Kapitel 8
In welchem unsere Heldin in ein Abendkleid samt Accessoires gezwungen wird
N achdem sie am Eingang der Villa Palombara aus der
Kutsche gestiegen waren, ließ Victoria die Hand in Zaviers Ellbogenbeuge gleiten.
Sie trug ein Abendkleid, so als wollte sie einen Ball im Almacks’s besuchen, und war damit feiner und formeller gekleidet als seit Monaten. Trotz des Risikos, dass sie eventuell in eine Situation geriet, in der sich eine derartige Robe als eher unpraktisch erweisen konnte, hatte es sich dennoch gelohnt. Im tiefsten Innern hatte sie es genossen, den Ausdruck auf Zaviers Gesicht zu sehen, als sie fertig angekleidet in den Salon getreten war. Sie hatte beinahe schon vergessen gehabt, wie es sich anfühlte, sich für einen gesellschaftlichen Anlass in Schale zu werfen.
Dieser Teil ihres Lebens lag inzwischen so weit hinter ihr, dass er ihr wie ein Traum vorkam.
Lady Winnie hatte tatsächlich mit ihrer Zofe Rudgers gesprochen, die sich anschließend ungerechtfertigterweise die arme Verbena zur Brust genommen hatte. Aber zumindest war dieser damit das letzte Argument zugespielt worden, ihre Herrin so zu kleiden, wie es sich ihrer Meinung nach für eine Marquise ziemte. Victorias Seidenrobe schimmerte in einem roséfarbenen Perlmutt und war an den gerüschten Rocksäumen mit zweireihigen, dunkelvioletten Rosetten besetzt. Die Oberseiten ihrer kurzen Puffärmel zierten weitere Stoffblüten in kleinen, weiß-roten Sträußchen, von denen grasgrüne Bänder auf ihre Arme herabfielen. Obwohl ihre Stola kaum mehr war als ein Hauch weißer Spitze, verhinderten ihre pinkfarbenen Handschuhe, die ihr von den Fingerspitzen bis über die Ellbogen reichten, dass sie an den Armen fror.
Anstelle des einfachen Zopfes, den zu tragen sie sich angewöhnt hatte, bestand Victorias Frisur heute aus einer komplizierten, an ihrem Hinterkopf aufgetürmten Anordnung schmaler Flechten, Korkenzieherlocken und rosaroter Perlen. Damit blieb ihr schlanker, weißer Hals nackt, abgesehen von den hellen Rubinen, die von ihren Ohren hingen, und dem silbernen Kreuz, das ihre Kehle zierte.
Verbena hatte in Victorias Coiffure außerdem einen der kunstvollen Pflöcke eingearbeitet, die sie und Oliver unermüdlich für ihre Vampire jagende Herrin herstellten. Dieses besondere, violett bemalte und mit Rosenschnitzereien verzierte Exemplar war lang und schmal, dabei aber robust genug, dass es einen Vampir töten würde.Victoria hatte Verbena dazu überreden können, dieses Mal auf die Federn zu verzichten, allerdings hatten jeweils zwei Perlen ihren Weg in die Mitte der Rosen gefunden.
Unter all diesem weiblichen Putz verbarg sich Miros neueste Kreation im Kampf gegen die Untoten: ein speziell für Victoria entworfenes Korsett. Die Idee stammte ursprünglich von Verbena, die nicht nur ein großes Interesse an der modischen Erscheinung ihrer Herrin hatte, sondern darüber hinaus auch die einzige Zofe in ganz London war, die sich für Waffen und Werkzeuge begeisterte.
Victorias grazile Abendschuhe erlaubten es jedem noch so kleinen Stein, sich in ihre Sohlen zu bohren, während sie mit Zavier, an dessen anderem Arm Lady Nilly schwebte, zum Eingangsportal der Villa hochging. Ihnen voraus trippelten Melly und Winnie.
»Das wirkt ja nicht sehr festlich«, bemerkte Lady Winnie so lautstark, dass sogar Victoria es noch hörte, wobei die Herzogin offensichtlich vollkommen vergessen hatte, dass dies ja keine Party war. »Es scheint kaum jemand hier zu sein. Noch nicht einmal ein Lakai, der uns aus der Kutsche geholfen hätte! Ich weiß ja, dass die Familie schon seit Jahrzehnten nicht mehr hier wohnt, aber trotzdem sollte man doch meinen, dass sie ein wenig Ordnung machen lassen, bevor sie uns einladen.«
»Es ist eine Schatzsuche«, gurrte Lady Nilly und schmiegte sich dabei ein wenig enger an Zavier. »Spürt doch diese Atmosphäre! Sie ist so düster, geheimnisvoll, aufregend...«
»Außerdem soll hier ja auch kein großer Ball stattfinden«, ergänzte Lady Melly mit einem Seitenblick zu ihrer Tochter. »Man hat uns unmissverständlich mitgeteilt, dass dies keine festliche Veranstaltung sein wird und außerdem auch nur wenige Gäste eingeladen sind. Wir dürfen uns glücklich schätzen, mit von der Partie zu sein. Ohne Baron Tarruscelli, der uns seine eigenen Einladungen überlassen hat, würden wir überhaupt nicht teilnehmen können.«
Es herrschte in der Tat eine seltsame, gespenstische Atmosphäre. Die Villa selbst wurde halb von derselben Mauer verdeckt, über die Victoria und Ylito geklettert waren, um zum Alchimistischen Portal zu gelangen, welches sich am anderen Ende des riesigen Anwesens und damit weit entfernt vom Hauptgebäude befand. Düster und schwermütig ragte hinter der maroden Mauer die Villa empor.
Anstelle der zahllosen hell erleuchteten Fenster, die den Besucher bei den meisten Feiern, Dinnerpartys oder Bällen willkommen heißen würden, gab es hier nur einen schwachen, gelblichen Lichtschein am Haupteingang des Gebäudes. Die Tür öffnete sich und gewährte einen flüchtigen Blick auf einen Butler, dann wurde sie hinter einer kleinen Traube Geladener wieder geschlossen, so als wollte man kein Licht an die Nacht verschwenden.
Die Abfolge von Kutschen, die die Gäste zur Villa brachten, konnte man eigentlich gar nicht als solche bezeichnen, denn es schienen tatsächlich nicht allzu viele Personen eingeladen zu sein. Was Victoria nicht entgangen war, deshalb blieb sie, als sie sich der Tür näherten und diese ein weiteres Mal geöffnet wurde, in der Dunkelheit stehen, sodass niemand sie von drinnen bemerken würde. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob es reiner Zufall oder vielmehr Absicht war, dass man ausgerechnet die Mutter eines Venators zu dieser Schatzsuche eingeladen hatte.
Auch Zavier hielt nun inne; er ermunterte Lady Melly weiterzugehen, während Victoria so tat, als würde sie wieder in ihren vermeintlich verlorenen Schuh schlüpfen. Die Frau, fasziniert von derselben Atmosphäre, die ihre Tochter so nervös machte, schritt ohne zu zögern durch die Tür, die der Butler ihnen öffnete. Dieser trat gerade weit genug zur Seite, um ihr, Lady Nilly und Lady Winnie Einlass zu gewähren.
Die Tür wurde wieder geschlossen, ohne dass der Butler auch nur einen Blick nach draußen geworfen hätte, und Victoria und Zavier standen nun allein in der Dunkelheit.
»Passen Sie gut auf sich auf.« Zavier fasste nach Victorias Hand, als diese sich gerade wieder von ihrer Scharade des verlorenen Schuhs aufrichtete.
»Natürlich. Danke, dass Sie mitgekommen sind, Zavier. Ich weiß, dass meine Mutter in Ihrer Obhut sicher sein wird, und ich habe so die Möglichkeit, mich unbemerkt ins Haus zu schleichen. Falls Ihnen irgendetwas auffällt -«
»Ich werde mich gut um sie kümmern. Und gleichzeitig mit Argusaugen beobachten, ob etwas Ungewöhnliches passiert, obwohl ich noch immer nicht weiß, was wir hier eigentlich finden sollen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass der Schlüssel nach all den Jahren noch hier versteckt ist.«
»Ich habe selbst so langsam meine Zweifel. Vielleicht ist es wirklich nur ein harmloser, närrischer kleiner Spaß, der wegen der Fastenzeit von den Priestern unbemerkt bleiben soll; aber irgendwie glaube ich nicht daran. Allerdings spüre ich auch keine Untoten in der Nähe. Vielleicht ist also doch alles in Ordnung.«
Sie wollte sich gerade zurückziehen, um mit der Dunkelheit zu verschmelzen, damit Zavier das Haus betreten konnte. Doch plötzlich streckte er die Hand aus und streichelte mit seiner rauen, schwieligen Handfläche über ihre Wange, und sie hielt inne. »Ihre Lippe ist fast verheilt. Sie sollten aufpassen, dass Sie nicht noch einmal gegen irgendeinen Türstock laufen«, flüsterte er und erinnerte sie damit an die kleine Notlüge, die sie benutzt hatte, um Beauregards Bisswunde zu erklären, die er ihr in der Vornacht beigebracht hatte.
»Das war wirklich sehr ungeschickt von mir«, erwiderte sie, während sie daran dachte, wie sie nur wenige Stunden später mit der Stirn gegen Max’ Kinn geprallt war. Dann begriff sie, was Zavier im Sinn hatte.
Er wollte sie küssen.Victoria spannte sich erwartungsvoll an. Zavier kam näher und strich mit den Lippen über ihre, wobei sie das sanfte Kratzen von Bartstoppeln und das rauchige Aroma von Tabak wahrnahm. Als er sich wieder zurückzog, um sie anzusehen, waren ihre Augen fast auf gleicher Höhe. Es war zu finster, als dass sie seinen Gesichtsausdruck hätte sehen können, doch sie spürte das leise Zittern seiner Finger an ihrem Kinn. »Wie fühlt es sich jetzt an?«, fragte er mit einem leisen Lächeln in der Stimme.
»Es fühlt sich schon viel besser an.« Auch Victoria lächelte nun und hoffte, dass Max nicht plötzlich auftauchen und den Augenblick zerstören würde. Das wäre nämlich typisch für ihn.
»Victoria«, flüsterte Zavier und neigte sich zu ihr, um sie wieder zu küssen. Dieses Mal war es mehr als die sanfte Berührung seiner Lippen, trotzdem war er noch immer sehr behutsam - so als wäre er sich nicht sicher, ob sie es zulassen würde, oder als wüsste er nicht, ob es wirklich real war.
Es war ein kurzer Kuss, gewiss nicht so ausdauernd oder begierig wie andere, die sie schon genossen hatte. Als Victoria realisierte, dass ihre Hand irgendwie zu seiner breiten Schulter gewandert war und sie das ungestüme Pochen seines Herzens bis hinauf zu seiner Kehle spürte, löste sie sich von ihm.
Er holte Luft, so als wollte er etwas sagen, doch sie kam ihm zuvor. »Meine Mutter wird sich wundern, wo wir bleiben. Vielleicht solltest du jetzt lieber hineingehen. Entschuldige mich damit, dass mein Schuhband gerissen ist und ich nach Hause zurückgefahren bin, um es auszuwechseln.«
Zavier nickte, sodass ihm sein wirres Haar in die Stirn fiel. Er strich es mit einer flinken Handbewegung nach hinten, dann trat er von ihr weg. »Pass auf dich auf«, wiederholte er, bevor er sich umdrehte und zur Eingangstür zurückkehrte, die während ihres kurzen Zwischenspiels geschlossen und verwaist geblieben war.
Victoria sah zu, wie er davonging, dann zog sie ihre Handschuhe aus, während sie darauf wartete, dass Max auftauchte. Sie trug sie nur ungern, wenn die Aussicht auf einen Kampf bestand.
Doch ihre Umgebung blieb still - still, verlassen und beherrscht von Dunkelheit und aufragenden Mauern. Seit Zavier im Haus verschwunden war, hatte sich mit Ausnahme von ein paar weiteren Lichtern, die hinter einigen Fenstern angegangen waren, nichts geregt. Nur einige wenige, schemenhafte Schatten bewegten sich hinter den erleuchteten Fenstern.
Victorias Nacken war warm, allerdings kühlte ihr restlicher Körper zunehmend aus. Es war immerhin erst Februar, und obwohl ein milderes Klima herrschte als in London, war es nach Sonnenuntergang trotzdem ziemlich frostig. Sie wusste, dass sie in ihrem hauchdünnen Abendkleid nicht mehr sehr viel länger würde warten können, doch schließlich hörte sie ein Rascheln in den verwilderten Büschen.
Max kam auf sie zu, allerdings nicht aus der erwarteten Richtung - nämlich von der Zufahrt her -, sondern von der Rückseite der Villa.
»Es wurde ein weiterer Schlüssel eingesetzt«, verkündete er ohne weitere Vorrede, während er wie ein langer, schwarzer Schatten in den von einer einsamen Laterne erzeugten Lichtschein trat.
»Heißt das, du hast das Alchimistische Portal überprüft und dort zwei Schlüssel gefunden?« Victoria machte einen Schritt auf ihn zu.
»Ja, genau das will ich damit sagen. Ich komme gerade von dort. Ich wollte mir die Tür einmal ansehen.« Mit einem scharfen Nicken wies er nach rechts, in Richtung des rückwärtigen Teils des Grundstücks. »Es gibt dort hinten einen alten Dienstboteneingang, der in das Gebäude führt.«
»Welche Schlüssel?«, fragte Victoria, während sie ihm durch die Dunkelheit an der Hauswand entlang folgte. »Welche Schlüssel wurden benutzt?«
»Eustacias war nicht darunter.«
Erleichterung durchströmte sie; dann fühlte sie die Feuchtigkeit durch ihren Schuh sickern, während sie weiterlief. Verärgert setzte sie ihren Weg fort; sie war sich gar nicht sicher, ob Max sie wirklich rein zufällig hier entlangführte.
Schließlich machte er vor einer Tür Halt, die wesentlich weniger eindrucksvoll war als das Hauptportal. Es folgten ein paar scharfe Bewegungen, ein splitterndes Geräusch und ein kraftvoller Stoß seiner Schultern, dann sprang die Tür auf und gab den Blick frei auf den dahinter liegenden, dunklen Raum.
»Ich gehe voraus.« Victoria trat an Max vorbei in den staubigen Durchgang. Zumindest ein Teil der Informationen über die Party war keine Lüge gewesen: Die Villa wurde ganz offensichtlich schon seit Jahren nicht mehr bewohnt. Falls irgendjemand hier gelebt hätte, würde zumindest der Dienstboteneingang häufig benützt werden.
»Aber gerne doch.«
Es war so finster, dass Victoria einen Moment lang innehalten musste, damit sich ihre Augen an die unvertraute Umgebung gewöhnen konnten. Dann begann sie ohne ein Wort zu Max schnell, leise und vorsichtig den Flur hinunterzulaufen, der zum Haupttrakt führte.
Aber sie kam in ihren durchweichten Schuhen nur ein paar Schritte weit, bevor sie von einer starken Hand zurückgezogen wurde. »Wohin willst du?«, fragte er.
Sie schüttelte ihn ab und sah zu ihm hoch. »Verdammt noch mal, Max, was glaubst du wohl?« Nur mit Mühe gelang es ihr, leise zu bleiben. »In den Salon oder den Ballsaal, wo sie sich vermutlich versammelt haben.«
»Dann solltest du vielleicht besser mich vorausgehen lassen. In dieser Richtung«, mit der Hand unhöflich vor ihrem Gesicht herumfuchtelnd, deutete er den Flur hinunter, »geht es nämlich zu den Dienstbotenunterkünften.«
Victoria sagte nichts mehr, sondern drehte sich einfach um und trottete ihm hinterher, wütend auf sich selbst, dass ihre Orientierung sie jetzt, da sie im Gebäude war, im Stich gelassen hatte. Natürlich würde der Dienstbotentrakt im hinteren Teil der Villa liegen.
Der Gang war menschenleer, und überall hingen Staub und Spinnweben. Victoria musste sich in den Nasenrücken kneifen, um ein Niesen zu unterdrücken, als Max offenbar gegen irgendeine alte Gardine stieß und dabei eine Staubwolke aufwirbelte. Ganz sicher war sie sich wegen der sie umgebenden Finsternis allerdings nicht. In der Ferne hörten sie Stimmen, die lauter wurden, während sie weiter dem Dienstbotengang folgten.
Als sie an eine der Türen kamen, die sehr wahrscheinlich vom Dienstbotenbereich in den Haupttrakt des Hauses führte, blieb Max stehen. Er schob sie einen Spalt weit auf und spähte hindurch, wobei er sich absichtlich - davon war Victoria überzeugt - so positionierte, dass sie nicht an ihm vorbeisehen konnte.
Oder vielleicht verfiel sie auch nur wieder in ihre alte Angewohnheit, auf alles, was er tat oder sagte, mit Misstrauen zu reagieren.
Ganz bestimmt hatte er, als sie vor zwei Jahren zum Venator geworden war und sie zusammen hatten arbeiten müssen, bewusst versucht, sie zu verunsichern. Und letzten Herbst dann, als er vorgegeben hatte, zur Tutela zu gehören, hatte er sich ihr gegenüber noch unhöflicher und höhnischer als sonst benommen, um zu verhindern, dass sie allzu viele Fragen stellte.
Aber vielleicht respektierte er sie jetzt, da Eustacia tot war und er Gelegenheit gehabt hatte, über gewisse Dinge nachzudenken, inzwischen wirklich als Venator. Jedenfalls fühlte sie sich trotz seiner ungehobelten Art insgeheim erleichtert, dass er zurückgekehrt war.
Dann merkte Victoria, dass er von der Tür weggetreten war und sie ansah. »Sie haben sich in einem Raum versammelt, bei dem es sich wohl um den Ballsaal handelt«, informierte er sie leise. »Ich schleiche mich näher heran, um zu hören, was gesagt wird. Ich habe eine Treppe gesehen, die nach oben zu einer Galerie führt.Von dort hat man wahrscheinlich einen besseren Blick auf das, was da unten vor sich geht.«
»Ich laufe hoch und finde heraus, was es dort unten zu sehen gibt.« Victoria steuerte bereits auf die Tür zu, als Max sie am Oberarm festhielt.
»Halte dich links, und bleib in Deckung, dann findest du die Treppe.«
Sie nickte, dann drehte sie sich noch mal zu ihm um. »Falls wir uns verlieren, treffen wir uns am Dienstboteneingang.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, folgte sie seinem Rat, indem sie die Tür öffnete, die dank der Tatsache, dass sie als unauffälliger Zugang zum Dienstbotentrakt gedacht war, in die dunkelste Ecke des Raumes dahinter führte. So fiel es ihr nicht weiter schwer, sich flink und lautlos an der Wand entlang zu der Treppe zu schleichen, die in einen balkonartigen Erker eine Etage höher mündete.
Auf dem Weg dorthin bemerkte sie, dass vor dem Ballsaal noch ein Vestibül lag, von dem aus sich drei Torbogen zu dem größeren Raum hin öffneten.
Es hatten sich nicht allzu viele Menschen dort versammelt, maximal zwanzig bis dreißig Personen. Sie alle hielten funkelnde Kelche, die in dem düsteren Saal, der nicht von Laternen oder Wandfackeln, sondern ausschließlich von einer Unmenge von Kerzen beleuchtet wurde, irgendwie fehl am Platz wirkten. Da es keine Hintergrundmusik gab und zudem nur leises Stimmengemurmel ertönte, haftete dem Ganzen etwas Gespenstisches an. Die Einrichtung war karg: Auf einem kleinen Tisch standen die Getränke, von denen sich die Gäste vermutlich bedient hatten, und ein weiterer langer Tisch auf der anderen Seite des Raums war mit etwas bedeckt, bei dem es sich um Schriftrollen zu handeln schien.
Victoria erreichte die Treppe ohne Zwischenfälle, aber als sie anschließend die Hand auf das staubige Geländer legte, stieß sie dabei gegen eine kleine Metallvase, die von der Dunkelheit verborgen gewesen war. Sie fiel von der untersten Stufe klirrend zu Boden. Victoria fing sie auf, bevor sie noch ein zweites Mal aufprallen konnte, dann jagte sie mitsamt der Vase die Treppe hinauf.
Oben angekommen, blieb sie stehen und sah nach unten, während sie sich im Stillen für ihre Unvorsichtigkeit schalt. Sie hielt den Atem an, während sie wartete, ob sie entdeckt worden war.
Nach einem langen Moment bemerkte sie unter sich zwei Personen, die zielstrebig auf die Stelle zuliefen, wo die Vase umgestürzt war. Eine von ihnen deutete nach oben in die Finsternis, in der Victoria sich versteckte, doch die andere schüttelte den Kopf. Während sie noch ein Stück weiter nach hinten zurückwich, beobachtete sie, wie die beiden Männer sich berieten und sich nervös nach allen Seiten umsahen. Aber da sie die Vase mitgenommen hatte, konnten sie die Quelle des Lärms, den sie gehört hatten, nicht ausmachen, deshalb kehrten sie schließlich in den Ballsaal zurück.
Victoria stellte die Vase in sicherem Abstand zu ihren Füßen ab, dann blickte sie sich um und stellte fest, dass sie sich auf einem von Gardinen verhangenen Balkon befand, von dem aus man den Ball hätte beobachten können, wenn denn einer stattgefunden hätte. Da das einzige Licht durch die halb zugezogenen Vorhänge der Balkonbrüstung hereinfiel, war sie von Dunkelheit umgeben und damit vor Entdeckung von unten geschützt. Wie überaus praktisch.
So praktisch, dass sie sich zwangsläufig fragte, wozu man diese Galerie wohl benutzt hatte, als das Haus noch bewohnt gewesen war.
Nachdem sie sich rasch vergewissert hatte, dass sie auch wirklich allein war und es keinen weiteren Zugang zu dem schmalen Erker gab, schlich sie zu den Vorhängen und linste durch die breite Öffnung nach unten. Sie zog sie vorsichtig - um durch die Bewegung des Samtes keine Aufmerksamkeit zu erregen - ein Stück weiter zusammen, dann beobachtete sie aus der Vogelperspektive das Geschehen unter ihr.
Obwohl die Anzahl der Gäste gering war, unterschied sich die Zusammenkunft auf den ersten Blick nicht von irgendeiner anderen Party. Und ganz bestimmt wies sie keinerlei Ähnlichkeit mit dem Tutela-Treffen auf, bei dem sie letzten Herbst das Pech gehabt hatte, dabei zu sein. Es wurde kein hypnotisch duftender Weihrauch verbrannt, es gab keinen Gesang und auch keine Empore, auf der ein hoher Tutela die Anwesenden dazu aufforderte, den Vampiren zu dienen und sie zu beschützen.
Es war bloß eine kleine Feier. Menschen unterhielten sich, und obwohl ihre Stimmen in dem relativ leeren Saal so laut und beklemmend widerhallten, dass Victoria ein Schauder über den Rücken lief, schien ansonsten nichts weiter ungewöhnlich zu sein. Sie witterte noch immer keine Vampire.
Dort stand ihre Mutter. Und daneben Lady Nilly, die, um irgendeinem wichtigen Argument Nachdruck zu verleihen, mit den Händen wedelte, als wären es die Flügel eines Vogels. Dann trat Lady Winnie mit einem Teller jener trockenen, italienischen Kekse, die sie angeblich so sehr verabscheute, zu ihnen.
In diesem Moment spürte Victoria, wie sich ihr jemand leise von hinten näherte, und ihre Armhärchen richteten sich auf.
Max.
Doch sie drehte sich weder zu ihm um, noch reagierte sie auf irgendeine andere Weise auf seine Gegenwart, sondern beobachtete stattdessen weiter aus dem Verborgenen die Leute unter sich.
Die Säume des Samtvorhangs zerknitterten in ihren Fingern, als sie sie straff vor ihr Gesicht zog, sodass sie gerade noch durch einen schmalen Schlitz hindurchsehen konnte. Max kam näher und berührte ihre Schulter, während er durch dieselbe Öffnung nach unten spähte.
Jetzt erkannte sie Zavier, der sich in der Mitte des Saals mit zwei Männern unterhielt; Victoria bemühte sich, ihre Aufmerksamkeit auf ihn zu konzentrieren und nicht auf Max, der sie von hinten gegen den Vorgang drängte.
Irgendwie musste er ihre Gedanken erraten haben, denn er flüsterte mit belustigter Stimme: »Ein netter Kerl, unser Zavier. Und ein guter Venator noch dazu.« Er stand nun so nah, dass seine Worte über ihre Wangen zu streifen schienen. Victoria war sich sicher, dass, wenn sie tief einatmete, ihre Schultern seine Brust berühren würden.
Sie beobachtete Zavier weiter, beobachtete, wie er schwungvoll gestikulierte, wobei seine muskulösen Arme und breiten Schultern ihn von den schlanken Gecken abhoben, mit denen er gerade sprach - Männer, die vielleicht ein paar hübsche Paraden mit einem Degen vollführen oder einen Fausthieb versetzen konnten, die, sollten sie in eine bedrohliche Situation geraten, jedoch nicht ein Jota der Körperkraft und Wendigkeit des zwangloser gekleideten Schotten aufbringen würden.
Um ihre Gedanken auf etwas anderes zu lenken, begann sie, die Gäste zu zählen, während sie versuchte, ihren rasenden Herzschlag zu einem langsameren Tempo zu zwingen. Gleichzeitig hoffte sie, Max würde auf Abstand gehen, bevor sie es tun musste.
Doch er machte keinerlei Anstalten dazu, sondern sprach einfach weiter. »Sei vorsichtig mit ihm.« Ein scharfer Unterton schwang plötzlich in seinen Worten mit, eine unterschwellige Warnung.
»Vorsichtig?«
An der Bewegung seines Kopfes, der ihr Haar berührte, merkte sie, dass er nickte.
»Du wirst ihm das Herz brechen.«
Victoria zuckte überrascht zusammen, aber ihre plötzlich verkrampften Hände an den Vorhängen hielten sie davon ab, sich zu ihm umzudrehen. Den Blick noch immer nach unten gerichtet, wandte sie leicht den Kopf zur Seite, sodass er ihre kühle Antwort hören konnte. »Ihm das Herz brechen? Was um alles in der Welt meinst du damit? Sag bloß nicht, dass du gerade versuchst, mir Ratschläge in Herzensdingen zu geben, Max. Die einzige Erfahrung, die du in der Hinsicht hast, beschränkt sich auf deine Verlobung mit einer Frau, die sich leidenschaftlich gern mit Vampiren einlässt.«
»Zavier ist ein guter Mann«, entgegnete er vollkommen gelassen. »Du bist zu stark für ihn und wirst mit deinen Seidenschühchen nur auf seinen Gefühlen, die er im Übrigen viel zu offen zeigt, herumtrampeln.«
»Du verblüffst mich immer wieder -«
»Victoria«, unterbrach er sie mit noch immer geduldiger, wenn auch sehr nachdrücklicher Stimme. »Der Mann ist in das Idealbild eines weiblichen Venators verliebt. Wäre Eustacia ein paar Jahrzehnte jünger gewesen, hätte er ihr den Hof gemacht.«
»Du bist geschmacklos, Max.«
Er lachte kurz und abfällig. »Das mag sein, aber zumindest sage ich die Wahrheit.«
»Ja, aber auf abscheuliche Weise.«
»Du wärst mit einem von Viogets Sorte besser bedient als mit diesem Weichling Zavier.«
»Ich frage mich allmählich, warum du mich immerzu in Sebastians Richtung schubst. Soll das irgendeine Art von Bestrafung sein?«
»Ich schubse dich in Sebastians Richtung? Also, das würde ich nun nicht gerade behaupten.«
»Immerhin warst du derjenige, der ihn letzten Herbst gebeten hat, mich zu entführen, um mich aus dem Weg zu schaffen.« Max hatte nur allzu gut gewusst, dass sie an der Vernichtung Nedas’ beteiligt sein wollte, allerdings hatte sie nicht die leiseste Ahnung gehabt, wie riskant seine Pläne gewesen waren und wie leicht ihre Einmischung sie hätte ruinieren können. Also hatte er dafür gesorgt, dass Sebastian sie aus der Gefahrenzone brachte.
»Ein Auftrag, den er mit fast schon peinlicher Bereitwilligkeit angenommen hat - aber natürlich hatte er seine eigenen Motive, zu kooperieren. Ich bin sicher, dass er die Belohnung, die ihn anschließend erwartete, das Risiko wert fand. War die Kutsche denn bequem?«
Victorias Gesicht brannte vor Scham. Woher wusste er, dass sie Sebastian erlaubt hatte, sie in einer Kutsche zu verführen? Gott sei Dank konnte er ihre Wangen nicht sehen; sie mussten vor Zorn und Demütigung feuerrot geworden sein. Wie konnte er es nur wagen, so etwas zu ihr zu sagen?
Glaubte er etwa, dass, nur weil sie so viel mehr gesehen und erlebt hatte als andere Frauen, ihre Gefühle weniger leicht zu verletzen waren?
»Vioget erkennt zumindest deine Fehler«, fuhr Max mit derselben ruhigen Stimme fort, so als hätte er sie nicht gerade zutiefst beleidigt. »Abgesehen davon wäre es mir verflucht egal, ob du Vioget die Eingeweide herausreißt und sie anschließend mit den Absätzen zu Brei trittst. Tatsächlich würde ich sogar applaudieren. Dieser verdammte Narr Zavier hingegen würde deine Unzulänglichkeiten noch nicht einmal dann erkennen, wenn du sie auf seinem Pflock eingraviertest. Er hat dich längst zu seiner Königin erkoren und auf ein Podest gestellt.«
»Ich verstehe noch immer nicht, weshalb du dich um meine persönlichen Angelegenheiten sorgen solltest.«
»Du missverstehst mich. Es sind nicht deine persönlichen Angelegenheiten, um die ich mich sorge. Es ist Zavier. Ich würde nur ungern miterleben, wie ein Venator wegen eines gebrochenen Herzens außer Gefecht gesetzt wird. Und du wirst es ihm brechen, wenn du so weitermachst.«
»Warum bist du dir da so sicher?«
»Er ist nicht stark genug, Victoria. Er ist ein hervorragender Vampirjäger, doch verfügt er nicht über das nötige Rüstzeug, um seine Gefühle zu kontrollieren. Er kann deine Fehler nicht sehen; er wird zulassen, dass du rücksichtslos mit ihm spielst. Letztendlich wird er dich mit seiner sanften Art, seiner Beharrlichkeit, dich glücklich machen zu wollen, langweilen. Und die ganze Zeit über weiß er, dass er dich an diese gefährliche Welt, in der wir leben, verlieren könnte. Das möchte ich nicht mit ansehen müssen. Um seinetwillen. Und um der Venatoren willen.«
Victoria traten die Tränen in die Augen und nahmen ihr die Sicht auf die Party unter ihnen. Tränen des Zorns und der Trauer. Sie blinzelte, dann atmete sie tief ein, um ihr Bedürfnis zu bezähmen, sich umzudrehen und Max eine Ohrfeige auf seine aristokratische Wange zu versetzen - so wie es jene Dame der Oberschicht getan hätte, die sie nicht länger war. »Du würdest über Phillip dasselbe gesagt haben, wenn ich dir zugehört hätte.«
»Nein.« Seine Stimme war nun schärfer und ernster. »Phillip war stark genug. Er hat nur die Welt, in der du lebst, nicht verstanden. Falls er...«
Max musste den Satz nicht erst zu Ende sprechen. Victoria ließ die Vorhänge los, dann glitt sie zur Seite, weg von ihm. Sie wusste sehr gut, dass die Dinge anders verlaufen wären, wenn Phillip auch nur ein klein wenig Verständnis für ihr Leben aufgebracht hätte. Ihre Augen brannten, und ihre Kehle war so eng, als ob sie einen Ball verschluckt hätte.
»Victoria, du weißt doch selbst am allerbesten, wie sich ein gebrochenes Herz anfühlt. Pass auf, dass du nicht dasselbe Leid über einen deiner Männer bringst. Denn du hast die Macht dazu.«
»Du vergisst, dass der Venator, mit dem du hier sprichst, wegen seines gebrochenen Herzens nicht außer Gefecht gesetzt wurde.«
»Wurdest du das nicht?«
Sie richtete sich gerade auf, um zu antworten, dann sackte sie wieder in sich zusammen. Oh Gott, und ob sie es gewesen war. Nach Phillips Tod hatte sie fast ein ganzes Jahr lang nicht gewagt, ihren Pflock zu benutzen, aus Angst, zum Berserker zu werden und alles zu töten, was sich ihr in den Weg stellte. Die Gaben, die sie besaß, die Kräfte, die Fähigkeiten, die Instinkte: Sie alle konnten ebenso dem Bösen wie dem Guten dienen. Und dann dieser Zorn, der unter ihrer ruhigen Oberfläche gebrodelt hatte - der Zorn, der Hass und die Trauer -, er hätte sie leicht auf einen falschen Pfad führen können.
Die Tränen strömten ihr nun leise und von der Dunkelheit verborgen die Wangen hinab. Sie holte tief Luft, kämpfte darum, sich nicht daran zu verschlucken und Max somit zu verraten, wie sehr er sie aufgewühlt hatte, dann rutschte sie noch weiter von ihm weg. Sie wollte möglichst viel Abstand zu ihm, seinen aufdringlichen Ratschlägen, seinen rücksichtslosen Worten, seinen verdammten Wahrheiten bringen.
Er drehte sich um, und der schmale Schlitz zwischen den Vorhängen fiel zu, sodass nun vollkommene Dunkelheit herrschte. Das einzige Licht war ein dunkelgrauer Schimmer aus Richtung der Treppe.
»Victoria?«, fragte er leise.
»Es gibt hier nichts mehr zu sehen.« Victoria war erleichtert darüber, wie ruhig sie klang. »Es scheinen keine Mitglieder der Tutela anwesend zu sein.« Sich auf den winzigen Hauch von Licht und ihre ausgestreckte Hand, mit der sie sich ihren Weg ertastete, konzentrierend, hielt sie schnell und leise auf die Treppe zu. »Ich gehe nach unten und sehe mich dort um.«
»Victoria.«
Sie hörte, dass er sich hinter ihr bewegte, trotzdem huschte sie schnell weiter, während ihre Augen sich allmählich so weit an die Dunkelheit gewöhnten, dass sie die ersten schwachen Umrisse erkennen konnte.
Als sie den Treppenabsatz erreichte, tastete sie sich mit der Hand am Geländer um die Kurve, als plötzlich etwas aus der Dunkelheit vor ihr auftauchte.
Es war hart und metallisch, und jemand stieß es ihr von vorn gegen die Schulter. »Was für ein glücklicher Zufall«, ertönte eine vertraute Stimme. »Sieh nur, welch unerwartete Beute in unsere kleine Falle getappt ist.«
Vor ihr flackerte eine Kerze auf und erhellte die Gesichter von Mr. George Starcasset und Lady Sarafina Regalado.