Kapitel 6
In welchem Victoria mit einem
unnachgiebigen Kinn zusammenstößt
Max?« Mit ihrer freien
Hand griff Victoria unwillkürlich nach seinem Arm und zog ihn zu
sich, so als wollte sie sich vergewissern, dass er es wirklich war.
»Ja, du bist es!« Eine Woge der Erleichterung und Freude
durchströmte sie, als sie seinen muskulösen Körper unter ihren
Fingern spürte. Er war am Leben. Er war zurück.
»Vielleicht hast du ja eher mit Sebastian Vioget
gerechnet«, spottete Max, bevor er ihr Handgelenk losließ und sich
dem entzog, was einer Begrüßungsumarmung näher kam als alles, was
sie je zuvor miteinander geteilt hatten.
In Wahrheit hatte sie tatsächlich damit gerechnet, dass es Sebastian wäre.
Schließlich hatte sie ihm eben erst über Beauregard ihre Nachricht
zukommen lassen.
»Wo bist du gewesen?« Die Überraschung über sein
unerwartetes Auftauchen ließ ihr Herz noch immer wie wild klopfen.
Sie sah ihn an, so als könnte sie in seinem Gesicht die Antwort
finden. Und vielleicht stimmte das sogar.
Selbst in dem spärlichen Licht, das ein paar
vereinzelte
Sterne und Straßenlaternen spendeten, sah sie die Erschöpfung in
seinen Zügen, sah ein leises Zögern. Seine Wangenknochen wirkten
ausgeprägter, sein Haar unordentlicher als gewöhnlich, und an
seinem markanten, energischen Kinn zeigten sich mindestens drei
Tage alte Bartstoppeln. Max’ dunkle Kleidung, die nie so
modisch-elegant war wie Sebastians, war zerknittert, und nirgendwo
an ihm gab es einen Hinweis auf eine Maske, ein Kostüm oder einen
Moccoletto.
»Es sind fast vier Monate vergangen, Max. Wo
hast du nur gesteckt?«
»An verschiedenen Orten; aber das ist
unwichtig.« Er trat einen Schritt zurück, schien jedoch den Blick
nicht von ihrem Gesicht abwenden zu können. »Dir scheint es während
meiner Abwesenheit allerdings ganz gut gegangen zu sein.«
Victoria wurde auf einmal bewusst, wie sie sich
anhören musste - hilfsbedürftig und unsicher, so als ob sie und die
anderen Venatoren ohne ihn nicht zurechtkommen würden. Sie nahm
Haltung an und bemühte sich, ebenso reserviert zu wirken wie er.
»Bist du mir etwa gefolgt? Oder warst du heute Abend eigentlich auf
der Suche nach jemand anderem?«
Im bläulichen Schein der Nacht wirkten seine
attraktiven, gleichmäßigen Gesichtszüge noch schärfer als sonst,
sie erschienen wie gemeißelt. Wegen seiner enormen Körpergröße
schienen seine Augen, als er jetzt entlang seiner geraden,
aristokratischen Nase den Blick auf sie richtete, kaum mehr als
dunkle Murmeln in den Schatten seines Gesichts. »Dir folgen? Warum
sollte ich?«
»Gewiss hast du dich nicht in der Dunkelheit
verborgen, um mich zu beschützen.«
Er blieb für einen Moment stumm, dann erwiderte
er mit merkwürdiger Stimme: »Du hast deine vis
bulla verloren.«
»Also hast du mich tatsächlich beobachtet, um
sicherzugehen, dass mir nichts zustößt? Wie nett von dir, Max. Aber
ich verstehe nicht, wie du glauben konntest...«
… mich ohne deine eigene vis
bulla beschützen zu können.
Victoria wechselte rasch das Thema. »Du hast
dein Haar geschnitten.« Bei ihrer letzten Begegnung hatte er es
noch zu einem Schwanz in seinem Nacken zusammengebunden getragen.
Jetzt war es dafür zu kurz.
»Freut mich, dass es dir auffällt.«
Anstatt darauf einzugehen, antwortete sie mit
einer eigenen Provokation. »Versteckt sich Sarafina irgendwo in der
Nähe? Sie soll sich doch bitte zu uns gesellen. Letzte Nacht bekam
ich leider nicht die Gelegenheit, mit ihr zu sprechen.«
»Ich bin gerade erst angekommen, deshalb habe
ich nicht die leiseste Ahnung, wo Sarafina sich aufhält, aber
vermutlich erwähnst du sie aus einem bestimmten Grund. Dann sag mir
lieber gleich, worum es geht, Victoria. Im Gegensatz zu Vioget
komme ich lieber sofort zur Sache, statt wie die Katze um den
heißen Brei zu schleichen.«
»Auf mich wirkt es aber ganz so, als ob du genau
das gerade tätest.« Dann beschloss sie, sich nicht weiter auf das
Wortgefecht einzulassen, und erklärte: »Deine Verlobte wollte mich
letzte Nacht entführen lassen. Hast du irgendeine Idee,
warum?«
Max antwortete nicht sofort; und er stritt auch
nicht ab, dass Sarafina seine Verlobte war. Stattdessen sah er
Victoria nachdenklich an. »Was ist passiert?«, fragte er
schließlich.
»Sie hat mich und Zavier zu der Gruft der
Regalados gelockt, wo vier oder fünf Männer anschließend
versuchten, mich in eine große Decke zu wickeln und zu
verschleppen.«
»Aber zum Glück ist Zavier dir zu Hilfe
geeilt.«
»Aber zum Glück war ich in der Lage, mir selbst
zu helfen und Zavier nicht versehentlich zu erstechen, als er
zwischen mich und einen Vampir geraten ist«, fauchte Victoria. Max
fing schon wieder an, sie wütend zu machen; gleichzeitig fragte sie
sich, warum er es nicht endlich bleiben ließ.
»Zavier stand zwischen deinem Pflock und einem
Vampir? Hat er für seine Mühe anschließend deine spitze Zunge zu
spüren bekommen? Zumindest brauchst du dir keine Sorgen zu machen,
dass du je mit Vioget in eine solche Situation gerätst.« Dann
schien er sich wieder zu entspannen. »Ist ja auch egal. Ich bin
sicher, du hast Zavier inzwischen entsprechende Anweisungen
gegeben, wie er sich zu benehmen hat, wenn er dich auf die Jagd
begleitet. Aber nun zurück zum Kernpunkt, der da lautet: Hast du
Sara letzte Nacht tatsächlich gesehen? Ist sie inzwischen eine
Untote?«
Die Frage verblüffte sie im ersten Moment, doch
dann überlegte sie, warum eigentlich. Schließlich fand Sara
offensichtlich Gefallen daran, mit Vampiren zu verkehren, außerdem
war ihr Vater der Anführer der Tutela in Rom gewesen, bevor er kurz
vor der Zerstörung von Akvans Obelisken in einen Vampir verwandelt
worden war. »Ich glaube nicht. Hattest du damit gerechnet?
Andererseits würde es bestimmt für eine recht interessante
Situation im Ehebett sorgen, wenn sie es wäre.«
Max sah sie finster an, dann öffnete er den
Mund, als wollte
er etwas ähnlich Sarkastisches erwidern.Victoria krümmte sich
innerlich, denn sie wusste, dass er nach ihrer Provokation jedes
Recht dazu hatte. Doch stattdessen sagte er: »Es ist unverkennbar,
dass du eine vis bulla trägst.«
Victoria lief rot an, und obwohl sie sicher war,
dass er es in der Dunkelheit nicht bemerken würde, wandte sie das
Gesicht ab. Ihr wurde plötzlich überdeutlich bewusst, dass seine
vis bulla, die einst an einer so intimen
Körperstelle wie seiner Brustwarze gehangen hatte, nun eins war mit
ihrem Fleisch. Und sie hätte schwören können, dass sich das winzige
Silberkreuz plötzlich wärmer und schwerer anfühlte, dass es in
ihrer Nabelgrube erzitterte.
Konnte er spüren, dass sie es trug? Nachdem es
doch seines war?
»Ja. Ich habe Eustacias.«
Bei der beiläufigen Erwähnung des Namens ihrer
Großtante schien sich ein Leichentuch über die beiden zu breiten,
dabei war die Situation ohnehin schon unbehaglich genug gewesen.
Max wandte sich dem schartigen Kolosseum zu, das sich nur ein
kurzes Stück zu ihrer Rechten befand, und sie sah, wie sich seine
Schultern hoben, als er tief Luft holte.
»Und Kritanu? Wie geht es ihm?«, fragte er
schließlich mit verändertem Tonfall. »Was ist mit den
anderen?«
In seinen Fragen schwangen noch so viele weitere
mit, und Victoria hätte sie gern alle beantwortet, doch dann
stellte sie fest, dass sie auf keine von ihnen eine vollständige
Antwort wusste. »Kritanu gibt sich so philosophisch und duldsam,
wie nur er das kann«, entgegnete sie, sich für die leichteste Frage
entscheidend. »Er trauert natürlich, genau wie ich -«
»Und ich.« Max’ Stimme klang herausfordernd, so
als wollte er sie dazu provozieren, an seiner Behauptung zu
zweifeln.
»Und wie alle anderen. Aber sie hat ein langes
Leben gehabt, und ein gefährliches noch dazu. Mehr als sechzig
Jahre davon hat sie den Venatoren gewidmet. Wir vermissen sie -
jeder von uns -, aber das gehört nun der Vergangenheit an,
Max.«
»Tut es das?« Er sah sie nun ganz an, noch immer
herausfordernd. Und das aus gutem Grund.
Inzwischen verstand sie, dass er gezwungen
gewesen war, Eustacia zu töten. Dennoch blieb die Tatsache
bestehen, dass er es wirklich getan hatte.Vor ihren Augen. Es gab
keine Möglichkeit, diese Erinnerung zu beschönigen.
Wieder wandte sie hastig den Blick ab. Victoria
war kein Angsthase, keine zaghafte Frau, aber der Ausdruck auf
seinem Gesicht weckte in ihr das Bedürfnis, ihn wegen seiner
Gefühlskälte zu beschimpfen und ihn gleichzeitig in die Arme zu
nehmen, um zu besänftigen, was auch immer ihn so hart gemacht
hatte.
Wie seltsam, einen solchen Zwiespalt
ausgerechnet Max gegenüber zu empfinden.
Früher hatte sie ihn beschuldigt, herzlos,
gefühlskalt und eifersüchtig auf die Liebe zu sein, die sie bei
Phillip gefunden hatte. Es barg eine gewisse Ironie, dass nun sie
diejenige war, die sich kalt und leer fühlte, während er zaghaft,
verletzlich wirkte.
Aber nein, es waren nur die Trauer um Eustacia
und seine Schuld an ihrem Tod, die ihn weniger schroff erscheinen
lie ßen. Und bestimmt fragte er sich, ob sie ihm verziehen hatte,
dass er Auslöser der schrecklichen Geschehnisse gewesen war, die zu
diesem entsetzlichen Ende geführt hatten.
Victoria wusste nicht, ob sie ihm tatsächlich
vergeben hatte. Sie versuchte, nicht an jene Nacht und Max’ Rolle
bei der Hinrichtung ihrer Tante zu denken, sondern stattdessen an
die Risiken, die er eingegangen war und die Gefahren, denen er sich
ausgesetzt hatte. An die Tatsache, dass die Chancen minimal gewesen
waren, Akvans Obelisken zu zerstören. Er hatte alles auf eine Karte
setzen müssen, um es zu vollbringen. Und er war erfolgreich
gewesen.
Aber sie konnte ihm trotzdem nicht
antworten.
Als sie weiterhin schwieg, fragte er: »Du hast
Eustacias vis bulla? Woher?«
»Sebastian hat sie mir geschickt. Ich weiß
allerdings nicht, wie er in ihren Besitz gelangt ist.«
Max zog sich ein Stück zurück, dann starrte er
an ihr vorbei zu der Ruine des Amphitheaters. Ȇberaus clever. Ich
bin überzeugt, dass du ihm auf angemessene Weise gedankt hast, so
wie er sich das zweifellos erhofft hatte.«
Victoria entging die tiefere Bedeutung seiner
Worte nicht, so wie Max sich das zweifellos
erhofft hatte. Aber sie verkniff sich eine Antwort darauf. Jetzt,
da er zurück war, hatten sie wichtigere Dinge zu besprechen. »Max«,
begann sie. »Hast du schon mit Wayren gesprochen? Weißt du über die
Porta Alchemica Bescheid?«
»Nein. Ich habe nicht mehr mit ihr gesprochen
seit … seit der Nacht, in der der Obelisk zerstört wurde.«
Neugierig sah er sie an. »Was ist geschehen?«
Während sie nun weiter auf das Kolosseum zuging,
erzählte sie ihm von der Tür und den verschollenen
Schlüsseln.
»Eustacias Armband mit dem Schlüssel ist also
verschwunden.
« Es war weniger eine Frage als vielmehr eine nachdenkliche
Feststellung. »Deshalb bist du nun auf der Suche nach dem
unzuverlässigen Sebastian, weil du hoffst, dass er etwas darüber
weiß. Denn immerhin war es ihm ja auch gelungen, ihre vis bulla an sich zu bringen.«
»Du warst da, als ich mit Beauregard gesprochen
habe, nicht wahr?«, fragte Victoria, während sie weiter das
Kopfsteinpflaster überquerte, welches das riesige Amphitheater
umrahmte. Die Ruine ragte hoch über ihnen empor, während die
ellipsenförmige Außenmauer in einer gezackten Diagonale dem Boden
zustrebte.
»Gesprochen?« Er wirkte nicht überrascht, und
plötzlich begriff Victoria auch, warum. Er war dort gewesen. Er
hatte mit angesehen, wie Beauregard versucht hatte, sie zu beißen.
Wie sie sich geküsst hatten.
»Ich wusste, dass wir beobachtet wurden. Also
kannst du dir die Mühe sparen, dich danach zu erkundigen, was er
gesagt hat.«
»Ich habe es dir doch erklärt, Victoria. Ich
wusste anfangs nicht, ob du eine vis bulla
trägst.« Als sie nun für einen Moment stehen blieb, schloss er zu
ihr auf. »Aber was ist mit dir?«, fragte sie. »Du hast deine nicht
mehr.«
Er sah sie unverwandt an. »Mach dir deswegen
keine Gedanken.«
Victoria begann nun, zügig weiterzulaufen, doch
dank seiner langen Beine hielt Max mühelos mit ihr Schritt. »Du
suchst nach Sebastian, damit er dir hilft, aber da ist noch etwas
anderes im Gange. Irgendjemand - möglicherweise Sarafina, falls du
sie in der Dunkelheit nicht verwechselt hast - hat dir eine Falle
gestellt. Du wurdest auf diesen Friedhof gelockt und hättest, da
sie in der Überzahl waren, leicht getötet werden können.«
»Ich bin keine Närrin, Max. Es war
offensichtlich, dass sie mich lebend wollten. Vermutlich denken
sie, ich weiß, wo der Schlüssel ist. Niemand hat auch nur versucht,
mich zu verletzen, und selbst der einzelne Vampir, der als Köder
diente, ist einfach weggelaufen. Wäre es sonst nicht bequemer
gewesen, mich gleich dort zu ermorden - oder es zumindest zu
versuchen?«
»Verspürst du etwa schon jetzt Todessehnsucht,
Victoria?«
Inzwischen hatten sie die Mauer des Kolosseums
erreicht. Ihre drei übereinander angeordneten Arkadenreihen, die
die Arena umringten, starrten wie Dutzende schwarzer Augen auf sie
herab. Trotz der Dunkelheit bemerkte Victoria, dass die Mauern oben
und an den Seiten mit Moos sowie hohen Pflanzen und Gräsern
bewachsen waren. Sie verliehen dem Amphitheater ein verwildertes,
buschiges Aussehen.
»Du bist derjenige, der sich nach dem Tod sehnt.
Auf mich wartet hier noch zu viel Arbeit.« Sie warf ihm einen
Seitenblick zu. Er war nicht gerade dankbar dafür gewesen, dass sie
ihm in der Nacht von Eustacias Tod das Leben gerettet hatte; seiner
Meinung nach wäre es einfacher gewesen zu sterben, als mit der
Schuld zu leben - ungeachtet der Tatsache, dass das, was er getan
hatte, zum Wohle der Menschheit geschehen war. Dass Eustacia selbst
es ihm befohlen hatte. Das war auch der einzige Grund, warum
Victoria ihn nicht hassen konnte - sie wusste, dass er keine Wahl
gehabt hatte.
»Ich lebe noch, oder etwa nicht?« Er schaute sie
an, während sie an der Mauer emporstarrte. Sie war nun schon seit
mehr
als vier Monaten in Rom und hatte trotzdem bis jetzt nie die Zeit
gefunden, das Kolosseum zu besuchen. »Willst du hineingehen?
Während der letzten hundert Jahre ist es so oft geweiht worden,
dass sich mit Sicherheit keine Vampire darin verstecken. Falls du
bereit bist, deinen Patrouillengang für eine Weile zu unterbrechen,
könnten wir es uns ansehen.«
»Ja.«
Es kam ihr seltsam vor, so kameradschaftlich mit
Max durch einen der dunklen Torbogen zu gehen, statt auf den
Straßen zu bleiben und nach einem Gefecht mit Untoten Ausschau zu
halten. Nachdem sie die Außenmauer durchquert hatten, fanden sie
sich in einem Gang wieder, der ringförmig den gesamten Innenbereich
des Gebäudes umschloss, während weitere Torbogen zu den Sitzreihen
führten.
»Willst du die ganze Nacht damit zubringen, im
Kreis zu laufen?«, fragte Max nach einer Weile. »Oder würdest du
jetzt gern die Arena sehen?«
Victoria lachte kurz auf. Sie war ein wenig
nervös, ohne genau zu wissen, warum. Schließlich war es doch bloß
Max. »Ja, natürlich.« Sie drehte sich im selben Moment, als Max
stehen blieb, so abrupt zu einer der Arkaden um, dass sie heftig
mit ihm zusammenstieß und sich die Stirn schmerzhaft an seinem Kinn
anschlug, während ihre plötzliche Bewegung sie in einer
unerwarteten Umarmung vereinte.
Er legte seine starken Hände um ihre Arme und
brachte Victoria, die sich leise gedemütigt fühlte, wieder ins
Gleichgewicht. Sie hatte ganz vergessen, wie groß er war.
»Verzeihung«, murmelte sie höflich, bevor sie sich von ihm löste
und ihren Weg ins Innere des Amphitheaters fortsetzte. Ihr Herz
pochte
laut; sie hätte sich gar nicht tölpelhafter und ungeschickter
fühlen können.
»Diesen Eingang nennt man Vormitorium«, erklärte
Max, so als sei nichts geschehen - und es war ja auch nichts
geschehen, ermahnte sie sich selbst, außer, dass sie für einen
Augenblick alle venatorische Anmut verloren hatte. Und das vor Max.
»Wegen der Zügigkeit, mit der ganze Horden von Menschen durch ihn
in das Theater oder aus ihm herausgeschleust werden konnten. Hast
du dir den Kopf verletzt?«
Sein Kinn hatte sich als ebenso hart und
unnachgiebig erwiesen, wie es immer schon gewirkt hatte, und der
Zusammenstoß war schmerzhaft gewesen. »Ich bin ein Venator, deshalb
glaube ich nicht, dass es eine Beule geben wird«, antwortete sie
leichthin.
»Das Moos, das hier wächst, kann manchmal
ziemlich rutschig sein«, fügte er hinzu, als sie aus dem kurzen
Tunnel herauskamen. »Sei vorsichtig.«
»Hier gibt es überall Moos, und auch andere
Pflanzen.« Victoria überblickte die düstere Weite dessen, was einst
eine prächtige Arena gewesen war. »Es ist alles so
verwildert.«
»Hier gedeihen viele der Heilkräuter und
-pflanzen, die Hannever für seine medizinischen Anwendungen im
Konsilium braucht. Es gibt Hunderte davon, und vermutlich wurden
sie im Laufe der Zeit absichtlich oder zufällig aus den weit
entlegenen Gebieten des Römischen Reiches hierher gebracht. Es ist
wirklich ein Glück, dass es diese Vielfalt gibt.«
Er hielt die Augen auf den Turnierplatz unter
ihnen gerichtet, und als Victoria ihn nun von der Seite ansah,
blieb ihr Blick an seinem Profil haften. Mit seiner langen, geraden
Nase, der
ausdrucksstarken Stirn und den scharf geschnittenen Zügen hätte er
einer der Gladiatoren sein können, die einst dort unten gekämpft
haben mussten. Oder vielleicht ähnelte er sogar mehr noch einem
Senator, der in diesen Rängen gesessen und zugeschaut hatte. Auf
jeden Fall sah er stark, mächtig und römisch aus.
Max musste bemerkt haben, dass sie ihn
anstarrte, denn er drehte sich zu ihr um. »Was ist?«
»Nichts. Aber im Moment klingst du mit deinen
historischen Erklärungen ein wenig wie Zavier. Darauf war ich nicht
gefasst.«
»Ja, Zavier zeigt sich unter anderem in höchstem
Maße an der Geschichte unserer weiblichen Venatoren interessiert«,
erwiderte Max trocken. »Aber dieser Ort übt eine fast schon
magische Anziehungskraft auf mich aus. Irgendwo dort unten -«, er
streckte den Arm aus und machte eine weit ausholende Bewegung, mit
der er die gesamte Arena umfasste, »- starb Gardeleus, der erste
Venator, durch die Hand eines Vampirs. Und setzte damit jene
Schlacht in Gang, die nun schon seit Jahrhunderten tobt.«
Victoria betrachtete den ovalen Platz, auf
dessen einer Seite unberührte Gräser und Büsche wucherten, während
die andere durch eine ganze Reihe von Ausgrabungen unterbrochen und
in Form von klaffenden, dunklen Löchern verunziert wurde. Eustacia
hatte ihr die Geschichte von Gardeleus und seinem letzten,
mitternächtlichen Kampf gegen den ersten Vampir Judas Ischariot
erzählt.
Max starrte weiter wortlos nach unten. »Es ist
lange her, seit ich zuletzt hier war«, erklärte er schließlich.
»Obwohl ich in
Rom geboren und aufgewachsen bin, hatte ich ganz vergessen, welche
Opfer von ihm und anderen im Laufe der Zeit gebracht wurden.«
Seine leisen Worte waren so untypisch für ihn,
dass Victoria anfangs nicht wusste, ob sie ihn richtig verstanden
hatte. Sie wollte nicht sprechen, um den Zauber nicht zu zerstören,
der ihn in diesen versonnenen, nachdenklichen Menschen verwandelt
hatte.
Dann löste er sich aus seiner
Gedankenversunkenheit. Er drehte sich zu ihr um, und als ihre
Blicke sich trafen, stockte Victoria für einen Moment der Atem.
Obwohl sie von diesem riesigen Bauwerk umgeben waren und sich vor
ihnen die Weite der Arena erstreckte, fühlte sie sich plötzlich
eingeengt. Es war, als würde sich alles auf die kurze Entfernung
zwischen ihnen reduzieren.
»Victoria«, begann Max schließlich leise. »Ich
habe dir nie gesagt, wie leid es mir tut, was mit Phillip geschehen
ist.«
Das war das Letzte, was zu hören sie erwartet
hatte. Er hatte Phillip nie zuvor erwähnt, außer um ihr
vorzuwerfen, dass sie einer Heirat überhaupt zugestimmt hatte.
Seiner Ansicht nach durften Venatoren keine Ehe eingehen, da es sie
zu stark von ihren Verpflichtungen ablenken würde.
Victoria war so fassungslos, dass ihr im ersten
Moment die Worte fehlten. Sie brach den Blickkontakt ab und sah auf
ihre kleinen, weißen, tödlichen Hände hinunter. »Ich denke jeden
Tag an ihn. Und an Tante Eustacia.« In ihren Augen brannten
Tränen.
Max verlagerte die Position seines großen,
geschmeidigen Körpers, sodass er mit dem Rücken an der Mauer
lehnte. »Und
dennoch machst du weiter, als wäre nichts geschehen. Du bist eine
starke Frau.«
Victoria fühlte sich in diesem Moment überhaupt
nicht stark.
Es gab Zeiten, in denen es ihr gelang, ihre
Trauer zu verdrängen und ihr Leben so zu führen, als wäre ihre
Seele heil. Als wäre ihr Herz in jener Nacht, in der Phillip zum
Vampir geworden war, nicht in Stücke gerissen worden. Es gab sogar
Stunden, hin und wieder auch einen ganzen Tag, in denen sie die
Bürde ihres Verlusts - ihrer Verluste - nicht spürte und sie sich
für kurze Zeit vormachen konnte, dass ihr Leben nicht von Pflichten
bestimmt und von Einsamkeit definiert wurde.
Sie ging vorsichtig in die Knie und ließ sich zu
Boden sinken. Selbst im Sitzen reichten ihr die Seitenmauern gerade
bis zu den Schultern, sodass sie die Arena noch immer überblicken
konnte. Nun konnte sie sich zumindest anlehnen, was sie mit einem
Mal auch bitter nötig hatte. »Wie hätte ich mich einfach abwenden
und weggehen können? Das Böse lauert überall, und wir müssen es
aufhalten, denn sonst übernimmt es eines Tages die Herrschaft über
die Welt. Natürlich mache ich weiter.«
Fast dasselbe hatte sie erst ein paar Monate
zuvor zu Sebastian gesagt. Er hatte es nicht verstanden.
»Ich weiß.« Max’ Stimme war ein leises Raunen,
kaum mehr als ein Flüstern, aber sie hörte ihn trotzdem.
Sie sah zu ihm hoch, wie er da vor ihr aufragte,
wobei sie mit dem Kopf die Mauer streifte, sodass winzige Steinchen
von ihr abbröckelten und zusammen mit ein wenig Erde und dürren
Blättern auf ihre Schulter rieselten - so wie früher an diesem
Abend der Vampirstaub. Nur dass es viel einfacher war, das
bisschen Erde abzuklopfen. Ganz im Gegensatz zu den Überresten
eines Untoten, der für sein frevelhaftes Verlangen, die sterbliche
Hülle seines Selbst zu überwältigen, zu schänden und auszusaugen,
zu ewiger Verdammnis verurteilt war.
Sie verfielen wieder in Schweigen. Dieses Mal
war es eine behagliche Stille, die von leiser Trauer und nicht von
jener unterschwelligen Spannung durchdrungen war, die sonst immer
zwischen ihnen zu herrschen schien. Schließlich rang Victoria sich
dazu durch, eine Frage zu stellen, die schon seit einiger Zeit an
ihr nagte.
»Hattest du wirklich vor, Sarafina Regalado zu
heiraten?« Dabei dachte sie an die Monate zurück, in denen er
vorgegeben hatte, der Tutela anzugehören und der jungen Frau den
Hof zu machen, und auch an jenen Abend, als sie ihn entdeckt hatte,
wie er gerade mit wirrem Haar und gelockerter Krawatte von einem
offensichtlichen Schäferstündchen mit seiner Verlobten
zurückgekehrt war.
Max wandte den Blick nun von der Arena ab und
richtete ihn zum Himmel. Victoria war sich nicht ganz sicher, aber
es kam ihr so vor, als ob er die Augen schloss, während sein Mund
zu einer verbitterten Linie wurde. Er nickte knapp. »Wenn es nötig
geworden wäre, hätte ich es getan.«
Sie war nicht überrascht. Im Kampf gegen Lilith
und ihre Vampire würde Max stets tun, was nötig war, ganz gleich,
wie groß die Opfer oder die Schmerzen auch sein mochten. Würde sie
selbst je so kaltblütig handeln können?
Sie nickte, und wieder rieselte Erde auf ihre
Schultern.
»Die richtige Entscheidung ist nicht immer
einfach oder offensichtlich.
Du wirst feststellen, dass auch du im Laufe deines Lebens immer
mehr solcher Entscheidungen treffen musst.«
»Das weiß ich.«
Max holte tief Luft, dann ließ er sie in dieser
stillen, finsteren Nacht langsam wieder entweichen. »Auch ich
vermisse sie, Victoria.«
»Das weiß ich«, wiederholte sie, sobald ihr klar
geworden war, dass er von Eustacia sprach.
Wieder schwiegen sie für eine Weile. Als
Victoria dann plötzlich einen schwachen Lichtschimmer im Osten
entdeckte, begriff sie, dass die Dämmerung näher rückte.
Wie seltsam, eine ganze Nacht in Max’
Gesellschaft verbracht zu haben, ohne ein einziges Mal ihren Pflock
zu benutzen. Und es hatte nur ganz wenige bissige Wortwechsel
gegeben. Steifbeinig begann sie, sich auf die Füße zu stemmen, als
Max auch schon die Hand ausstreckte, um ihr aufzuhelfen.
Er schloss seine kraftvollen Finger und seine
warme, breite Handfläche um ihre kleineren Hände und zog sie hoch,
bevor er sie anschließend sofort wieder losließ und wortlos das
Vormitorium ansteuerte.
Plötzlich wurde ihr etwas klar, das sie bis
dahin völlig übersehen hatte: Er musste eine vis bulla tragen.
»Max.« Ihr Tonfall veranlasste ihn dazu, vor ihr
in dem dunklen Gang stehen zu bleiben.Victoria musterte ihn
eindringlich. »Woher hast du eine vis
bulla?«
»Das ist nicht wichtig. Die Sonne geht gerade
auf, und für mich wird es jetzt Zeit, ins Bett zu gehen. Gute
Nacht, Victoria.« Er drehte sich wieder um, dann ging er mit
langen, selbstsicheren Schritten davon.
»Max.« Er sah sich noch einmal zu ihr um.
»Bedeutet das, dass du zurück bist?«
Er ließ die Arme auf für ihn ganz untypisch
kraftlose Art und Weise herabhängen. »Ich weiß es nicht.«