Kapitel 1
In welchem unsere Heldin
wieder bewaffnet wird
Am Westufer des Tiber lag
in Roms 14. Rione ein klei nes, als I
Borghi bekanntes Viertel. Jenseits seiner schmalen Gassen ragte
weiter westlich der Petersdom auf, und ein kurzes Stück östlich die
massive Festung der Engelsburg. In den kleinen Labyrinthen des
Borgo befand sich ein friedvolles Durcheinander aus Pensionen,
Geschäften und Kirchen, das Reisende aus aller Welt anlockte. Die
Coronari genannten Werkstätten der
Rosenkranzmacher lagen Tür an Tür mit den Osterias sowie den Quartieren der Künstler, die im
Vatikan arbeiteten.
Am Ende einer der schmalen Gassen und so nahe
bei den Schirmmachern, dass dem Besucher unweigerlich das
unerfreuliche Aroma geölter Seide in die Nase drang, stand die
unscheinbare Kirche Santo Quirinus mit vergilbtem Mauerputz und
gewölbten Terrakottaziegeln, die ihr Walmdach bildeten. Ihre Größe
entsprach eher der einer Kapelle als der einer Kirche; im Schatten
des eindrucksvollen Petersdoms und der niedrigen, aber dennoch
imposanten Erscheinung von Santa Maria in Traspontina erregte Santo
Quirinus kaum mehr Aufmerksamkeit, als einer römischen Kakerlake
zuteil geworden wäre.
Doch tief unter dieser winzigen, schlichten
Kirche lag ein
riesiger, kreisrunder Saal. Im Zentrum dieses geheimen
unterirdischen Gewölbes sprudelte ein Springbrunnen in einem rot
geäderten, quadratischen Marmorbecken. Das Wasser, das an einer
schlanken Säule aus rosafarbenem Marmor hinablief, war rein und
klar und funkelte, als wäre es mit Diamanten durchsetzt.
Eine gut verborgene Wendeltreppe bildete den
Zugang zu diesem Saal.Von hier aus gelangte man in weitere Räume
und zu verschiedenen Galerien über Korridore, die wie Radspeichen
um dieses Zentrum angeordnet waren. Rundbogen zierten die Eingänge
zu den Korridoren, welche jeweils von zwei weißen, schwarz-grau
marmorierten Säulen flankiert wurden.
Lady Victoria Gardella Grantworth de Lacy, die
in ihrer Heimat England außerdem den Titel der Marquise von Rockley
trug, stand vor dem Springbrunnen. Zwei kleine Silberkreuze
baumelten von ihren Fingerspitzen herab. Der Seidenrock ihres
blau-schwarzen Kleides bauschte sich gegen den Tisch hinter ihr,
auf dem ein Stück Pergament von einem Tintenfass und einem kleinen
Buch daran gehindert wurde, sich zusammenzurollen.
Sie hatte die Trauer um ihre Großtante Eustacia,
die sie erst vor einem Monat auf entsetzliche Weise verloren hatte,
noch immer nicht ganz bewältigt, vor allem, da kaum ein Jahr
verstrichen war, seit ihr geliebter Ehemann Phillip in einen Vampir
verwandelt worden war. Manchmal schien ihr der Gedanke
unerträglich, dass sie nun zwei Menschen betrauern musste, die sie
zwar nur kurz gekannt, aber dennoch so intensiv geliebt hatte -
zwei Menschen, von denen jeder nur immer jeweils eine Seite ihres
bilateralen Lebens verstanden hatte.
»Warum trägst du sie nicht beide?«
»Ich soll zwei vis
bullae tragen?« Victoria beobachtete, wie die Frau neben ihr
die Spitze ihres Zeigefingers sachte in das funkelnde Wasser
tauchte. »Ist das denn erlaubt?«
Wayren, eine hochgewachsene, schlanke Frau mit
weizenblondem Haar, zog ihren tropfenden Finger wieder aus dem
Brunnen. Wie immer, wenn Victoria ihr begegnete, trug sie auch
heute ein langes, schlichtes Kleid, das an der Taille locker von
einem geflochtenen Ledergürtel gerafft wurde. Der an den Schultern
eng sitzende Stoff weitete sich zu langen Schleppenärmeln, die ihr
von den Handgelenken fast bis zum Boden reichten. Sie sah aus wie
eine mittelalterliche Schlossherrin; aber obwohl ihre Kleidung
modisch gesehen Jahrhunderte älter zu sein schien als Victorias mit
Volants besetzter, knöchellanger Rock, wirkte Wayren nicht
deplatziert.
»Erlaubt ist eine
seltsame Wortwahl für die Illa Gardella«, erwiderte sie sanft
lächelnd, bevor sie sich mit der ihr eigenen Anmut und Gelassenheit
den lederumwickelten Zopf, der von ihrer Schläfe herabfiel, über
die Schulter strich, wo er mit dem Rest ihres langen Haares
verschmolz.
Wayren war kein Venator. Sie war - ja, was?
Victoria hatte nie genau erfahren, wer oder was Wayren wirklich
war. Sie wusste nur, dass ihre Sammlung alter Bücher und Schriften
unendlich zu sein schien und sie diejenige war, an die sich die
Venatoren immer dann wandten, wenn sie Rat suchten. »Nach seiner
Berufung wird für jeden Venator seine eigene vis bulla geschmiedet. Da sie für jeden individuell
angefertigt wird, gibt es nie zwei identische, und so wird sie zu
einem intimen Teil ihres Besitzers. Wenn möglich wird ein Venator
stets zusammen
mit seiner vis bulla beerdigt, was im Fall
deiner Tante natürlich nicht geschehen ist. Ich bin zwar nie einem
Vampirjäger begegnet, der zwei getragen hätte, aber vermutlich
liegt das daran, dass sich nie einem die Möglichkeit dazu bot. Es
ist ja nicht gerade so, als würden irgendwo überzählige
herumliegen. Und da du die neue Illa Gardella bist, gibt es sowieso
niemanden, der es dir verbieten könnte.«
»Ich kann noch immer kaum glauben, dass weniger
als zwei Jahre, nachdem ich diese Träume hatte, durch die ich zum
Venator berufen wurde, ich nun diejenige sein soll, der alle
folgen. Selbst Venatoren, die schon viel länger Vampire jagen als
ich.« Victorias Tante war bei ihrem Tod einundachtzig und damit
einer der am längsten lebenden Venatoren aller Zeiten gewesen. Als
der einzige andere direkte Abkömmling des ersten Gardellas hatte
Victoria sowohl den Titel als auch die Verantwortung der Illa
Gardella geerbt. Sie war nun das Oberhaupt der Venatoren.
»Du magst zwar jünger sein - tatsächlich bist du
sogar die Jüngste unter ihnen -, aber dennoch hast du dir diese
Würde mehr als verdient«, erklärte Wayren, noch immer lächelnd.
»Was du in den letzten achtzehn Monaten vollbracht hast, wäre
selbst für deine Tante in ihren besten Zeiten eine Herausforderung
gewesen.«
Victoria wandte den Blick von Wayrens ruhigen
Augen ab und richtete ihn auf das herabströmende, schimmernde
Weihwasser. Es wäre ihr ohne Max’ Hilfe weder gelungen, Lilith
letztes Jahr aus London zu vertreiben, noch Nedas, den Sohn der
Vampirkönigin, einen Monat zuvor zu töten.
Vielleicht in dem Bemühen,Victoria von ihren
düsteren Gedanken
abzulenken, sprach Wayren weiter. »Die vis
bullae sind kostbare Amulette. Sie können nicht zerstört
werden, haben jedoch für jemanden, der kein Venator ist, nicht den
geringsten Wert. Hat deine Tante dir erzählt, woher sie
kommen?«
»Die Kreuze werden aus dem Silber einer Ader
geschmiedet, die unter dem Berg Golgotha im Heiligen Land
verläuft«, erwiderte Victoria. »Sie werden anschließend in vom
Papst gesegnetes Weihwasser getaucht.« Sie deutete zum Brunnen.
»Dann werden sie den jeweiligen Venatoren überreicht, für die sie
bestimmt sind. Aber wird nicht jede vis
bulla für eine bestimmte Person angefertigt? Kann ein Venator
überhaupt eine tragen, die ursprünglich nicht für ihn gedacht
war?«
Wayren nickte. »Ja, es wird für die betreffende
Person stets nur eine einzige vis bulla
geschmiedet. Wie du siehst, ist die deiner Tante anders als jene,
die Max dir gab. Aber du weißt ja, dass die Macht eines solchen
Amuletts jeden Venator stärker machen kann.«
Victoria musste die beiden kleinen Kreuze, die
jeweils an einem silbernen Ring hingen, nicht erst ansehen, um zu
wissen, wem welches gehört hatte. Eustacias hatte leicht
abgeschrägte Kanten, und die einzelnen Balken des Kreuzes liefen zu
einer Spitze aus. Max’ war ein wenig dicker und gedrungener,
außerdem ohne jede Verzierung. Keines der beiden Kreuze war grö ßer
als ihr Daumennagel.
Victorias eigene vis
bulla war ihr in derselben Nacht, als Eustacia den Tod gefunden
hatte, während eines erbitterten Kampfes gegen Liliths Sohn aus dem
Nabel gerissen worden. Die ihre war schmal und an den Rändern mit
so feinen, minutiösen Filigranarbeiten versehen gewesen, dass sie
nie ganz begriffen
hatte, wie jemand Silber zu einem derart komplizierten Muster
verarbeiten konnte.
»Also?«, fragte Wayren nach einem kurzen Moment.
»Soll ich Kritanu bitten, die Vorbereitungen für alle beide zu
treffen?«
Victoria nickte zögernd, während sie noch
darüber nachgrübelte, ob sie sich durch das Tragen zweier Amulette
wohl irgendwie anders fühlen würde. Würden sie sie doppelt so stark
machen? Oder würden sie sich gegenseitig neutralisieren? Dann traf
sie ihre Entscheidung; wenn es Probleme gäbe, könnte sie ohne
Weiteres eine von ihnen wieder entfernen. »Ja, ich werde sie beide
tragen.«
Während ihres Gesprächs waren die anderen
Mitglieder des Konsiliums in den verschiedenen Räumen
umhergeschlendert, wobei manche stehen blieben, um ihre Finger in
den Brunnen zu tauchen oder sich mit einem Kollegen zu unterhalten.
Es waren alles Männer unterschiedlichen Alters und Aussehens.
Victoria war der einzige weibliche Venator unter den hundert, die
weltweit existierten und von denen sich stets nur zwei Dutzend im
Konsilium in Rom aufhielten.
»Ich werde Kritanu Bescheid geben, dann können
wir in wenigen Minuten beginnen. Ich weiß, wie sehr du die Jagd
letzten Monat vermisst hast, während deine Wunden verheilten und du
dich um den Grundbesitz deiner Tante in Venedig und Florenz kümmern
musstest.« Wayren schenkte ihr ein weiteres sanftes Lächeln, dann
entfernte sie sich auf derart anmutige Weise, dass sie beinahe zu
schweben schien.
Das Wiedereinsetzen ihrer vis bulla verlief schneller und weniger schmerzhaft,
als Victoria es vom ersten Mal in Erinnerung hatte. Vielleicht lag
es daran, dass die Erinnerung an die
Qual, die ihr das gewaltsame Herausreißen bereitet hatte,
dominanter war als die Wahrnehmung des raschen, geschickten
Durchstechens des Nabels. Kritanu, ein ursprünglich aus Indien
stammender, älterer Mann, der nicht nur Eustacias Gefährte, sondern
auch Victorias Lehrer gewesen war, handhabte die lange, gebogene
Nadel schnell und effektiv. Da Victoria beschlossen hatte, beide
Amulette zu tragen, setzte er sie eines nach dem anderen ein,
sodass sie vom oberen Rand ihres Nabels hingen und sich in der
kleinen Grube darunter aneinanderschmiegten. Kaum, dass das erste
an seinem Platz war, verspürte Victoria eine Erneuerung von
Energie, ein vertrautes Rauschen, das durch ihren Körper
brandete.
Sie fühlte sich, als wäre sie wieder eins mit
sich selbst.
Und jetzt, da sie etwas von ihrer Tante trug,
würde sie vielleicht nicht nur deren geistige Stärke übernehmen,
sondern auch beginnen können, ihre Trauer zu bewältigen.
»Geköpfte Hunde und Katzen?« Victoria sah von
Ilias, dem Vorsteher des Konsiliums und einem der Ältesten unter
den Vampirjägern, zu Michalas, der zu den wenigen Venatoren zählte,
die ständig in Rom lebten. Es war nun beinahe zwei Monate her, seit
Victoria sich die beiden vis bullae hatte
einsetzen lassen, und obwohl sie seither mehrere Male auf der Suche
nach Vampiren nachts die Straßen durchstreift hatte, war es relativ
ruhig geblieben.
Als Michalas nun nickte, bewegten sich seine
rostroten Locken nur ganz leicht, so straff waren sie nach hinten
gekämmt. Mit seiner hellen Haut und den strahlend blauen Augen
wirkte er wie ein Junge, nicht wie ein erbitterter Krieger, und das
ungeachtet
der Tatsache, dass er zehn Jahre älter war als Victoria. »Ein
ganzer Haufen von ihnen - vielleicht drei Dutzend. In
unterschiedlichen Graden der Verwesung, deshalb macht es ganz den
Eindruck, als wäre mit der Sache schon vor einiger Zeit begonnen
und das Anhäufen immer weiter fortgesetzt worden. Ich habe ihn vor
zwei Wochen entdeckt, aber viele der Kadaver mussten zu dem
Zeitpunkt schon deutlich länger dort gelegen haben. Möglicherweise
zwei oder drei Monate.«
»Das klingt nicht nach Vampiren.« Fragend
schaute Victoria Ilias an. »Sie bevorzugen menschliches Blut,
außerdem gäbe es für sie nicht den geringsten Grund, ihren Opfern
die Köpfe abzuschneiden.«
»Ja, und genau deshalb habe ich bis zur heutigen
Versammlung gewartet, um euch davon in Kenntnis zu setzen.«
Michalas’ Blick glitt zu Ilias, dann zurück zu Victoria. »Es ist
keine dringende Angelegenheit, da nichts auf irgendeine Verbindung
zu den Untoten oder eine andere nichtmenschliche Bedrohung
hindeutet.«
Der ältere Mann nickte zustimmend. Ilias war
über fünfzig, vielleicht schon an die sechzig, und seine wässrigen,
aber weisen Augen waren von einem Gespinst feiner Falten umgeben.
Wenn er, so wie jetzt, tief in Gedanken versunken war, kniff er
sich stets mit Daumen und Zeigefinger in die Nasenspitze.
»Vero, keine Vampire. Aber zweifellos etwas
sehr Unschönes. Es könnte sich um eine so harmlose Sache wie die
Überreste aus einem Fleischergeschäft handeln - einige der
orientalischen Reisenden besitzen recht ungewöhnliche
Essgewohnheiten. Das war vor zwei Wochen? Ist der Haufen seitdem
größer geworden?«
Michalas lächelte verlegen. »Ich muss zugeben,
dass ich das Ganze nicht als wichtig genug eingestuft habe, um ihn
noch einmal zu überprüfen. Da sich die Stadt momentan auf den
Karneval vorbereitet und all die Besucher für die Festlichkeiten
eintreffen, habe ich mich auf die stärker von Menschen
frequentierten Viertel konzentriert.«
»Wo genau hast du ihn entdeckt?«
»Im Esquilino«, antwortete Michalas. »Ich habe
zwar keine Untoten in der Gegend gesehen, aber es waren trotzdem
welche in der Nähe. Ich konnte sie spüren.«
»Im Esquilino. Also nicht weit von der Villa
Palombara entfernt.« Ein scharfer Ausdruck trat in Ilias’ blaue
Augen. Manchmal wirkten sie ein wenig wässrig und entzündet, aber
dieser Eindruck verschwand sofort, sobald etwas von Interesse seine
Aufmerksamkeit erregte.
Victoria wartete, dass einer der Männer, die
beide gebürtige Römer waren, eine Erklärung abgab. Da sie selbst
die ersten zwanzig Jahre ihres Lebens in England verbracht hatte,
war sie in dieser Stadt, der Heimat und Geburtsstätte der
Venatoren, zunächst eine Fremde gewesen. Dennoch und ungeachtet der
Tatsache, dass sie eine Frau und dazu noch wesentlich jünger war
als alle anderen, begegneten sie ihr respektvoll und sehr
entgegenkommend, wenn sie Informationen welcher Art auch immer
benötigte. Schließlich war sie Illa Gardella.
»Die Villa Palombara steht schon seit
einhundertvierzig Jahren leer, seit dem Zeitpunkt, als der Marchese
Palombara unter seltsamen Umständen spurlos verschwand. Er war ein
Alchimist, der einen recht beliebten Salon führte. Dort empfing er
andere, die seine Faszination teilten und genau wie er nach einer
Methode suchten, jede Art von Metall in Gold zu verwandeln: ein
Prozess, den viele für die Quelle der Unsterblichkeit
halten.«
Victoria wusste, dass es geschmacklos wäre, zu
erwähnen, wie leicht man Unsterblichkeit erlangen könnte, indem man
sich einfach von einem Vampir beißen ließe. Aber natürlich war der
Status eines Untoten an den Nachteil geknüpft, für alle Ewigkeit
verdammt und außerdem gezwungen zu sein, menschliches Blut zu
trinken. Also sagte sie stattdessen: »Vielleicht könnten wir ja
heute Abend dort hingehen und nachsehen, ob sich etwas verändert
hat. Wie ihr wisst, bin ich mit diesem Teil der Stadt nicht sehr
vertraut, deshalb würde ich ihn gern in Begleitung von jemandem
besichtigen, der sich gut dort auskennt.«
»Es wäre mir ein Vergnügen, mit Ihnen gemeinsam
auf die Jagd zu gehen«, erwiderte Michalas mit einem aufrichtigen
Lächeln.
Sie wurden bei ihrer Unterredung, die sie in
einem der an den Brunnensaal angrenzenden Alkoven abgehalten
hatten, von einem attraktiven Mann mit kupferfarbenem Haar
unterbrochen. Seine Arme waren sehr muskulös, was Zavier zumeist
noch dadurch unterstrich, dass er unmoderne Hemden mit
abgeschnittenen Ärmeln trug, so wie er es vermutlich schon auf der
Farm getan hatte, die sein Vater und seine Brüder in Schottland
bewirtschafteten. Es verlieh ihm ein leicht barbarisches Aussehen,
und Victoria fühlte sich beim Anblick all der nackten Haut ein
wenig verlegen.
»Kommt schon, ihr Plaudertaschen - Wayren
versammelt alle in der Gemäldegalerie. Victoria, es ist schön, Ihr
hübsches Gesicht wiederzusehen. Ilias, Michalas, los jetzt.«
»Zavier.« Sie drehte sich lächelnd zu ihm um.
»Ich wusste, dass Sie unser Fest heute nicht versäumen würden! Ganz
bestimmt werden Sie begeistert sein, wenn Sie Tante Eustacias
Porträt gleich enthüllt sehen.«
Obwohl sein muskelbepackter Körper von großer
Stärke zeugte, blickten seine blauen Augen freundlich, und sein
Lächeln war warm - besonders wenn er sich in Victorias Gegenwart
befand, was ihr natürlich nicht entgangen war. Er hatte Rom kurz
nach Eustacias Tod verlassen, um Berichten von Vampir-Aktivitäten
in Aberdeen nachzugehen. Mithilfe der gut ausgebildeten Tauben, die
die Umgebung rund um Santo Quirinus bevölkerten, hatte Wayren
erfahren, dass sich Zavier auf dem Rückweg befand. Allerdings war
sie nicht sicher gewesen, ob er es noch rechtzeitig zu der
Porträtenthüllung schaffen würde, jene bittersüße Tradition, mit
der jeder Venator nach seinem Tod geehrt wurde. Aber sie hätte
wissen müssen, dass Zavier es sich niemals hätte entgehen lassen,
der verstorbenen Vampirjägerin diese letzte Ehre zu erweisen.
Während er sie aus dem Alkoven scheuchte, gelang
es ihm irgendwie, sich so zwischen ihr, Michalas und Ilias zu
positionieren, dass sie schließlich Seite an Seite hinter den
beiden anderen hergingen. »Sie können sich gar nicht vorstellen,
wie sehr ich Wayren beschwatzt habe, mir zu verraten, ob das Bild
Eustacia in jüngeren Jahren zeigt oder so, wie wir sie zuletzt
kannten.«
Victoria legte die Hand in seine Armbeuge, dann
wurde sie sich mit einem Mal der ungewöhnlichen Tatsache bewusst,
dass sie die nackte Haut eines Mannes berührte. Zavier war
der Erste unter den Venatoren gewesen, mit dem sie sich
angefreundet hatte, als Eustacia sie bei ihrem ersten Besuch dem
Konsilium vorgestellt hatte. Nicht dass der Rest von ihnen
reserviert gewesen wäre oder auf sie herabgesehen hätte, weil sie
eine Frau war - das hatte nur Max getan, aber auch nur so lange,
bis er sie in ihrem verletzlichsten Moment erlebt hatte -, denn sie
alle waren sich der Macht und der Fähigkeiten bewusst, die ihre
Tante besessen hatte, deshalb hegten sie keinerlei Vorbehalte
gegenüber dem weiblichen Geschlecht.
»Sie hat es mir auch nicht verraten«, entgegnete
sie mit einem Blick zu ihm.
»Nun, wir werden es bald erfahren. Aber sagen
Sie, wann werden Sie sich Ihre vis bulla
einsetzen lassen, um wieder auf die Jagd gehen zu können?«
»Das habe ich bereits getan, Zavier. Während Sie
in Schottland waren.«
»Ach! Und ich wollte doch so gern dabei sein.«
Seine kornblumenblauen Augen blitzten schelmisch. »Ich hätte Ihnen
die Hand halten können.«
Victoria konnte nicht verhindern, dass sie
errötete - und es war wirklich demütigend, dass sie, ein Venator,
wegen solch einer Bemerkung erröten sollte! -, deshalb sah sie zur
Seite.
Ungeachtet der Tatsache, dass jeder Vampirjäger
seine vis bulla irgendwo an seinem Körper
trug, hatte ihr der Gedanke nicht gerade behagt, von einer Gruppe
Männer umringt zu sein, während ihr Bauch entblößt und ihr Nabel
durchstochen wurde. Gleichzeitig hatte sie den Entschluss gefasst,
gar nicht erst wissen zu wollen, wo Zavier oder die anderen
Venatoren die ihren trugen. Sie fand, dass das Privatsache
war.
»Kritanu und Wayren waren die einzigen
Anwesenden. Genau wie ich es wollte.«
Zavier lachte leise. »Sie dürfen es einem Mann
nicht verdenken, dass er zumindest einen Versuch wagt.«
Victoria wechselte das Thema, während sie an dem
Brunnen vorbei- und dann durch den Alkoven spazierten, der zu der
Galerie führte, wo die Porträts aller verstorbenen Venatoren
hingen. »Konnten Sie die Vampire in Aberdeen unschädlich
machen?«
»Allerdings. Fünf von diesen verdammten
Blutsaugern hielten sich unter dem Gebäude der neuen Music Hall
versteckt und kamen nachts heraus, um sich an den Einheimischen zu
vergehen. Ich habe noch nie von Untoten so weit oben im Norden
gehört; ich dachte, Schottland wäre ihnen zu kalt und
ungemütlich.«
Victoria lächelte. »Bestimmt war es schön, einen
Grund für einen Besuch zu Hause zu haben, nachdem Sie nun seit
mehreren Jahren hier leben. Ich selbst bin erst seit sechs Monaten
in Italien, und trotzdem vermisse ich London bereits. Haben Sie
noch mal über die Gemälde nachgedacht? Vielleicht ist Ihnen in den
Monaten Ihrer Abwesenheit ja irgendeine neue Theorie
eingefallen?«
»Ganz egal, von welcher Seite aus ich es
betrachte und wie oft ich mir die Bilder in der Galerie ansehe, ich
komme immer wieder zu dem Schluss, dass sie alle von ein und
demselben Künstler stammen müssen.«
»Obwohl einige der Venatoren-Porträts schon
Jahrhunderte alt sind?« In Victorias Worten schwang leichte
Belustigung mit. »Es muss eine Familie von Malern sein, vielleicht
ein Talent, das
vom Vater an den Sohn und dann an den Enkel weitergegeben wird.
Ein bisschen wie bei den Venatoren, denke ich.«
»Vermutlich haben Sie Recht, aber trotzdem kann
ich einfach nicht verstehen, warum sie sich so sehr ähneln. Und
Wayren hütet dieses Geheimnis hartnäckig. Aber, nun ja, das gibt
mir wenigstens einen Grund, unsere Artefakte zu studieren.«
»Was nicht gerade ein Opfer für Sie ist.«
»Nein, das ist es in der Tat nicht.« Als er sie
nun ansah, war sein Blick so warm, dass Victoria von neuem
errötete. »Vielleicht könnten wir jetzt, da ich zurück bin, eines
Nachts zusammen jagen gehen. Der Karneval beginnt in drei Tagen,
und wir müssen während der Festlichkeiten sehr wachsam sein.«
»Ja, das hat man mir schon gesagt«, erwiderte
sie. »Trotzdem freue ich mich darauf, den römischen Karneval
mitzuerleben.«
»Ich habe ihn in den fünf Jahren, seit ich hier
bin, sehr zu genießen gelernt. Ganz besonders die gerösteten
Maroni, die an jeder Straßenecke verkauft werden.«
Sie betraten nun die lange, schmale
Gemäldegalerie, auf der die Porträts sämtlicher Venatoren hingen,
beginnend mit Gardeleus Gardella. Die meisten zeigten Männer, aber
es waren auch ein paar Frauen darunter. Zavier, der sich
insbesondere für die weiblichen Vampirjäger interessierte, hatte
ihr erzählt, dass die meisten von ihnen direkte Nachfahren von
Gardeleus waren - genau wie Victoria und ihre Tante und im
Gegensatz zu ihm selbst und Michalas, die von anderen Zweigen der
Familie abstammten. Eines ihrer Lieblingsbilder stellte Catherine
Gardella dar, deren lachende grüne Augen und feuerrote Haare ihr
ein spitzbübisches Aussehen verliehen und in Victoria den Wunsch
weckte, sie gekannt zu haben.
Andere Venatoren, so wie Zavier, gehörten zwar
ebenfalls zu den Gardellas, doch entsprossen sie weit verzweigten,
untergeordneten Linien des Stammbaums, die oft über drei oder mehr
Generationen keinen potenziellen Venator hervorbrachten.
Ilias versicherte sich ihrer Aufmerksamkeit,
indem er dreimal laut in die Hände klatschte. »Da ich befürchte,
Zavier könnte jeden Moment vor Neugierde sterben, ist es nun wohl
an der Zeit, das Porträt unserer verehrten Eustacia Gardella, dem
Oberhaupt der Venatoren und der obersten Dame der Gardellas, in
aller Ehrerbietung zu enthüllen.«
Mit einer flinken Bewegung des Handgelenks zog
er das schneeweiße Tuch weg, unter dem ein lebensgroßes Porträt der
Verstorbenen zum Vorschein kam.
Victoria fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen
schossen, als sie das schöne, weise Gesicht der Frau betrachtete,
die während ihres ersten Jahres als Venator ihre Mentorin gewesen
war. Der Künstler, der, um sein Geheimnis zu wahren, keines seiner
Bilder signierte, hatte die Lebendigkeit ihrer Augen, die sanften
Fältchen unter ihnen und das Schimmern ihres schwarzen Haars
großartig eingefangen. Eustacias weiße Stirn war beinahe faltenlos,
und das trotz der Tatsache, dass das Porträt sie zeigte, wie sie
kurz vor ihrem Tod gewesen war - im Alter von einundachtzig und
trotzdem noch immer schön und kraftvoll.
Zavier hielt Victoria ein zerknülltes
Baumwolltaschentuch entgegen, und sie nahm es, um sich damit die
Augen abzutupfen. Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, wann
sie zuletzt geweint hatte. Ihre Hand glitt über die Vorderseite
ihrer weiten Tunika und des geschlitzten Rockes - seit ihre Mutter
zu weit weg war, um auf angemessenerer Kleidung zu bestehen,
trug sie nur noch diese praktische Kluft -, dann fühlte sie durch
den Stoff hindurch die beiden vis bullae,
die an ihrem Nabel hingen. Eustacias war die rechte, und Victoria
schloss nun für einen Moment die Finger darum … und ließ ihren
Gefühlen freien Lauf.