Kapitel 11
In welchem sich eine Satinrose als überaus nützlich erweist
Wie so oft, wenn sie und Sebastian sich küssten, fand Victoria sich in einer leicht prekären Lage wieder, was bedeutete: Sie war hilflos, aus dem Gleichgewicht geraten und an den Händen gefesselt. Dennoch schloss sie nun in der Finsternis die Augen und öffnete den Mund, als seine Lippen die ihren berührten, und hieß seine schlüpfrige Zunge willkommen. Der Schmerz in ihrer Hand und ihrem Bein ließ nach und verklang schließlich ganz, während sie sich ihrem langen Kuss hingab. Wie sehr hatte sie all das vermisst - die intimen Berührungen, die leidenschaftlichen Zungenspiele, Sebastian selbst.
Sie konnte nicht ihn selbst sehen, nur den dunklen Umriss seines Schattens. Aber sie stellte sich sein anziehendes Gesicht und die weichen Locken seiner goldblonden Löwenmähne vor, die von seinem Kampf gegen die Vampire bestimmt zerzaust sein musste. Seine walnussbraunen Augen waren eine Nuance dunkler, und seine Haut zeigte - ganz anders als der bleiche Teint seines Großvaters - stets eine goldene Tönung. Sie hatte schon oft gedacht, dass er ironischerweise wie ein Bronzeengel aussah.
Er ließ seine weichen, sinnlichen Lippen mit ihren verschmelzen, anschließend leckte und knabberte er an ihrem Mundwinkel. Dann begann er sanft an ihrer Unterlippe zu nagen - genau an der Stelle, wo sein Großvater sie letzte Nacht gebissen hatte. Victoria erschrak, als ihr das bewusst wurde, als sie seine Zähne an dem empfindsamen Fleisch ihrer Lippe spürte, und sie versuchte, sich zurückzuziehen. Doch er umfing ihr Gesicht mit den Händen und küsste sie leidenschaftlicher als je zuvor.
»Ich dachte … Sie würden … Kutschen bevorzugen,Vioget«, ertönte plötzlich eine raue, verdrießliche Stimme.
Victoria zuckte zusammen, dann versuchte sie, sich Sebastian gewaltsam zu entziehen, doch der schien keineswegs die Absicht zu haben, sie loszulassen. »Max? Gott sei Dank, du bist am Leben!«
»Deine … Anteilnahme … überwältigt mich.« Es folgten ein leises, scharrendes Geräusch und ein keuchender Atemzug. »Vielleicht wärst du so freundlich … dieses Messer … hierher zu bringen. Natürlich erst«, seine Stimme verebbte, dann wurde sie plötzlich kraftvoller, »sobald du fertig bist. Ich denke ja nicht, dass das … sehr lange dauern wird.«
»Kutschen, Salons, Kerker«, erwiderte Sebastian sorglos. »Wo auch immer sich die Gelegenheit bietet. Was öfter geschieht, als Sie sich vermutlich auch nur vorstellen können - geschweige denn selbst je erlebt haben.«
Während er sprach, hatte Sebastian sie losgelassen, was vermutlich in erster Linie daran lag, dass Victoria das Gesicht von seinen suchenden Fingern und Lippen ferngehalten hatte, als er sie wieder küssen wollte. Stattdessen rutschte er jetzt mit den Händen an ihren Hüften um sie herum, bis er die richtige Position gefunden hatte.
Zu spät dämmerte ihr, dass sie nun, da er mit dem Messer in der Hand hinter ihr kniete, ihm gegenüber noch mehr im Nachteil war. »Rühr dich nicht, Victoria.« Seine Stimme schlängelte sich wie weicher Rauch in ihr Ohr, und sein Atem strich warm über ihre Haut. »Dieses Messer ist sehr scharf, und ich sehe nicht, was ich tue. Es würde mir wirklich leidtun, deine hübsche Haut anzuritzen. Außerdem würde das frische Blut unweigerlich die Vampire anlocken.«
Mit einer Hand schob er ihre dichte Lockenmähne beiseite, die ihr mittlerweile offen über den Rücken hing, dann drückte er die Lippen an die sensible Stelle, wo sich Victorias Schulter und Hals trafen. Anfangs federleicht, dann fester küsste er unter Zuhilfenahme seiner Zunge ihre Haut, während er mit einer Hand ihre Fesseln durchschnitt.
Unwillkürlich entwich ihr ein winziges Seufzen, während er wohl wissend, wie erregbar sie dort war, an der Sehne saugte und knabberte. Bestimmt hatte Max ihre Reaktion gehört, ebenso wie die gierig leckenden Geräusche von Sebastians Mund.
Er tat es mit Absicht - ob nun, um sie zu erregen oder um Max zu ärgern, wusste Victoria nicht. Es blieb ihr nichts weiter übrig, als zu versuchen, die Liebkosungen seiner Lippen, die warm über ihre Schultern und ihren Hals glitten, zu ignorieren. Aber als er dann eine seiner Hände nach vorne schob und um eine ihrer Brüste wölbte, konnte Victoria ein plötzliches Aufkeuchen dennoch nicht unterdrücken.
Sebastian lachte leise an ihrem Ohr, und sie spürte den hei ßen, feuchten Hauch seines Atems an ihrem Hals. Sie bewegte sich so heftig zur Seite, dass sie das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte, wobei sie jedoch in dem Versuch, sich abzufangen, wieder mit aller Kraft an dem Strick zerrte. Sie war stark genug, und das Messer hatte ihn inzwischen ausreichend zerfasert. Endlich gab er nach, und obwohl sie trotz allem mit der Wange halb auf den kalten, sandigen Steinen landete, waren ihre Hände nun endlich frei.
Sie rollte sich von Sebastian weg, bevor er wieder nach ihr greifen konnte; was er offensichtlich versuchte, denn sie spürte den Luftzug, als seine Hand durch die Luft schnitt. »Ich habe genug von deinen Spielchen, Sebastian. Dürfte ich jetzt bitte mein Messer zurückhaben?«
Victoria rechnete insgeheim damit, dass er sie ärgern und einen Kuss oder irgendeine andere Art von Bezahlung verlangen würde, deshalb war sie überrascht, als sie hörte, wie er es vor ihr auf den Boden fallen ließ.
»Wenn wir nur irgendein Licht hätten«, sagte sie, während sie auf der Erde herumtastete, bis ihre Finger das Stilett fanden. Behutsam ließ sie sie an der Klinge nach unten gleiten, dann umfasste sie den Griff und hob es auf. Es war nicht länger als ihre Hand vom Mittelfinger bis zum Handgelenk und etwa so breit wie ihr kleiner Finger. Das Messer war insgesamt beinahe so flach wie das Korsettstäbchen, das es ersetzt hatte, dabei aber von tödlicher Schärfe.
Miro hatte die Waffe speziell für sie und nach ihren eigenen Vorstellungen entworfen. Der Silbergriff war sehr kurz und nur eine Knöchellänge von der kurzen, flachen Parierstange entfernt. Damit ließ sich die Klinge problemlos in das in ihr Korsett eingenähte Futteral schieben, sodass der Griff unten nur ein kurzes Stück herausragte, wodurch verhindert wurde, dass er sie beim Gehen oder Bücken ins Bein stechen konnte. Die zweite einzigartige Sache an dem Stilett war, dass auch die Klinge jenseits der Parierstange noch etwa zwei Zentimeter weit mit demselben Silber überzogen war wie der Griff, sodass Victoria die Finger um die Parierstange legen und die Klinge zwischen ihnen hervorragen konnte, ohne dass sie Gefahr lief, sich zu verletzen. Wegen der Kürze des Griffes war dies die einzige Möglichkeit, wie sie das Stilett bequem halten konnte.
Und seine Effizienz hatte es durch die Leichtigkeit, mit der es die Seile durchschnitten hatte, gerade unter Beweis gestellt.
»Ich habe Licht«, verkündete Max mit nun etwas festerer Stimme. »Allerdings werde ich ein wenig Hilfe brauchen.«
Victoria spürte, dass Sebastian sich bewegte, allerdings schien er sich mittlerweile ein Stück von ihr entfernt zu haben. »Sebastian? Was tust du?«
»Ich überprüfe natürlich die Tür, um herauszufinden, ob sie sich irgendwie öffnen lässt.«
Victoria wollte einwenden, dass sie seine Unterstützung bräuchte, um Max frei zu bekommen, unterließ es dann aber. Stattdessen fühlte sie auf dem Boden herum, bis sie auf etwas Warmes stieß. Etwas, das sehr, sehr feucht war. Klebrig feucht.
»Lieber Himmel, Max!«, rief sie erschrocken aus, während sie ihn hektisch mit den Händen untersuchte, um festzustellen, wo genau er verletzt war, wobei sie ihm versehentlich die Finger ins Gesicht stieß.
»Herrgott noch mal, Victoria. Willst du mir die Augen ausstechen?«
Sie verlangsamte ihre hastigen Bewegungen und strich ihm vorsichtig über die warme, nasse Wange und dann den Hals hinunter, wobei sie sich von seinem scharfen Mundwerk fernhielt. »Es gibt keinen Grund, zu fluchen. Ich kann nicht die Hand vor Augen sehen!«
»Offensichtlich«, brummte er mit einem tiefen Seufzer. »Ich habe ein Licht. Sobald du mich von diesen verdammten Fesseln befreit hast.« Sein Atem ging schwer, und sie merkte, welche Kraftanstrengung es ihn kostete, ihn gleichmäßig zu halten.
Rasch durchschnitt sie die Stricke, mit denen man ihm die Hände auf den Rücken gebunden hatte, dann hörte sie, wie er erleichtert stöhnte, als seine Arme freikamen. »Wo ist jetzt dieses Licht?«, fragte sie nervös, denn das Letzte, was sie wollte, war, an Max’ langem, starkem Körper herumzutasten. Erst recht nicht, wenn er verletzt war.
»In meinem linken Stiefel.«
Erleichtert ließ Victoria die Hände mit sachten Bewegungen an seinen Seiten nach unten gleiten, wobei sie sorgsam darauf achtete, nicht irgendetwas zu berühren, das sie in Verlegenheit bringen könnte, während sie gleichzeitig mit zunehmendem Entsetzen registrierte, dass es an ihm mehrere Stellen gab, die klatschnass waren. Der Geruch von Blut war so stark, dass sie glaubte, das Eisen in ihrem Mund schmecken zu können. »Wurdest du gebissen?«, fragte sie, als sie das untere Ende seiner Wade erreichte und ihre Finger auf das weiche, geschmeidige Leder seines Stiefels trafen. »Noch einmal?«, ergänzte sie, sich daran erinnernd, wie Sara Max’ Hemdkragen zur Seite gezogen hatte.
»Nein, ich wurde angeschossen.« Er klang, als hätte sie das irgendwie wissen müssen. »Und es tut höllisch weh, wenn du dich also bitte … beeilen würdest.«
Wie ein Diener kniete sie sich daraufhin vor seine Füße und zog an seinem Stiefel.
»Nein«, blaffte er. »Weiter unten. Im Absatz. Man kann ihn abnehmen. Darin sind ein paar kleine Holzstäbchen. Lass sie bloß nicht … fallen! Und ein Stück Sandpapier.«
»Ah, gewiss eine Erfindung des berühmten Miro«, kam Sebastians unverkennbar gelangweilte Stimme von der anderen Seite des Verlieses.
»Woher weißt du von Miro?«, fragte Victoria überrascht, während sie sich so schnell sie konnte an Max’ Stiefelabsatz zu schaffen machte. Er ließ sich leichter lösen als erwartet, und als sie ihn dann befühlte, stellte sie fest, dass er nicht mehr war als ein kleines Kästchen mit einem Deckel.
»Ich weiß über sehr vieles Bescheid.«
Max schnappte hörbar nach Luft, so als hätte er etwas Lustiges gehört oder als wäre er von einer neuen Welle des Schmerzes erfasst worden, doch er erwiderte nur: »Leider fangen Sie mit Ihrem Wissen wenig an, habe ich … nicht Recht,Vioget?«
»Ich habe jetzt diese kleinen Hölzchen und das Papier. Was soll ich damit tun?«
»Such etwas, das … brennt. Eine dieser lächerlichen Blumen auf deinem Kleid. Dann sind sie wenigstens zu irgendetwas nütze.«
Anstatt zu antworten, biss Victoria sich auf die Lippe. Der Mann hatte - Venator hin oder her - große Schmerzen, deshalb sollte sie ihm seine Grobheit nachsehen. Sie schnitt vorsichtig eine der Satinrosen vom Saum ihres Kleides und stellte fest, dass Max Recht hatte - sie würde sich gut als Fackel eignen. Eine clevere Idee, auch wenn sie sich ein wenig darüber ärgerte, dass er vor ihr daran gedacht hatte.
Die aus eng geknüpften Satinbändern genähte Rosette war etwa so groß wie ihre Handfläche. Sie würde nicht ewig brennen, doch Victoria hatte viele Blumen, von denen bestimmt jede einzelne mehrere Minuten lang Licht spenden konnte. »Und was jetzt?«
»Gib mir eines der Hölzchen. Und das Papier.«
Sie rutschte wieder hoch zu Max’ Kopf, und ihre Hände fanden einander mühelos. Seine Finger waren beängstigend kalt und zitterten leicht, als er ihr erst den schmalen Holzstab und dann das Papier abnahm.
Victoria hörte ein schwaches, schleifendes Geräusch, bevor gleich darauf ein winziges Feuerwerk Max’ Gesicht erhellte. Mit dem dunklen Haar, das ihm an Stirn und Schläfen klebte, und den eigentlich vollen und ebenmäßigen, aber nun zusammengepressten Lippen ähnelte es einer hohläugigen, grimmigen Maske.
»Wo ist die verdammte Blume?«
Victoria deutete auf den Boden, dann beobachtete sie, wie er sich auf die Seite rollte, um die kleine Flamme an die Satinrose zu halten. Sie sah, wie das Feuer näher an seinen Fingern tanzte, sah, wie er darum kämpfte, die Hand ruhig zu halten, während er versuchte, sie zu entfachen. Mit einem ungeduldigen Seufzer hob sie die Blume auf und hielt sie in die Flamme.
Sobald sich das erste Stoffblatt entzündet hatte, legte sie die Blume zurück auf den Boden, wo sie nun vollständig Feuer fing. Victoria hob den Blick zu Max’ Gesicht und stellte fest, wie nahe es war; sie sahen einander über der kleinen Flamme des Hölzchens in die Augen, dann blies er sie aus.
Sie hatte Schmerz in seinen Zügen gesehen. Einen tiefen, peinigenden Schmerz, als er für einen kurzen Moment nicht auf der Hut gewesen war.
»Wo wurdest du getroffen?« In ihrer Stimme lag eine ganz ungeahnte Sanftheit.
»In die Schulter. Und in mein rechtes Bein, allerdings glaube ich, dass es nur ein Streifschuss war.«
Ein normaler Mann wäre wegen der Kälte des Kerkers, des Blutverlusts und nicht zuletzt auch wegen der Schläge, die er hatte einstecken müssen, längst bewusstlos.
Noch bevor sie reagieren konnte, schälte er sich bereits aus seinem schweren Umhang, der nach Blut und nasser Wolle roch. Sie half ihm dabei, sich den Mantel von den Schultern zu ziehen, dann entdeckte sie den riesigen, dunklen Fleck, der auf seinem weißen Hemd schimmerte. Er prangte, wie ihr plötzlich bewusst wurde, direkt oberhalb der Brustwarze, von der seine winzige vis bulla hing.
Victoria verspürte ein unbehagliches Magenziehen, als sie daran zurückdachte, wie er ihre Hand an das Amulett gepresst hatte, als sie Kraft und Energie benötigte, und wie warm und straff sich seine Haut unter ihren widerstrebenden Fingern angefühlt hatte.
Sie streckte wieder die Hand aus, um ihm zu helfen, aber er schlug sie weg.
»Zerreiß den Umhang, damit ich das hier verbinden kann. Anschließend müssen wir einen Weg hier heraus finden, denn andernfalls war die ganze Mühe umsonst.«
»Deinen Umhang? Sei doch nicht albern; die Wolle wird viel zu kratzig sein.« Sie riss ein großes Stück aus ihrem Unterhemd heraus, dann reichte sie ihm, als er keine Anstalten machte, sich von ihr verbinden zu lassen, die zusammengeknüllte, feine Baumwolle.
»Was haben Sie entdeckt,Vioget?«
»Nichts, das uns nützen könnte. Die Tür ist aus eisenbeschlagenem Holz und von außen fest verriegelt, und auch die Scharniere befinden sich auf der anderen Seite. Falls du, liebste Victoria, also nicht noch irgendwelche wesentlich massiveren Werkzeuge in deinem Korsett verbirgst, werden wir dieses Gefängnis erst verlassen, wenn sie die Tür öffnen. Und darauf wollen wir ganz bestimmt nicht warten.«
»Nein«, stimmte Max ihm zu.
»Also haben sich Sara Regalado und ihr Vater - vermutlich sogar die gesamte Tutela - mit Akvan verbündet«, sinnierte Victoria. »Und sie haben die Leute vermutlich hierher gelockt, damit die Vampire ihren Hunger an ihnen stillen können.«
»Nicht die gesamte Tutela«, korrigierte Sebastian sie. »Ein großer Teil davon ist noch immer meinem Großvater treu ergeben.« Seine Stimme klang leicht angespannt.
Nachdem Akvans Obelisk unschädlich gemacht worden war - und mit ihm Nedas, der damals mächtigste Vampir Italiens -, war ein brutaler Machtkampf zwischen Beauregard und Saras Vater Regalado entbrannt. Als noch sehr junger Vampir war der Conte nicht annähernd so einflussreich wie Beauregard; aber vielleicht glaubte er ja, diesen besiegen zu können, indem er sich auf die Seite des Dämons Akvan schlug.
Keine schlechte Strategie.
Jetzt verstand sie, wen Beauregard mit Regalados neuem Verbündeten gemeint hatte.
»Nicht nur die Vampire«, warf Max ein. »Auch Akvan selbst wird sich an den Menschen vergehen, die hier in der Falle sitzen.«
Victoria versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. »Auf welche Weise vergeht er sich an ihnen? Trinkt er ihr Blut?«
»Er ernährt sich von Menschenköpfen.« Sebastian verzog das Gesicht. »Aber dennoch irrt ihr euch, und zwar alle beide«, fügte er dann mit grimmiger Befriedigung hinzu. »Es sind nicht so sehr die Sterblichen, die sie hierher locken wollten. Ich kann nicht glauben, dass ihr das nicht selbst erkennt.«
»Doch, das tue ich. Es ging die ganze Zeit über um Victoria.«
Auch sie begriff nun. Die Untoten hatten Sterbliche entführt - und vor ihnen Katzen und Hunde -, um Akvan über Monate hinweg zu füttern. »Sara hat schon zuvor versucht, mich in ihre Gewalt zu bringen. Diese Schatzsuche war also nichts weiter als ein für mich ausgeworfener Köder.« Sie schaute Max an. »Sie haben es auf den Schlüssel abgesehen. Tante Eustacias Schlüssel.«
»Oder aber einfach nur auf dich. Was ich jederzeit verstehen könnte«, fügte Sebastian trocken hinzu. »Dieser Virus scheint allerdings in letzter Zeit um sich zu greifen.«
»Lass sie nicht ausgehen«, befahl Max plötzlich und zeigte auf die erlöschende Rosenblüte.
Victoria reagierte sofort, indem sie schnell eine weitere Stoffblume abschnitt und sie an der noch brennenden entzündete. Als sie anschließend den Kopf hob, trank Max gerade etwas aus einer kleinen Phiole.
»Was ist das?«
Er starrte sie verärgert an, während er noch schluckte, dann korkte er das Fläschchen wieder zu und verstaute es in seiner Tasche. »Ist das da oben ein Fenster?«
Victoria sah hoch und bemerkte nun zum ersten Mal das schwache, dunkelgraue Rechteck knapp unterhalb der Decke. Es unterschied sich kaum von den Mauersteinen, nur dass es ein wenig größer und eine winzige Nuance heller war.
»Sebastian, lass mich auf deinen Schultern stehen.«
Mit belustigter Miene trat er zu ihnen in den kleinen Lichtkreis. »Welch glänzende Gelegenheit, meine Erinnerung an das, was du unter deinem Rock verbirgst, ein wenig aufzufrischen«, murmelte er und zog Victoria dabei zur Wand.
Sie widerstand dem Drang, seine Bemerkung zu kommentieren. Stattdessen stieg sie, sich dabei mit den Fingernägeln an den Mauerritzen festhaltend, auf Sebastians gebeugte Knie und von dort aus auf seine Schultern, bevor er sich zu voller Größe aufrichtete, sodass sie mit dem Kopf fast gegen die gemauerte Decke stieß. »Es ist tatsächlich ein Fenster. Allerdings ist es viel zu klein, als dass einer von uns hindurchkriechen könnte.«
»Was siehst du dahinter?«
Sebastian ließ die Finger, mit denen er bis dahin ihre Knöchel umfasst hatte, nun über Victorias Waden nach oben gleiten, wobei eine leise, köstliche Reibung entstand - und ihre Seidenstrümpfe nach unten sackten. Sie versetzte ihm einen kleinen Stups mit den Zehen, bevor sie Max’ Frage beantwortete. »Das Fenster ist ebenerdig, deshalb kann ich nur sehr wenig erkennen. Da ist eine Mauer. Ich sehe den Himmel. Es dämmert bald, der Horizont wird allmählich grau.«
»Kannst du ein kleines, niedriges Eisentor in einer Mauer sehen?«
»Es ist sehr dunkel, Max. Ich sehe so gut wie gar nichts.«
»Hier.«
Das spärliche Licht in dem kleinen Raum unter ihr kam näher, und Victoria griff nach unten, um Max, der zwar aufgestanden war, sich jedoch schwer gegen die Wand lehnte, die Rose abzunehmen. Er hatte eine Hand auf seiner Schulterverletzung, allerdings schien sein Gesicht nicht mehr ganz so verkrampft zu sein. Was auch immer in dieser Phiole gewesen war, wirkte schnell.
Nachdem sie die Fackel auf dem schmalen Fenstersims abgestellt hatte, konnte Victoria den Garten auf der anderen Seite erkennen. »Ja, da ist irgendein kleines Objekt; es scheint ein Gitter zu sein. Aber es ist wirklich winzig, Max.«
»Genau, wie ich gedacht habe. Du kannst jetzt runterkommen.«
Behutsam gab sie Max die Kerze zurück, bevor Sebastian ihr mit großem Eifer dabei half, von dem Fenster wieder nach unten zu gelangen, indem er sie an Körperstellen abstützte, die nicht das Geringste mit ihrer Balance zu tun hatten.
Sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen und Sebastians forschende Finger abgeschüttelt hatte, stellte sie fest, dass Max neben der Mauer auf dem Boden kauerte.
»Max? Ist alles in Ordnung?«
»Geh aus dem Licht.«
»Was tust du da?«
Sie kniete sich neben ihn, wobei ihr nicht entging, dass Sebastian hinter ihr stehen blieb, vermutlich, um ein paar ihrer Körperregionen zu betrachten, die zu streicheln er erst kürzlich Gelegenheit gehabt hatte.
»Dieses Eisengitter befindet sich direkt vor der Magischen Tür«, erklärte Max. »Ich habe es heute Abend dort gesehen.« Er bewegte die Kerze über den Boden neben der Mauer. »Das bestätigt, was Ylito und ich schon vermutet hatten - dass nämlich diese Wand hier an Palombaras Labor grenzt.« Als er nun aufblickte, funkelte Spott in seinen Augen. »Im Gegensatz zu dir verfüge ich nämlich auch im Inneren von Gebäuden über einen exzellenten Orientierungssinn.«
»Was auch immer Sie da tun«, meldete sich nun Sebastian zu Wort, »ich schlage vor, dass Sie es schnell erledigen, denn ich schätze, dass unsere Gastgeber in Kürze zurückkommen werden. Ich würde es vorziehen, bei ihrer Rückkehr nicht mehr hier zu sein, falls es sich irgendwie vermeiden lässt. Leider muss ich nämlich davon ausgehen, dass meine Verbindung zu Beauregard mir nicht mehr lange meine gute körperliche Verfassung garantiert. Genau genommen vermutlich nur noch, bis Akvan mir ein paar explizite Fragen über meinen Großvater gestellt hat; dann wird er sich wohl über meinen Kopf und seinen Inhalt hermachen.«
»In diesem Fall«, erwiderte Max mit zusammengebissenen Zähnen, »könnten Sie sich ja vielleicht dazu herablassen, uns zu helfen. Ich glaube nämlich, dass es eine Verbindung zwischen Labor und Verlies gibt.« Er musste gehört haben, wie Victoria nach Luft schnappte, denn er fügte hinzu: »Verschwendet eure Zeit nicht mit überflüssigen Fragen. Falls ich mich irre, dann ist es eben so; aber einen anderen Fluchtweg gibt es nicht. Allerdings …« Er hielt kurz inne, dann fuhr er fort: »Offensichtlich irre ich mich nicht, denn hier ist er.«
Max rutschte auf den Knien ein Stück nach hinten. Trotz der Schmutz- und Blutflecken auf seinem Gesicht spiegelte seine Miene unverkennbar Befriedigung wider.
»Eine Tür?«, fragte Victoria zweifelnd.
»Ein Tropfen aus Gold. Geschmolzenes Gold. Hier unter der Wand, siehst du diesen Mauerstein?«
Victoria wartete nicht auf weitere Erklärungen oder Instruktionen. Gemeinsam mit Max machte sie sich an die Arbeit, indem sie mit den Fingern herumtastete, bis sie sie in die Ausbuchtung unter dem Stein schieben konnte.
Dann spürte sie plötzlich eine altvertraute, unheilvolle Kälte in ihrem Nacken. Victoria wandte den Kopf zur Seite und begegnete nur wenige Zentimeter entfernt Max’ Blick.
»Verdammt«, war alles, was er sagte.
»Sehr wahrscheinlich kommen sie wegen mir«, flüsterte sie.
»Oder um herauszufinden, ob Beauregards Enkel etwas weiß, das Akvan von Nutzen sein könnte«, erwiderte Max beinahe fröhlich. »Beziehungsweise uns allen.«
»Wir lassen es einfach so aussehen, als ob wir noch immer gefesselt wären. Dann können wir sie überrumpeln, sobald sie hereinkommen. Max, du musst so tun, als wärst du immer noch bewusstlos.«
»Danke für den Tipp.«
»Sebastian, falls du das schaffst, ohne dich ablenken zu lassen, dann binde mir die Handgelenke wieder zusammen. Schnell. Nein, warte.« Sie drehte sich um und schob die Hand unter ihr Kleid und zu ihrem Korsett, aus dem sie zuvor das Stilett befreit hatten, um rasch den an seiner anderen Seite verborgenen schmalen, aber dennoch tödlichen Pflock hervorzuziehen.
Sie steckte ihn in eine der kleinen Schlaufen an der Rückseite ihres Rockes (die Verbena speziell für einen Notfall wie diesen dort angebracht hatte), dann ließ sie sich von Sebastian die Handgelenke fesseln, allerdings locker genug, dass sie sich jederzeit selbst würde befreien können. Dann tat sie mit ungelenken Bewegungen das Gleiche bei ihm.
Max legte sich wieder an dieselbe Stelle wie zuvor, und Victoria kauerte sich neben seinen Füßen an die Wand. Dann trat sie die letzte der brennenden Satinblumen aus.
Nur noch ein leiser Rauchgeruch hing in der Luft. In dem Verlies herrschte Stille.
Victorias Nacken war kälter geworden, und ihr Herzschlag hatte sich beschleunigt, woran sie erkannte, dass die Untoten näher kamen.
»Max, hast du das Messer?«
»Ja, und einen Pflock in meinem Stiefel. Greif erst an, sobald wir hier heraus sind.«
»Seb-«
Doch ein Rütteln an der Tür ließ sie verstummen.
Als sie eine Sekunde später aufgerissen wurde, beobachtete Victoria das Geschehen wieder durch zusammengekniffene Lider. Sie waren zu dritt. Nicht mehr als drei!
Sie waren groß und hatten rote Augen, und selbst durch ihre schmalen Sehschlitze konnte Victoria die blitzenden Fangzähne sehen.
Zwei von ihnen blieben bei der Tür stehen. Max hatte Recht; sie durften keinen Fluchtversuch wagen, solange sie nicht sicher draußen auf dem Korridor waren, denn sonst würden sie riskieren, von neuem in Gefangenschaft zu geraten. Der dritte Vampir, eine hochgewachsene Frau, kam mit einer Pistole in der Hand auf sie zu.
Victoria öffnete die Augen nun ganz, dann schaute sie zu dem hageren Gesicht der Frau hoch. Ihre Lider waren dunkel, ihr Kinn schmal und spitz. Langes, blondes Haar hing ihr in hässlichen Strähnen auf die Schultern, dann schwang es nach hinten, als sie Max einen derart brutalen Stiefeltritt versetzte, dass er ein Stück näher zu Victoria geschleudert wurde.
Er bewegte sich nicht und gab auch keinen Laut von sich; selbst seine Atmung schien stillzustehen.
Nun trat der Vampir auf Victoria zu und richtete die Pistole auf sie. »Akvan wartet auf dich«, zischte die Frau und leckte sich dabei mit der Zunge über die Reißzähne.
Sie trug bequeme Männerkleidung - Hose, Jacke und ein Hemd, das vermutlich einmal weiß oder zumindest hell gewesen war. Als sie sich zu Victoria hinunterbeugte, rutschte ein Lederband aus ihrem Kragen, an dem ein Anhänger befestigt war, ein kurzes, schwarzes Objekt. Victoria stockte der Atem: Der schmale Sporn lief spitz zu und schimmerte bläulichschwarz. Sie wusste sofort, was es war - ein Splitter von Akvans Obelisken, so wie jener, den sie eigenhändig in der Asservatenkammer des Konsiliums verstaut hatte.
Nur mit Mühe konnte sie den Blick von dem schwarz funkelnden Glasstück abwenden. Die Untote war inzwischen so nah, dass Victoria das Blut in ihrem Atem roch und folgerte, dass sie gerade erst getrunken haben musste.
Sie holte tief Luft und bedauerte im Stillen die Menschen, die offensichtlich gerade zu ihrer Mahlzeit geworden waren. Menschen, die keinen Zavier oder Sebastian an ihrer Seite gehabt hatten, um mit ihrer Hilfe aus der Villa zu entkommen.
»Sag deinen Freunden, sie sollen sich nicht von der Stelle rühren. Weil ich dich ansonsten nämlich erschießen werde. Steh jetzt ganz langsam auf.«
Als Victoria sich auf die Füße kämpfte, wobei sie den Pflock in ihren locker auf dem Rücken gefesselten Händen verbarg, stieß sie gegen Max und fühlte, wie seine Finger an ihren herumnestelten. Sie bewegte sich für einen kurzen Moment gemächlicher und schwerfälliger, sodass er ihr etwas Schmales und Glattes in die Hand schieben konnte.
Die Phiole, aus der er getrunken hatte.
Victoria schloss die Finger um das winzige Behältnis, dann stand sie auf, und dieses Mal war ihre Schwerfälligkeit nicht vorgetäuscht. Ihr rechtes Bein tat noch immer weh, aber zumindest konnte sie damit laufen. Als sie auf die Tür zuging, folgte ihr der weibliche Vampir dicht auf den Fersen.
Ein rascher Blick nach hinten verriet Victoria, dass die Waffe noch immer auf sie gerichtet war. Es gab für Max - oder auch für Sebastian, falls er denn bereit gewesen wäre, das Risiko einzugehen - nicht die geringste Chance, ihr zu helfen, ohne dass sie dabei erschossen werden würde.
Als sie aus dem Verlies trat und hörte, wie sich die Tür hinter ihr und den drei Vampiren schloss, fragte sie sich unwillkürlich, ob sie wohl je zurückkehren würde.
Und falls ja, ob Max und Sebastian dann noch hier sein würden.
Von zwei stummen Vampiren flankiert, ging Victoria den Gang hinunter, wobei sie die Präsenz der Untoten mit der Pistole und dem Splitter aus Akvans Obelisken direkt hinter sich spürte.
Sie brachten sie zu Akvan, aber sie würde nicht still und leise mit ihnen gehen. Die Frau hatte, als die Zellentür geschlossen war, die Pistole gesenkt und Victoria törichterweise nicht weiter in Schach gehalten. Überhaupt wirkte die Untote abgelenkt und ein wenig gehetzt, fast so, als hätte sie es eilig, zu Akvan zurückzukehren.
Aber Victoria hatte andere Pläne. Sie bewegte sich so langsam wie möglich und übertrieb dabei ihr Hinken, um Zeit zu gewinnen und die kleine Phiole, die Max ihr gegeben hatte, zu entkorken.
Sie wusste zwar nicht, was für eine Flüssigkeit darin war, aber mit Sicherheit würde sie den Feind damit überraschen können. Max hätte sie ihr nicht gegeben, wenn sie nicht nützlich wäre, und ganz bestimmt erwartete er nicht, dass sie davon trank.
Als sich der winzige Korken löste, drehte Victoria behutsam die Handgelenke, um die Vampire nicht auf ihre Akrobatik aufmerksam zu machen. Doch die Frau war damit beschäftigt, dem Untoten links von Victoria mit verärgerter Stimme irgendetwas Unverständliches zuzuraunen, und der Dritte im Bunde schien vollkommen darauf konzentriert zu sein, einen Fuß vor den anderen zu setzen, während sie weiter dem grauen Steinkorridor folgten. Offensichtlich handelte es sich bei dem weiblichen Vampir um die Anführerin, und ihre Gefährten waren nichts weiter als hohlköpfige, überdimensional große Wachmänner.
Zum Glück für Victoria waren Pflöcke bei Vampiren unabhängig von ihrer Größe und Gestalt immer wirksam, und zum Pech für die Untoten hatte sie ein solches Ass buchstäblich im Ärmel.
Sie hob nun unmerklich einen Arm, sodass die Stricke, die fest um ihre Handgelenke geschlungen wirkten, solange sie sie überkreuzt hielt, sich weit genug lockerten, dass sie die Hände herausziehen konnte.
Sie hatten vielleicht ein Dutzend Schritte zurückgelegt und waren noch immer in Sichtweite der Gefängnistür, als Victoria zum Angriff überging.
Mit der Phiole in der einen Hand und dem Pflock, den sie inzwischen aus seiner Schlaufe gezogen hatte, in der anderen, schüttete sie den Inhalt der Ampulle auf die beiden Vampire zu ihrer Linken. Ihre Fesseln glitten zu Boden. Die Untoten kreischten auf, und Victoria wirbelte mit hoch erhobenem Pflock herum, um ihn dem Vampir rechts von ihr ins Herz zu stoßen. Er zerfiel zu Staub, noch bevor er wusste, wie ihm geschah, und Victoria drehte sich ebenso blitzschnell wieder um, um den beiden anderen den Rest zu geben.
Was auch immer in der Phiole gewesen war, musste nicht nur den Vampir gleich neben ihr voll getroffen haben, sondern auch die Frau, denn beide brüllten noch immer vor Überraschung und Schmerz.
Der Untote torkelte nach hinten und rieb sich dabei wie rasend über Gesicht und Augen, doch Victoria packte ihn am Hemd und schubste ihn gegen die Frau, als diese gerade die Pistole auf sie richtete.
Der Schuss donnerte überlaut durch den Korridor. Der Vampir, den sie noch immer am Hemd festhielt, zuckte zusammen, als die Kugel seinen Körper durchschlug, dann breitete sich ein brennender Schmerz über Victorias Seite aus. Während sie zurücktaumelte, beobachtete sie, wie die Frau unter dem Gewicht ihres schmerzgepeinigten Gefährten zu Boden ging.
Den Pflock mit aller Kraft umklammernd, stieß Victoria sich von der Wand des engen Flurs ab, dann riss sie den Vampir von der Anführerin herunter und schleuderte ihn vorerst beiseite.
Die Pistole hatte ihre Arbeit verrichtet, doch jetzt war sie, selbst als die Frau versuchte, sie ihr an den Kopf zu werfen, keine Bedrohung mehr.Victoria duckte sich einfach weg, dann stürzte sie sich trotz des qualvollen Stechens an ihrer Hüfte und der Behinderung durch ihre verhedderten Röcke wieder auf die Untote.
Strähniges Haar klebte ihnen beiden im Gesicht, als sie auf dem Boden miteinander rangen. Victoria fühlte, wie Blut ihr Kleid durchtränkte, dann den rasenden Schmerz, als ihre Gegnerin einen Schlag auf ihrer Wunde landete.
Sie unterdrückte einen gequälten Aufschrei und packte die Untote bei den Schultern. Dann schmetterte sie deren Kopf gegen die Wand hinter ihnen, sodass der Vampir, die roten Augen wie wild verdreht, das Bewusstsein verlor. Victorias Blick fiel wieder auf das Lederband mit dem Obsidian-Splitter. Sie schlang die Finger darum und riss es ihr mit einem kräftigen Ruck vom Hals.
Die Vampirfrau kam keuchend wieder zu sich, doch Victoria ließ ihr nicht die Zeit, sich zu erholen. Sie stieß den Pflock nach unten in das schmutzig-weiße Hemd und spürte mit enormer Befriedigung, wie sich das Eschenholz so mühelos, als würde es in ein Ei gestochen, durch Fleisch und Knochen grub: Ein leichter Widerstand, als es die äußerste Hülle durchdrang, dann glitt es glatt und geschmeidig hinein. Fft!
Noch bevor die Asche der Frau zu Boden gerieselt war, wandte Victoria sich dem dritten Untoten zu. Sie wollte ihn gerade pfählen, als sie das Rasseln von Schlüsseln an seiner Hüfte hörte. Also fasste sie nach unten, wobei sie den pochenden Schmerz ihrer Verletzung plötzlich stärker registrierte als zuvor, und schnappte sich die Schlüssel, bevor sie ihm den Pflock durch die Brust trieb.
Denn das Pfählen von Vampiren hatte ein eigenartiges Phänomen zur Folge: Es löste sich dabei nicht nur der Körper der Person auf, sondern auch all ihre persönlichen Besitztümer, die Kleidung und was auch immer sie sonst noch am Leib trug. Die einzige Ausnahme schienen Objekte aus Kupfer zu sein - ein Umstand, durch den es den Venatoren gelungen war, einen der fünf besonderen Ringe, die Lilith ihren treuesten Wächtervampiren geschenkt hatte, in ihren Besitz zu bringen.
Wayren hatte das, was mit den Untoten geschah, als eine Art Implosion bezeichnet; aber selbst sie hatte keine wirkliche Erklärung dafür. Stattdessen hatte sie, in einem seltenen Moment der Ungezwungenheit, gemutmaßt, dass es möglicherweise nicht mehr war als eine willkommene Laune des Schicksals, die den Venatoren ihre Arbeit wesentlich erleichterte: Es blieben keine Überreste, Leichen oder persönlichen Habseligkeiten zurück, die entsorgt oder erklärt werden mussten.
Was auch immer dahinterstecken mochte, Victoria war froh, die Schlüssel bemerkt zu haben, bevor sie den Vampir gepfählt hatte. Als sie nun schwer atmend im Gang stand und der Schmerz auf beiden Seiten ihres Körpers wütete, sowohl in ihrem linken Bein als auch an ihrer rechten Hüfte, entdeckte sie das Lederband an der Stelle wieder, wo sie es wenige Momente zuvor während des Kampfes verloren hatte. Sie hob es auf und steckte es in eine der Taschen, die Verbena in den Rock ihres Abendkleids genäht hatte, als sie plötzlich ein unangenehmes Kribbeln überfiel.
Wieder fühlte sie die pure Bösartigkeit, die der Splitter des Obelisken ausstrahlte, deshalb war sie wirklich erleichtert, dass sie ihn wiedergefunden hatte. Er würde bei ihr - und anschlie ßend im Konsilium, zusammen mit dem anderen, größeren Fragment - viel sicherer sein.
Außerdem verfügte sie jetzt über einen Satz Schlüssel, von denen mindestens einer die Kerkertür öffnen würde. Vorausgesetzt natürlich, sie schaffte es dorthin, bevor irgendjemand kam, um nachzusehen, was die Lieferung des Venators an den Dämon verzögerte.Victoria blieb kurz stehen, um zu lauschen, doch sie hörte nichts. Offensichtlich war bisher kein Alarm geschlagen worden, woraus sie schloss, dass niemand ihre kurze, gewalttätige Auseinandersetzung mitbekommen hatte.
Der Dämon und sein Hofstaat mussten weiter weg sein, als sie angenommen hatte.
Mit dem dritten Schlüssel, den sie ausprobierte, ließ sich das Schloss an dem schweren Riegel der Zellentür schließlich öffnen. Leise rufend trat Victoria in das Verlies, nur von hinten beleuchtet durch das wenige Licht, das aus dem Korridor hereinfiel.
»Da bist du ja endlich.« Max kauerte unverändert an der Wand, doch seine Augen waren so scharf wie immer. »Es ist wirklich zu dumm, dass du sie nicht erledigen konntest, ohne dabei angeschossen zu werden.«
»Angeschossen? Victoria.« Sebastian war - seine gelösten Fesseln ein kümmerliches Häuflein auf dem Boden hinter ihm - mit einem Satz bei ihr. Er zog sie nicht in eine Umarmung, was sie gleichzeitig mit Dankbarkeit und Verärgerung registrierte, dafür strich er mit der Hand über den riesigen Blutfleck, der einer übergroßen Rose gleich an ihrer Taille erblühte. Es würde höllisch schwer werden, das ihrer Mutter zu erklären. Das und die verschwundenen Rosetten.
»Sie können später Krankenschwester spielen, Vioget. Vielleicht treiben wir ja sogar irgendwo eine Kutsche auf.«
»Ich habe die Tür geöffnet, also kannst du uns jetzt hier herausbringen«, sagte Victoria zu Max, ohne auf seine Bemerkung einzugehen. Sie beobachtete, wie er sich behutsam auf den Ausgang zubewegte. Offensichtlich hatte er wieder Schmerzen. »Denn immerhin besitzt du ja den Orientierungssinn einer Brieftaube. Ganz im Gegensatz zu mir.«
Kurz bevor Max in den Korridor einbog, sah sie, wie er erneut eine kleine Phiole an die Lippen hob und daraus trank. »Ich dachte, du hättest sie mir -«
»Leise.« Mit dem Stilett in der einen und dem Pflock in der anderen Hand verließ Max vorsichtig ihr Gefängnis.
Seltsam. Aber vielleicht hatte er ja zwei solcher Fläschchen gehabt: eines mit Weihwasser, welches er ihr gegeben hatte, und dann noch dieses andere. Sie würde das Geheimnis später lüften. Genau wie das der neuen Bissspuren an seinem Hals.
Allerdings glaubte sie, bereits zu wissen, von wem sie stammten, und der Gedanke ließ sie erschaudern.
Zu ihrer Erleichterung schlug Max nicht denselben Weg ein, den die Vampire gewählt hatten, sondern wandte sich in die andere Richtung und lief dann mit überraschend schnellen Schritten den Gang hinunter. Trotz seiner Verletzungen bewegte er sich noch immer mit der Anmut des Jägers, der er war.
Mit einem ungeduldigen Winken bedeutete er Sebastian, die Tür hinter sich zu schließen, doch wartete er nicht ab, bis dieser sie wieder verriegelt hatte.
Offenbar verfügte Max tatsächlich über den Orientierungssinn eines Vogels, denn er dirigierte sie zielsicher den Korridor hinunter und dann durch eine Tür, hinter der eine Treppe nach oben führte. Als sie gerade auf die erste Stufe trat, hörte Victoria Alarmschreie aus der Richtung, aus der sie gerade gekommen waren, während sich gleichzeitig die Kälte in ihrem Nacken intensivierte. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss, und sie stieg, angeführt von Max und mit Sebastians stampfenden Schritten im Rücken, die Treppe hinauf.
Oben angekommen, bog Max nach links ab, bevor er einen weiteren Korridor hinunterhastete. Victoria bemerkte sein leises Humpeln, und fast im selben Moment spürte sie, wie ihre eigene Atmung keuchender wurde und immer mehr Blut aus der Wunde an ihrer Hüfte sickerte. Ihre Sicht wurde leicht verschwommen, und einmal wäre sie, als der Gang gerade eine scharfe Biegung machte, beinahe in die Knie gegangen, aber wenn Max mit zwei viel ernsthafteren Schussverletzungen in der Lage war, so schnell zu laufen, würde sie mit ihren beiden vis bullae doch sicherlich mit ihm mithalten können.
Nachdem sie eine weitere Ecke umrundet und noch eine Treppe erklommen hatten, gelangten sie schließlich in ein Vestibül, das ihr bekannt vorkam. Es war das vor dem Ballsaal, wo sich früher am Abend die Gäste versammelt hatten.
Sie blieb so unvermittelt stehen, dass Sebastian fast in sie hineingerannt wäre. »Wir können nicht ohne die anderen gehen.« Als sie daraufhin in ihre Rocktasche griff, verfingen sich ihre Finger in dem Lederband, dessen glatter Anhänger ihr einen kleinen Schock versetzte, bevor sie schließlich den Eschenholzpflock fand.
»Victoria, nein«, setzte der Franzose an, als Max, der sie gehört hatte, sich abrupt zu ihnen umdrehte.
Sein normalerweise gebräuntes Gesicht war aschfahl. »Sie sind alle tot. Die Vampire haben ihr Blut getrunken; hast du es denn nicht gerochen? Wir können hier niemanden retten, au ßer uns selbst. Zumindest für den Augenblick.«
»Er hat Recht, sosehr es mich auch schmerzt, dies zugeben zu müssen«, sagte Sebastian. »Die meisten Gäste sind heil aus der Villa entkommen, aber die, denen es nicht gelungen ist … sie waren schon lange tot, noch bevor wir uns auch nur von unseren Fesseln befreien konnten.«
Victoria wollte widersprechen. Sie wollte sie anfauchen und ihnen sagen, dass sie sich irrten. Doch die jähe Woge pechschwarzen Zorns, die jetzt über sie hinwegrollte, kam so überraschend, dass ihr der Atem stockte und ihr die bitteren Worte, die sie ihnen hatte entgegenschleudern wollen, im Hals stecken blieben.
Max schaute sie seltsam an; dann griff er nach ihrem Arm und zog sie unsanft hinter sich her.
Die nächsten Sekunden durchlebte sie wie in Trance, dann hatten sie die Villa verlassen und standen draußen in der frischen Luft der Dämmerung, wo der schwache, gelbliche Schein am Himmel dem verwilderten Garten Form und Textur verlieh.
Max legte ihr die Hände auf die Schultern und drehte sie zu sich herum, dann starrte er ihr in die Augen, so als suchte er etwas in ihnen, das fehlte. So als hätte er sie am liebsten durchgeschüttelt. Victoria sog die klare Luft tief in ihre Lungen, und der dumpfe Nebel fiel von ihr ab, und mit ihm dieser schreckliche, beängstigende Zorn. Sie blinzelte.
Max ließ sie abrupt los, wobei er etwas murmelte, das sie nicht verstehen konnte, dann wandte er sich Sebastian zu, der sie von der Seite beobachtete. »Kehren Sie zu Beauregard zurück«, befahl er ihm knapp. Dann fügte er leise und unwirsch noch etwas hinzu.
»Nein«, lautete Sebastians ruhige und ungewöhnlich kurze Antwort. Er sah Victoria an, dann setzten sie sich alle wieder in Richtung Grundstücksmauer in Bewegung. Hinter ihr lag die Straße, und vielleicht wartete dort sogar Oliver mit seiner Kutsche.
Oder - Victorias Gedanken flogen davon, als Sebastians starke Hände plötzlich nach ihr griffen und sie gegen die Mauer drängten. Durch diese Überrumpelungstaktik gelang es ihm, ihre Schultern gegen die Steine zu pressen und sich dann zu ihr zu beugen, noch bevor sie ihn wegstoßen konnte. Sie schnappte nach Luft, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, von ihm geküsst zu werden, und dem, ihm für seine Dreistigkeit einen Tritt zu versetzen.
Aber noch bevor sie eine Entscheidung treffen konnte, begann er zu sprechen. »Ich weiß nicht, wann ich dich wiedersehen werde, aber halte dich von meinem Großvater fern.«
»Er verdient es, gepfählt zu werden«, erwiderte sie leichthin. Er sah sie an, bevor er sich einen Augenblick später nach unten neigte und sie doch noch küsste, womit er sie ein weiteres Mal überrumpelte. Als er sie nach einer Weile wieder freigab, öffnete Victoria die Augen und entdeckte sowohl Max als auch Zavier vor sich.
Sebastian war verschwunden.
Max wirkte gelangweilt.
Und Zavier sah aus, als ob sie sich eben selbst in einen Dämon verwandelt hätte.