ihre Freundinnen hatten sich
zusammen mit ein paar weiteren neuen Bekannten - darunter auch der
gewiss enttäuschte Barone Zacardi - den Tarruscellis auf ihrem rot
verhangenen Balkon anschließen wollen, um von dort aus das amüsante
Treiben unter ihnen zu beobachten. Victoria war erleichtert, dass
sie mit ihrem Pflock auf der Straße unterwegs war - ob nun maskiert
oder nicht - und ihre Arbeit tun
konnte. Außerdem hatte sie inzwischen eine neue Idee, wie sie mit
Sebastian in Kontakt treten könnte, und sie wollte noch in dieser
Nacht einen Versuch wagen.
Der Duft von gerösteten Maroni erfüllte die Luft
und riss Victoria, die mit einem Mal Hunger verspürte, aus ihrer
Gedankenversunkenheit. Das köstliche Aroma erinnerte sie an diverse
Weihnachtsfeiern, die sie vor langer Zeit zusammen mit ihrer Mutter
und deren Freundinnen auf Prewitt Shore, dem Landsitz ihrer
Familie, verbracht hatte. Damals hatte während der Feiertage
mindestens eine Mahlzeit ausschließlich aus dem heißen Fleisch der
Kastanien und warmer Milch bestanden.
»Zavier.« Victoria drehte sich zu ihm um, aber
ihre Maske war wieder verrutscht. Sie fasste nach oben und rückte
den langen Vogelschnabel zurecht, doch als sich die Sehschlitze
dann wieder auf gleicher Höhe mit ihren Augen befanden, stellte sie
fest, dass Zavier nirgends zu sehen war.
Wäre sie eine gewöhnliche Frau gewesen, mit
normaler Körperkraft und ohne die Möglichkeit, sich selbst zu
verteidigen, so hätte ihr der Gedanke, um Mitternacht in diesem
irrsinnigen Trubel von ihrem Begleiter getrennt zu sein, Angst
eingeflößt. Doch stattdessen steuerte sie gelassen auf den
Straßenrand des breiten, überfüllten Corso zu, wo ein Ehepaar heiße
Maroni feilbot. Ihr Pflock war sicher in der tiefen Tasche ihres
locker fallenden Kostüms verborgen, und Verbena hatte außerdem
dafür gesorgt, dass in der anderen eine Pistole sowie ein paar
Münzen für einen Fall wie diesen steckten.
Victoria fischte eine der Münzen heraus, um die
Esskastanien zu bezahlen, aber als sie sich gerade wieder zu der
breiten
Hauptstraße umdrehen wollte, spürte sie, wie sie ein weiteres
Gipsbonbon von hinten an der Schulter traf. Dieses Geschoss war
härter als die bisherigen, was darauf hindeutete, dass es aus
geringer Entfernung geworfen worden war.
Sie wirbelte herum und fasste dabei
unwillkürlich nach ihrem Pflock, obwohl ihr Nacken keinen Deut
kühler geworden war und dies alles scheinbar im Namen ausgelassener
Heiterkeit geschah. Dieses Mal blieb ihre Maske wundersamerweise,
wo sie war, und so bemerkte sie durch die Sehschlitze eine schlanke
Gestalt, die gerade in der Menge untertauchte.
Victoria nahm die Verfolgung auf, während sich
tief in ihrem Bewusstsein ein Gefühl des Wiedererkennens mit dem
Eindruck dunkler Augen hinter einer Pfauenmaske und eine gewisse
Vertrautheit der Bewegungen mischte.
Als plötzlich jemand von hinten ihren Arm packte
und sie festhielt, zog Victoria blitzschnell ihre Pistole und
wirbelte herum. »Zavier.«
»Wo waren Sie?«, fragte er. »Ich hatte Sie in
dem Gedränge für einen Moment aus den Augen verloren.«
»Ich … habe mir ein paar geröstete Kastanien
gekauft, und dann hat jemand mit einem Bonbon nach mir geworfen.
Schon wieder.«
Zavier lachte. »Ah, ich sehe schon. Noch ein
puderiger, wei ßer Fleck auf Ihrer Schulter.« So
selbstverständlich, als hätte er das schon oft getan, hakte er sich
nun bei ihr unter. »Ich habe heute Nacht nicht einen einzigen
Vampir gesehen oder gewittert -«
Er brach im selben Moment ab, als ein
unverkennbares Frösteln ihr die Nackenhärchen aufstellte. Sie sahen
sich an. »Hier
entlang«, befahl Victoria und begann, in die Richtung zu laufen,
in die die Gestalt verschwunden war.
Sie wusste nicht, ob es Zufall war, trotzdem
drängten sie sich zielstrebig durch die Menge der Feiernden und
folgten der Fährte des ersten Vampirs, den sie in dieser Nacht
wahrgenommen hatten. Auf ihrem Weg durch die Straßen ließen sie das
muntere Treiben bald hinter sich, und Victoria stellte plötzlich
fest, dass sie einen kleinen Hügel hinaufliefen, auf dessen Kuppe
sie die Umrisse von Mausoleen und Grabsteinen erkannte.
Ein Friedhof. Nicht gerade ungewöhnlich, hier
auf einen Untoten zu treffen.
Als sie durch das offene Eisentor traten, nahm
Victoria die Maske ab und brachte den Pflock, den sie inzwischen
hervorgezogen hatte, in Position.
»Haben Sie etwas gehört?«, fragte Zavier, der
neben ihr stehen blieb.
Hier oben auf dem Friedhof, weit weg von dem
Wahnsinn des Faschingstreibens unter ihnen, war bis auf ein
gelegentlich in der Ferne erschallendes Rufen oder Lachen alles
ruhig. Die Monumente und Grabsteine warfen hohe, kalte Schatten auf
das dunkle Gras.
»Nein«, antwortete sie, dann ging sie mit der
Maske in der Hand weiter. Die frische Luft fühlte sich gut an auf
ihrem nun unbedeckten Gesicht, allerdings hatte sich ihr Nacken
leicht erwärmt, und die feinen Härchen dort lagen wieder flach an.
Sie hatte die Spur verloren.
»Nicht gerade viele Vampire auf dem diesjährigen
Karneval«, murmelte Zavier an ihrer Seite. Seine Schultern stießen
beim Laufen gegen ihre, deshalb ging er ein wenig auf Abstand.
»Vielleicht rotten sie sich seit Nedas’ Tod irgendwo anders
zusammen, um sich neu zu organisieren.«
Victoria hatte Nedas, Liliths Sohn, in derselben
Nacht getötet, als Akvans Obelisk zerstört worden war. Nedas war
der mächtige Anführer der Vampire in Rom gewesen, dem die Tutela
treu ergeben war. Seit seiner Vernichtung war das weitere Schicksal
seiner Gefolgsleute und der Tutela ungeklärt, genau wie die Frage,
wer seine Nachfolge antreten würde.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Beauregard
sich die Gelegenheit entgehen lassen würde, die Kontrolle über die
Vampire Roms an sich zu reißen.« Victoria stieg über einen
niedrigen Eisenzaun hinweg, wobei sich der Saum ihrer Hose - zum
Glück war ihre Mutter nicht zu Hause gewesen, als sie sie angezogen
hatte - an einer der Spitzen verfing. »Er hat beinahe gegeifert bei
der Nachricht von Nedas’ Tod, und dann wollte er Max vor den Augen
der versammelten Vampire hinrichten.« Ihre Finger fühlten sich
eisig an, obwohl die Luft nur kühl war. »Wir haben es nur mit Müh
und Not lebend dort herausgeschafft.«
»Gab es da nicht noch einen anderen Vampir, der
Nedas beerben wollte?«
»Doch, der Conte Regalado, der damals der
Anführer der Tutela war, war leidenschaftlich daran interessiert.
Er wurde erst kurz zuvor selbst zum Vampir, deshalb ist seine Macht
noch nicht sehr groß. Andererseits scheint er nicht nur die
Unterstützung der Tutela zu genießen, er hat auch einige von Nedas’
Getreuen auf seine Seite gezogen. Tatsächlich ist es nicht zuletzt
Regalados Einmischung zu verdanken, dass Max und
ich Beauregard entkommen konnten.« Regalado war außerdem auch der
Vater jener Frau, die Max zu heiraten beabsichtigt hatte, eine
Frau, die es genoss, wenn Vampire von ihrem Blut tranken.
Victoria überlegte flüchtig, ob Regalado, jetzt
da er ein Vampir war, wohl je Sarafinas Blut getrunken hatte.
Vulgär genug wäre er dazu.
Und Sarafina war verrucht genug, um es
zuzulassen.
In Wahrheit hätte Victoria die Schlacht zwischen
den beiden verfeindeten Vampirgruppen ohne Sebastians Hilfe nicht
überlebt. Aber zumindest glaubte sie jetzt, eine Möglichkeit
gefunden zu haben, um ihn aufzuspüren.
Victoria war so sehr in ihre Überlegungen
vertieft, dass sie erst bemerkte, wie Zavier stehen geblieben war,
als etwas sie am Ärmel zog. Sie ließ die Maske fallen, wirbelte mit
erhobenem Pflock herum und hätte ihn dem Venator um ein Haar in die
breite Brust gestoßen.
Doch anstatt überrascht oder beleidigt zu
reagieren, sah er sie mit Belustigung in den Augen an. »Sie können
den da für einen Moment runternehmen.«
»Nein, das kann ich nicht«, erwiderte Victoria,
die in der Dunkelheit hinter ihm eine vage Bewegung registriert
hatte. Ihre Nackenhärchen richteten sich wieder auf, während sich
das Kältegefühl erneut verstärkte.
Mit dem Pflock in der Hand folgte sie den
glimmenden roten Augen; sie sprang über einen Grabstein hinweg und
geriet ein wenig ins Schlittern, als sie auf dem feuchten Gras
landete.
Der Vampir musste angenommen haben, auf ein
Liebespaar gestoßen zu sein, das über den Friedhof schlenderte, um
ein
paar stille Minuten jenseits des Karnevals zu genießen, denn er
blieb einfach abwartend im Gebüsch hocken, bis Victoria plötzlich
mit gezücktem Pflock vor ihm stand. Als ihm nun bewusst wurde, dass
sie ihm furchtlos gefolgt war, drehte er sich um und rannte
weg.
Beschwingt lief Victoria ihm nach. Sie genoss
es, die Zügel schießen zu lassen, über Grabsteine und niedrige
Zäune zu springen, bevor sie schließlich ein halb eingestürztes
Mausoleum umrundete und den Vampir von hinten attackierte. Als sie
sich gegen ihn warf, fühlte sie die Wucht des Zusammenstoßes kaum.
Sie stürzten zu Boden, wo sich die weiten Hosenbeine ihres Kostüms
um ihre Knöchel wickelten, als er sich mit gebleckten Fangzähnen
auf sie rollte.
Seine Augen waren rot, die Farbe von Chianti,
und sie glühten, als er das Gesicht zu ihr nach unten neigte. Sie
roch Blut in seinem Atem; dann ließ sie den Pflock fallen und
fasste nach seinen Schultern, um ihn auf den Rücken zu werfen. Er
war jung und relativ schwach, wodurch er sich perfekt als
Überbringer ihrer Nachricht eignete.
Aber plötzlich kam es zu einer Abfolge rascher
Bewegungen, der Vampir bäumte sich auf, erstarrte, dann implodierte
er zu einer modrigen Wolke aus Asche und Staub. Sie rieselte auf
Victorias Gesicht, ihr Haar, ihre Wimpern, und als sie aufsah,
entdeckte sie Zavier, der über ihr stand. Er streckte ihr eine Hand
entgegen, um ihr aufzuhelfen.
»Warum haben Sie das getan?« Ohne seine Hand zu
beachten, sprang sie mühelos, kaum außer Atem und mit derselben
Bewegung den Pflock aufhebend auf die Füße. Einen Moment lang
verspürte sie das Bedürfnis, ihm das Eschenholz in die
wuchtige Brust zu rammen. Der Teufel sollte ihn holen! Der erste
Vampir, den sie seit einer Woche gesehen hatte, und er war
verpufft, noch bevor sie mit ihm hatte sprechen können. Nun musste
sie heute Nacht noch einen zweiten aufspüren - was allerdings nicht
allzu schwer sein sollte, denn vermutlich würden sich auf dem Corso
jede Menge Untote herumtreiben.
»Na ja, ich wollte Ihnen helfen.«
»Ich hatte alles unter Kontrolle. Ihre Hilfe war
überflüssig. Ich wollte ihn nicht töten, sondern mit ihm reden.«
Die Anspannung und Erregung des Kampfes war von Victoria
abgefallen, ersetzt durch Ärger und das Gefühl, noch eine offene
Rechnung zu haben. Ganz zu schweigen von dem Vampirstaub, der sie
bedeckte.
»Sie schienen in Gefahr zu sein, deshalb konnte
ich nicht einfach daneben stehen und zusehen, wie er Sie
zerfleischt.«
Victoria musterte Zaviers Gesicht, während sie
sich die muffige Asche von der Kleidung und den Haaren strich. Sie
waren fast gleich groß, auch wenn er natürlich wesentlich
muskulöser war als sie. »Ich bin durchaus in der Lage, es mit einem
einzelnen Vampir aufzunehmen«, entgegnete sie langsam und jedes
Wort betonend. Ihre Nerven waren noch immer völlig überreizt. »Ich
habe es schon viele Male zuvor getan.« Sie schloss die Augen, um
die Asche aus ihren Wimpern zu entfernen und gleichzeitig ruhig
weitersprechen zu können. »Tatsächlich habe ich schon gegen fünf
auf einmal gekämpft und trotzdem gewonnen. Ich habe ihn bewusst
nicht gepfählt, weil ich wollte, dass er eine Nachricht
überbringt.« Eine Nachricht an Beauregard, um ihn wissen zu lassen,
dass sie auf der Suche nach seinem Enkel war.
Aber natürlich hatte Zavier das nicht ahnen
können. Er wusste noch nicht einmal von dem Alchimistischen
Portal.
Als sie die Augen wieder öffnete, sah Zavier sie
noch immer an. Doch anstelle von Verwirrung, Verlegenheit oder
sogar Ärger lag in seiner Miene nichts als Bewunderung.
»Natürlich«, sagte er. »Was für ein Narr ich doch war, zu
vergessen, dass Sie von allen Frauen am wenigsten Schutz
benötigen.«
Das Lächeln, das er ihr daraufhin schenkte,
wärmte Victoria von den Wangen bis zu den Fußspitzen, und sie
musste den Blick abwenden, da sie befürchtete, zu erröten. Auch
wenn es ihr langsam zur zweiten Natur wurde, sich mit untoten
Vampiren und bösartigen Dämonen herumzuschlagen, war sie im Umgang
mit Männern doch wesentlich weniger selbstsicher.
Sie hatte erst vor eineinhalb Jahren in London
ihr Debüt gegeben und anschließend eine zwölfmonatige Trauerzeit
für ihren Ehemann Phillip eingehalten, während der sie
selbstverständlich Schwarz getragen und in der Zurückgezogenheit
seines Hauses gelebt hatte - weit weg von irgendwelchen Vertretern
des anderen Geschlechts. Keine Feste, keine Bälle, keine
Theatervorstellungen. Einsam und von Trauer erfüllt hatte sie nach
einem Weg gesucht, ihre zwei Leben miteinander zu
vereinbaren.
Sie war dabei zu dem Schluss gelangt, dass es
für sie keine Möglichkeit gab, ein echtes Leben zu führen, mit
einer wirklichen Beziehung zu einem Mann. Sie war den Venatoren
verpflichtet, und jetzt, als Illa Gardella, umso mehr. Zwar würde
sie sich von Zeit zu Zeit in der Gesellschaft blicken lassen, dabei
jedoch nie wieder so sehr Teil von ihr werden, wie sie es früher
gewesen war. Sie würde nie wieder heiraten, nie ein
Kind bekommen, so sehr ihre Mutter sich das auch wünschen
mochte.
Aber als sie nun die Bewunderung und
Zärtlichkeit in Zaviers Miene bemerkte, fragte sie sich, ob es
tatsächlich so sein musste. Ob sie wirklich allein bleiben und
jeden zurückweisen musste, der sich für sie interessierte - oder
für den sie sich interessierte. Der letzte Rest ihrer Verärgerung
verrauchte.
»Ich hoffe, Sie vergeben mir«, sagte der Schotte
gerade, und Victoria stellte fest, dass er irgendwann seine große,
warme Hand um ihre geschlossen haben musste. Die, in der sie keinen
Pflock hielt. »Es ist nur so, dass ich … dass ein Mann nun mal die
Aufgabe hat, eine Frau zu beschützen. Ich habe in dem Moment
einfach nicht daran gedacht, dass Sie ja eine Kriegerin sind, und
eine erbitterte noch dazu. Es ist schwer, das in Einklang zu
bringen mit … nun ja.« Seine Stimme verebbte, und Victoria hätte
schwören können, dass er errötete, wäre sein Gesicht nicht schon
vor Kälte ein wenig rot gewesen.
»Ich bin nicht verärgert«, beruhigte sie ihn,
als er nicht in der Lage zu sein schien, seine Gedanken zu Ende zu
bringen. »Aber ich bin froh, dass Sie mich verstehen, Zavier. Wenn
ich jemals Hilfe brauchen sollte, wird es offensichtlich
sein.«
Er senkte den Blick zu ihren verschlungenen
Händen - ihre kleine, weiße in seiner großen -, und als er dann
wieder aufsah, spürte Victoria, wie ihr Herz heftig zu pochen
begann.
Aber noch bevor er etwas sagen konnte, erregte
ein Rascheln neben einem großen Mausoleum ihre Aufmerksamkeit.
Zavier drückte zur Warnung ihre Finger, dann ließ er sie los. Leise
schlichen sie über eine umzäunte Grasfläche auf das Steingebilde
zu. Es war beinahe so groß wie ein kleines Haus, und sein
cremefarbener Stuckmarmor wirkte im fahlen Mondlicht grau und
abweisend.
Die prachtvolle Vorderseite des Mausoleums war
von einem breiten, ausladenden Gesims überdacht und an den Ecken
mit sich kräuselnden Stuckblättern verziert. Der in das Fries
eingemeißelte Familienname war von Moos überwuchert und somit von
Victorias Position aus nicht zu entziffern. Eine quadratische
Kuppel, die möglicherweise eine Glocke beherbergte, erhob sich in
der Mitte des Flachdachs. Der Haupteingang, der ein Stück unter der
Erde lag und über eine kurze Treppe zu erreichen war, wurde von
zwei Säulen flankiert. Die Büsche, die zuvor geraschelt hatten,
waren Teil einer großen Gruppe von Pinien und Steineichen, die als
dichte Traube so nah an der Gruft wuchsen, dass die ganze Umgebung
in tiefe Dunkelheit getaucht wurde.
Victorias Genick war nur so kalt, wie es der
kühlen Februarluft entsprach, deshalb war sie sicher, dass außer
dem Vampir, den Zavier gepfählt hatte, keine weiteren Untoten in
der Nähe waren. Vielleicht lauerte hier überhaupt nichts
Bedrohliches, und es war nur ein Igel oder ein Hase gewesen, der
durch das Laubwerk gehuscht war.
Doch dann sah sie, während sie näher
heranschlichen, etwas Helles im Gebüsch aufleuchten und hörte
weiteres Geraschel. Zu Zaviers Ehre musste gesagt werden, dass er
weder versuchte, sie aufzuhalten, noch die Führung zu übernehmen.
Zusammen pirschten sie sich weiter und folgten dem Rascheln, als
Victoria etwas - oder jemanden - hinter sich spürte.
Sie drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um
zu sehen, wie ein großes, schwarzes Leintuch über sie geworfen
wurde.
Mit einem Warnschrei zu Zavier duckte sie sich weg, als sich auch
schon zwei große Männer, die von der Rückseite des Mausoleums
gekommen sein mussten, auf sie stürzten.
Victoria stützte sich auf einem Grabstein ab,
drosch mit den Beinen um sich und verpasste dabei einem der beiden
einen Tritt in den Bauch, sodass er mitsamt der Decke, mit der er
sie hatte überrumpeln wollen, zu Boden sackte. Der andere griff
nach ihrem Arm, aber sie entwand sich ihm mit solchem Schwung, dass
sie in dem Lorbeergestrüpp landete, in welchem sie zuvor das helle
Aufblitzen gesehen hatte.
Die Äste waren hart und stachelig, außerdem war
der Angreifer ihr gefolgt und versuchte nun, sie mit aller Gewalt
aus dem Unterholz zu zerren. Victoria hörte einen Ruf, sah auf und
erblickte Zavier, der hinter dem Mann stehen geblieben war und mit
in die Hüften gestemmten Händen das Geschehen beobachtete.
Er hatte also dazugelernt.
Doch dann rammte ihn etwas von hinten, als sich
ein dritter Gegner ins Getümmel stürzte, und Zavier ging in einem
Chaos von Fäusten und tretenden Füßen zu Boden.
Mit einem Aufschrei versetzte Victoria ihrem
Angreifer einen derart heftigen Kick, dass sie noch tiefer in das
Gestrüpp zurückgeschleudert wurde. Aber sie schaffte es, sich auf
die Seite und aus den Büschen herauszurollen, dann sprang sie
wieder auf die Füße. Sie wirbelte um die eigene Achse, als sie in
dem dunklen Dickicht hinter sich plötzlich etwas bemerkte.
Ein blasses Gesicht mit hellem Haar. Eine
Gestalt, die sich durch das Gestrüpp davonzuschleichen versuchte,
und zwar
mit denselben Bewegungen wie zuvor die Person, die das Gipsbonbon
nach ihr geworfen hatte.
Aber noch bevor Victoria reagieren konnte, wurde
sie wieder zu Boden gestoßen, wo sie mit dem Gesicht voran in dem
feuchten Gras landete. Wieder wurde das Leintuch über sie geworfen;
noch bevor sie sich zur Seite wälzen konnte, umhüllte es schon ihre
Vorderseite mitsamt dem Gesicht und blieb dort haften, während der
Angreifer sie hochhob.
Starke Arme umschlangen sie und pressten ihre
eigenen, von dem Leintuch umwickelten, eng an ihren Körper.Victoria
rang unter dem schweren Gewebe nach Luft, wand und trat um sich,
bis sie zwei gute Treffer gegen die Beine des Mannes landete, der
sie festhielt, dann schmetterte sie ihren Kopf nach hinten.
An dem befriedigenden Knacken und daran, dass er
sie plötzlich losließ, erkannte Victoria trotz ihres dröhnenden
Kopfes, dass sie ihr Ziel getroffen hatte. Sie taumelte zu Boden,
und es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich aus den Falten des
Leintuchs befreit und auf die Füße gerappelt hatte.
Als sie es schließlich geschafft hatte, war
Zavier schon bei ihr. Sein rotes Haar stand in wirren Büscheln nach
allen Seiten ab, und er atmete schwer. »Alles in Ordnung?«, fragte
er, zufrieden grinsend.
Sie blickte sich um. Ihre Gegner hatten das
Weite gesucht, sodass nun nur noch sie beide keuchend auf dem
dunklen Friedhof standen. Dann wandte Victoria sich dem Gestrüpp
zu, in dem sie dieses Gesicht gesehen hatte, von dem sie sich
sicher war, dass sie es kannte. Aber dort war nun nichts mehr außer
flachgedrückten Büschen und zerbrochenen Zweigen - die sowohl
von ihrem eigenen Sturz in das Dickicht als auch von der Person
stammten, die das Ganze beobachtet hatte.
»Sie sind entkommen«, stellte sie fest.
»Ja, das sind sie. Haben mich von hinten
überrascht - drei von ihnen gleichzeitig. Ein Pflock hatte bei
ihnen nicht viel Sinn«, erklärte er kameradschaftlich.
Er hatte Recht,Venatoren kämpften nun einmal
leider nicht mit Pistolen oder Messern. Ihr Ziel waren die Untoten,
und nicht gefährliche Menschen. Doch es schien Zavier nicht weiter
zu kümmern, dass ihren Angreifern die Flucht gelungen war.
»Wer waren sie?« Victoria sah sich wieder nach
allen Seiten um. »Und warum wollten sie mich entführen? Haben die
das bei Ihnen auch versucht?«
»Nein, sie schienen mich lediglich aus dem Weg
räumen zu wollen, um an Sie heranzukommen. Sobald sie erkannten,
dass sie es nicht mit uns aufnehmen konnten, sind sie allesamt
weggerannt.«
Victoria sah nach oben zu dem Fries des
Mausoleums mit dem eingravierten Familiennamen. Obwohl sie noch
immer nicht alle Buchstaben lesen konnte, entzifferte sie dennoch
genug, um eine Schlussfolgerung ziehen zu können: Die Person, die
mit dem harten Gipsbonbon nach ihr geworfen hatte, um ihre
Aufmerksamkeit zu erregen, musste Sarafina Regalado gewesen
sein.
Doch nun stellte sich die Frage, was Max’
ehemalige Verlobte mitten in der Nacht an der Gruft ihrer Familie
zu suchen hatte.