Kapitel 7
In welchem ein kleiner, roter Tiegel zum Gesprächsthema wird
Du warst bei Lilith? Ganz allein?«
Max schaute Wayren an, die sich kerzengerade in ihrem Sessel aufgerichtet hatte. Da er nicht sicher war, wie die anderen Venatoren nach Eustacias Tod auf ihn reagieren würden, hatte er Wayren nicht im Konsilium treffen wollen, sondern sie stattdessen in das kleine Zimmer eingeladen, in dem er zur Miete wohnte.
»Das sagte ich doch gerade. Ich hatte nichts zu verlieren, Wayren.«
»Ich weiß, Max. Ich weiß, wie sehr du dir wünschst, sie los zu sein. Aber dafür ein solches Risiko einzugehen!«
»Es ist ja nicht so, als ob ich in der Vergangenheit noch nie mit ihr allein gewesen wäre.« Er wusste, dass seine Worte übermäßig barsch klangen, aber - zur Hölle. Seine Erinnerungen waren schließlich auch nicht gerade angenehm. Schlimm genug, dass er sie Wayren überhaupt ins Gedächtnis rufen musste. All ihrer Gelassenheit und Weisheit zum Trotz war sie gelegentlich ein wenig geistesabwesend. Als Wayren jetzt bewusst wurde, was sie eben gesagt hatte, wurden ihre klugen Augen hinter der rechteckigen Brille warm und verständnisvoll. »Natürlich. Du musst mir verzeihen.«
»Sie gab mir eine Salbe, von der sie behauptet, dass sie mich von ihrem Bann erlösen würde. Allerdings um einen sehr hohen Preis.« Er holte den kleinen Smaragdtiegel aus seiner Manteltasche und stellte ihn zwischen ihnen auf den Tisch. Obwohl es ihn in den Fingern juckte, ihn zu öffnen, hatte er es bisher nicht getan. Er hatte das funkelnde Gefäß, das aus einem einzelnen, walnussgroßen Edelstein gefertigt war, während der letzten Monate stets bei sich getragen, es jedoch nie geöffnet.
Es hatte seinen Mantel nach unten gezogen. Ihm die Hand verbrannt, wenn er es berührte. Ihn verlockt, wenn er abends seine Taschen leerte. Einmal war er morgens aufgewacht und hatte es in der Hand gehalten.
Das war der Tag gewesen, an dem ihm klar wurde, dass es an der Zeit war, nach Rom zurückzukehren und mit Wayren zu sprechen.
Diese musterte den Tiegel nun, machte jedoch keine Anstalten, ihn anzufassen. Dann sah sie erwartungsvoll wieder zu Max, so als ahnte sie bereits, was er als Nächstes sagen würde.
»Falls ich die Salbe benutze, werde ich meine Fähigkeiten als Venator verlieren, und da ihre Bisse mein Blut vergiftet haben, besteht für mich auch keine Möglichkeit mehr sie wiederzuerlangen, selbst wenn ich mich noch einmal der Prüfung unterziehe. Ich werde alles vergessen, was ich über diese Welt weiß. So, als hätte ich dieses Wissen nie besessen.«
»Ähnlich wie ein Gardella, der sich weigert, seinem Ruf zu folgen - so, wie Victorias Mutter es getan hat -, wirst du anschließend ein nichtsahnender, ganz normaler Mann sein.«
Ein ganz normaler Mann.
Er konnte sich noch nicht einmal vorstellen, wie das sein würde.
»Du möchtest frei sein von Lilith, aber trotzdem hast du bislang keinen Gebrauch von ihr gemacht«, folgerte Wayren.
»Ich habe mich entschlossen, es nicht zu tun.«
Es gab Momente wie diesen, in denen er überzeugt war, dass Wayren Gedanken lesen, vielleicht sogar die Zukunft sehen konnte. Gott allein wusste, wie lange es sie schon geben musste, dass sie diese Fähigkeit erlernt hatte. Falls so etwas überhaupt erlernbar war. Sie sah ihn mit ihren graublauen Augen ruhig und durchdringend an. »Du hast genug getan, Max. Du hast siebzehn Jahre deines Lebens als Wiedergutmachung für das geopfert, was deinem Vater und deiner Schwester widerfahren ist. Nun kannst du endlich frei sein.«
Großer Gott, Lilith hatte beinahe dasselbe gesagt. Er hatte darüber meditiert, gebetet, sich selbst gepeinigt. In all den Wochen, seit er das Versteck der Vampirkönigin verlassen hatte, hatte er kaum an etwas anderes gedacht. Aber … »Frei? Was würde ich hinter mir zurücklassen? Noch mehr Tote? Noch mehr Zerstörung und Verderbtheit?«
Und was würde er während des Prozesses verlieren?
»Du hättest dann keinerlei Erinnerungen mehr. Sie wären allesamt getilgt, und du könntest wirklich und wahrhaftig ein freier Mann sein.«
»Denkst du, ich weiß das nicht? Was meinst du wohl, wie verlockend die Vorstellung ist, nicht ständig dieses verdammte Jucken an meinem Hals zu spüren? Diesen Schmerz, der mich überkommt, wann immer ihr der Sinn danach steht?«
Wayren zuckte sanft mit den Schultern. »Ist es denn so viel besser, Max, sein ganzes Leben lang eine Schuld mit sich herumzutragen, sie als Schutzschild gegen Gefühle und ein echtes Leben zu benutzen? Von niemandem wird verlangt, dass er eine solche Bürde bis ans Ende seiner Tage trägt.«
Da wurde ihm klar, dass sie nicht wirklich verstand. »Die Schuld ist keine Bürde mehr, Wayren. Es ist Liliths Fluch, der mich belastet. Ich geißele mich nicht länger für die Dinge, die ich getan, die Entscheidungen, die ich getroffen habe. All das gehört längst der Vergangenheit an und kann nicht mehr ungeschehen gemacht werden, wenngleich ich alles getan habe, um für meine Vergehen zu büßen.
Doch so verführerisch die Gnade der Ahnungslosigkeit auch sein mag, ich kann es dennoch nicht tun. Ich weiß, dass ich gebraucht werde. Wie kann ich da ein Leben in Ahnungslosigkeit wählen? Wie viele Tode kann ich verhindern, indem ich bleibe? Ich habe nicht das Recht, mich abzuwenden, wenn ich doch einer der Wenigen bin, die sie verhindern können.«
Wayren hielt die schlanken Finger im Schoß verschränkt. Sie hatte ihn während seiner leidenschaftlichen Ansprache nicht aus den Augen gelassen. »Du wurdest nicht zum Venator berufen, sondern du hast diese Wahl selbst getroffen. Du bist nicht auf dieselbe Weise verpflichtet wie die Gardellas, die ihrem Ruf folgen.«
»Begreifst du denn nicht? Ich habe mich im selben Moment dazu verpflichtet, als ich Vater und Giulia der Tutela auslieferte.« Sein Kiefer knackte unter dem Druck seiner Zähne.
»Du warst kaum mehr als ein Kind. Du dachtest, du würdest deiner Familie ein Geschenk machen - das der Unsterblichkeit -, was exakt das ist, was die Tutela dich glauben machen wollte. Auf diese Weise haben sie starke junge Männer wie dich rekrutiert.«
»Du wagst es, mein Vergehen entschuldigen zu wollen? Dass ich meinen Vater und meine Schwester den Vampiren zum Fraß vorwarf? Auch mit sechzehn wusste ich schon, was falsch und was richtig ist. Und doch habe ich mich von der Aussicht auf Macht, Reichtum und Unsterblichkeit blenden lassen.«
»Und dann hast du während der folgenden siebzehn Jahre dein Leben riskiert und eine vis bulla getragen. Du hast deine Strafe mehr als verbüßt.«
Max verstummte abrupt und starrte Wayren finster an. Wayren, die ihm ebenso nahe stand wie einst Eustacia. Wayren, die mit ihrer Weisheit, ihrer Ruhe und ihrer Sanftmut mehr Mutterfigur für ihn gewesen war als Eustacia. Eustacia hatte den Kämpfer in ihm geweckt und gefördert; Wayren hatte den jungen Mann in ihm getröstet und unterrichtet.
Sie war es gewesen, die ihm durch die lebensgefährliche Prüfung geholfen hatte, deren Belohnung die vis bulla darstellte. Sie war bei ihm gewesen, als man sie durch sein Fleisch gestochen hatte und damit für ihn der Moment gekommen war, entweder zu leben und das Amulett der Venatoren zu tragen oder aber zu sterben.
»Warum willst du, dass ich die Salbe benutze?«, fragte er plötzlich. »Denkst du, dass ich nicht länger zum Venator tauge? Wegen dem, was mit Eustacia passiert ist?« Seine Kehle war trocken, seine Hand verkrampft.
»Nein, Max. Nein.« Wayren stand auf, trat zu ihm und legte ihre schlanken Finger auf seinen Arm. Wie stets, wenn sie ihn berührte, fiel augenblicklich ein Teil seiner Anspannung von ihm ab. »Ich fürchte nur, dass Liliths Macht über dich eines Tages so groß werden könnte, dass selbst du nicht mehr dagegen ankommst. Immerhin hat sie dich schon dazu gebracht, ihr die Arbeit abzunehmen und Akvans Obelisken zu zerstören, was zum Tod ihres Sohnes und Rivalen führte. Du warst zwar erfolgreich, aber ebenso gut hättest du scheitern können. Was wird sie nächstes Mal von dir verlangen? Oder übernächstes Mal?«
Die in ihm angestaute Wut und Frustration ließen nach, während er ihren Argumenten lauschte. »Ich weiß es nicht. Aber noch besitzt sie nicht die Kontrolle über mich, die sie gerne hätte.« Max stand auf und durchquerte das winzige Zimmer. Auf einem kleinen Tisch neben dem schmalen Bett lag sein schwarz bemalter Lieblingspflock. Er war glatt und schwer und schmiegte sich perfekt in seine Hand. In sein stumpfes Ende war ein mit Silber intarsiertes Kreuz geschnitzt. »Victoria hat mir von dem Alchimistischen Portal erzählt. Ihr werdet mich brauchen, falls es den Untoten gelingt, die Schlüssel an sich zu bringen.«
»Du hast mit Victoria gesprochen?«
»Ja, letzte Nacht. Aber nur kurz.«
»Ich bin sicher, sie ist froh über deine Rückkehr. Es waren keine leichten Monate für sie - erst ihren Ehemann zu verlieren, dann Eustacia und schließlich auch noch dich. So, wie du im Anschluss an Phillips Tod verschwunden bist, hast du es auch nach Eustacias getan. Diese Unbeständigkeit scheint dir langsam zur Gewohnheit zu werden.« Sie legte wie ein kleiner Zaunkönig den Kopf zur Seite und fixierte ihn mit ihren hellen Augen.
Max legte den Pflock mit einem leisen Poltern zurück auf den Tisch, dann warf er Wayren einen grimmigen Blick zu. »Ich war nicht in der Verfassung, hier in Rom zu bleiben oder eine vis bulla zu tragen.«
»Es war sehr schwer für sie, dich, den sie kennt und dem sie vertraut, in einer Zeit solchen Kummers und solcher Veränderungen zu verlieren.«
»Vertraut? Ich denke kaum, dass sie so unklug wäre, mir immer noch zu vertrauen. Außerdem war sie nicht auf sich allein gestellt. Du warst hier, und Ilias und auch noch andere.«
»Das stimmt, Max. Du hast Recht. Sie hat ihre Rolle als Illa Gardella ohne größere Schwierigkeiten übernommen. Ein bisschen Trauer vielleicht, ein paar schmerzvolle Momente … aber alles in allem leistet sie als Venator Erstaunliches. Es ist ihr Leben geworden. Und sie hat ein paar schwierige Entscheidungen getroffen. So besteht sie zum Beispiel darauf, dass niemand erfährt, wie Eustacia gestorben ist - um dich und deinen guten Ruf zu schützen. Sie macht weiter, als müsste sie nicht die Bürde ihrer Trauer tragen. Es ist wirklich bemerkenswert, wie gut sie inzwischen mit den Opfern und Umstellungen zurechtkommt, die dieses Leben ihr abverlangt.«
Wayrens Blick glitt zu dem kleinen Tiegel, und sie streckte ihren Finger aus, um ihn zu berühren. »Ich würde das hier gern an mich nehmen, falls du keine Verwendung dafür hast, Max. Vielleicht kann ich herausfinden, was genau es ist, wodurch du deine venatorischen Fähigkeiten verlieren würdest, wenn das Band, das dich mit Lilith verbindet, durchtrennt wird.«
»Behalt das verdammte Ding ruhig.«
Sie griff danach und schob es in den kleinen Beutel, der an ihrem silbernen Gliedergürtel hing. »Ich nehme an, dass du jetzt, da du zurück bist, uns heute Abend im Konsilium Gesellschaft leisten wirst. Und dass du wieder eine vis bulla trägst.« Sie sah ihn durch ihre eckigen Brillengläser wissend an.
Max nahm wieder seinen bevorzugten Pflock zur Hand und strich über das Silberkreuz. Victoria hatte ihn beschützt. Verdammt. »Natürlich werde ich da sein. Ganz der pflichtbewusste Soldat.«

Als Victoria am nächsten Tag zu später Stunde die Santo Quirinus endlich erreichte, steckte sie in einer Zwickmühle.
Da sie bis zum Morgengrauen auf gewesen war, hatte sie bis weit nach Mittag geschlafen, sich dann mit den Ladys Melly, Winnie und Nilly zum Essen getroffen, die zwitschernd ihrem Entzücken über die Gastfreundschaft der Tarruscellis, die fantastische Aussicht auf das Karnevalstreiben von ihrem Balkon aus und ihrem Bedauern darüber, dass es während der vierzigtägigen Fastenzeit kaum gesellschaftliche Anlässe geben würde, Ausdruck verliehen hatten.
Oh, und natürlich ihrem Mitgefühl für Victoria, die wegen eines Migräneanfalls das Bett hatte hüten müssen und damit die ausgelassenste, schönste und aufregendste Nacht von allen versäumt hatte. Ob sie denn inzwischen wieder auf dem Posten wäre?
Victoria, die wusste, dass das Trio sich nicht wirklich Sorgen wegen ihrer angeblichen Unpässlichkeit machte, erklärte, dass sie die lästigen Kopfschmerzen recht gut überstanden habe. »Und es tut mir wirklich leid, dass ich den Nachmittag nicht hier bei euch sein kann, um alles über eure Abenteuer zu erfahren, aber ich habe versprochen, mich heute wegen eines neuen Bildes von Eustacia mit einem Porträtmaler zu treffen.«
»Du armes Mädchen«, seufzte Lady Winnie, an deren rundlichen Fingern eine Vielzahl von Rubinen und Smaragden aufblitzte, als sie Victorias kleinere Hand tätschelte. »Nachdem du letzte Woche so oft krank warst, solltest du dich lieber ausruhen, statt in der Gegend herumzulaufen.«
»Du siehst noch immer ein wenig blass aus«, ergänzte Lady Nilly. »Vielleicht könnte ein helleres Kleid etwas mehr Farbe auf deine Wangen zaubern. Ich werde meine Rudgers mal ein Wörtchen mit deiner Zofe reden lassen.«
Trotz ihrer Eile, ins Konsilium zu gelangen, um Wayren von ihrer Begegnung mit Max letzte Nacht zu erzählen, musste Victoria lächeln. So herrisch und anstrengend die beiden manchmal auch waren, hatten sie doch nur ihr Bestes im Sinn - und das ihrer Mutter natürlich.
»Falls du sehr spät zurückkommen solltest, sind wir vielleicht schon ausgegangen«, erklärte Lady Melly. »Die Party … äh … die Zusammenkunft beginnt um acht Uhr.«
»Eine Party? Aber es ist doch Fastenzeit.« Victoria hatte Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken. Gleichzeitig war sie mehr als erleichtert, von ihren Plänen zu hören. Alles, was die drei Damen beschäftigt hielt und sie vergessen ließ, sich nach Eustacias persönlichen Besitztümern zu erkundigen, war gut für sie.
»Es ist keine Party«, insistierte Lady Nilly und riss dabei unschuldig die spärlich bewimperten, hellblauen Augen auf. »Auf keinen Fall würden wir hingehen, wenn es eine Party wäre. Ganz gewiss nicht.«
»Es ist nur eine Zusammenkunft«, betonte die Herzogin mit einem energischen Nicken. »Nichts weiter. Zwar mit Essen, aber ohne Musik oder Tanz.«
»Wie bedauerlich, dass ich euch nicht begleiten kann.« Victoria ließ die Stuhllehne los und machte den alles entscheidenden ersten Schritt vom Tisch weg. »Aber es ist vermutlich das Beste, wenn ich mich später wieder ausruhe. Trotzdem wünsche ich euch natürlich einen wundervollen Abend.«
»Oh, den werden wir ganz bestimmt haben.« Lady Melly strich die Serviette in ihrem Schoß glatt. »Ich weiß zwar nicht, weshalb die Palombaras ihre Par- äh, Zusammenkunft ausgerechnet auf den Aschermittwoch legen mussten, aber - Was ist mit dir, mein Schatz? Ist es wieder dein Kopf? Benedicto, bitte etwas Tee für die junge Lady.«
»Palombara?« Victoria war an der Tür so schnell herumgeschossen, dass es tatsächlich zum Teil ihr Kopf war, der sich drehte. Ihre Gedanken waren der andere Teil. »Erzähl mir von dieser Party, Mutter.«
»Es ist gar keine richtige Party«, beharrte Lady Winnie noch immer. »Liebe Güte, Victoria, hast du denn nicht gehört, was wir gesagt haben?«
»Es ist doch auch egal, Winnie. Der Papst war schon seit dem Krieg nicht mehr hier in Rom, du brauchst also nicht zu befürchten, dass er dich hören könnte«, gab Nilly zurück und zog dabei eine mit Kohle nachgezogene Braue hoch.
»Was hat das Ganze jetzt mit den Palombaras zu tun?«, fragte Victoria noch einmal, nun etwas nachdrücklicher. Sie setzte sich wieder. Das Konsilium würde warten müssen.
»Selbstverständlich wäre es durchaus denkbar, dass es gar nicht die Palombaras selbst sind, die diese … Zusammenkunft veranstalten«, erwiderte Melly und wickelte dabei eine der flaumigen Locken, die ihr auf die Wange fielen, um ihren linken Zeigefinger. »Es wird furchtbar aufregend werden, Victoria. Was für ein Pech, dass du nicht teilnehmen kannst. Ich weiß nicht genau, wie viele Leute dort sein werden; aber ich bezweifle, dass es solch einen Andrang geben wird, wie wir ihn von zu Hause kennen. Immerhin ist heute Aschermittwoch. Und außerdem ist es ja auch gar keine Party.«
»Na ja, vielleicht würde ich sie doch nur sehr ungern versäumen, deshalb verrate mir doch bitte endlich, worum es bei dieser Zusammenkunft geht.« Victoria merkte, dass ihr Kiefer zu schmerzen begann, deshalb zwang sie sich, ihn zu entspannen, bevor noch etwas zu Bruch ging. Das kraftvolle Zähneknirschen eines Venators konnte durchaus Langzeitschäden zur Folge haben.
»Es wäre einfach fabelhaft, wenn du mitkommen könntest«, trällerte Winnie, die in diesem Moment überhaupt nicht wie eine Herzogin klang. »Die Familienvilla, die jahrzehntelang verschlossen war, wird heute Abend für die Par-, die Zusammenkunft wieder geöffnet. Es wird ziemlich abenteuerlich werden, denn die Villa Palombara ist schon seit Ewigkeiten unbewohnt, die Familie ist weg und -«
»Es soll eine Art Schatzsuche geben«, flötete Lady Nilly. »Sie haben nur eine auserwählte Gruppe von Freunden dazu eingeladen, ihnen bei der Suche zu helfen, und die Tarruscellis bestehen darauf, dass wir uns ihnen anschließen.«
»Eine Schatzsuche?« Victoria fühlte, wie sie zu frösteln begann. »Nach was um alles in der Welt solltet ihr in einem alten, leer stehenden Haus suchen?«, fragte sie, während sie gleichzeitig der Verdacht beschlich, dass sie es vielleicht schon wusste.
»Es ist eine Schnitzeljagd«, gurrte Lady Melly. »Wir wissen zwar nicht genau, wie wir finden sollen, wonach wir suchen, aber ich denke, es wird furchtbar amüsant werden. Nun ja, nicht wirklich amüsant«, wiegelte sie mit betretener Miene ab. »Eigentlich ist es nichts weiter als eine gute Tat. Wir helfen der Familie lediglich bei der Suche nach einem Schlüssel, der schon seit mehr als hundert Jahren vermisst wird. Ich bin sicher, dass selbst der Papst nichts dagegen einzuwenden hätte. Wenn er denn hier wäre.«
Ganz ohne Frage.
»Das klingt wirklich faszinierend«, seufzte Victoria. »Deshalb habe ich gerade beschlossen, euch doch zu begleiten.«
Es nahm ein paar weitere kostbare Minuten in Anspruch, bevor sie sich von den enthusiastischen Damen verabschieden konnte, und dann dauerte es noch einmal eine knappe Dreiviertelstunde in der Kutsche, bis Oliver sie auf Umwegen von der Villa Gardella zu der kleinen Kirche Santo Quirinus gebracht hatte.
Deshalb war es schon nach fünf Uhr nachmittags, als sie endlich die kleine, schlichte Kirche betrat, in deren Vestibül man eine Schale mit Asche aufgestellt hatte. Victoria stippte den Finger hinein, dann bekreuzigte sie sich, wobei sie einen dunklen Fleck auf ihrer Stirn hinterließ und winzige Ascheflöckchen nach unten rieselten und in ihren Wimpern hängen blieben.
Es waren mehrere Besucher in der Kirche, daher nahm sie sich Zeit für ein kurzes Gebet, bevor sie an dem Altargitter vorbei in den Beichtstuhl schlüpfte. Sie schloss die Tür hinter sich, so als würde sie mit einem Priester sprechen wollen, doch statt sich hinzuknien, tastete sie nach dem kleinen Riegel der Geheimtür neben ihrer Sitzbank. Lautlos glitt sie zur Seite, und dahinter kamen drei Stufen zum Vorschein, die in einen langen, schmalen, mit Ikonen geschmückten Gang führten.
Victoria achtete darauf, nicht auf die mittlere Stufe zu treten, denn diese war, um vor dem Eindringen nicht befugter Personen zu warnen, mit einer Alarmvorrichtung im Konsilium verbunden.
Der Korridor, in dem sie nun stand, schien nichts weiter zu sein als eine Gemäldegalerie, die vor einer Ziegelmauer endete. Wenn man jedoch wusste, dass sich hinter der letzten Ikone zur Linken, die Jesus mit den Engeln Gabriel und Uriel zeigte, ein kompliziertes Muster von Ziegeln befand, die auf eine bestimmte Weise manipuliert werden mussten, konnte man den Flaschenzugmechanismus freilegen und die am Ende des Korridors gelegene Wand zur Seite schieben. Dahinter befand sich eine Wendeltreppe, die zu dem unterirdischen Gewölbe führte. Sobald Victoria diese Geheimtür geöffnet hatte, begann sie die enge Treppe hinabzusteigen, die von mehreren Wandfackeln beleuchtet wurde.
Sie trat durch den marmornen Torbogen in den Hauptsaal des Konsiliums, wo aus dem Springbrunnen das funkelnde Weihwasser sprudelte, dann blieb sie stehen.
Auf der anderen Seite des quadratischen Beckens hatte sich eine Gruppe von Venatoren versammelt: Ilias, Zavier, Michalas und Stanislaus. Sie schienen in eine ernsthafte Unterhaltung vertieft zu sein. Ein dunkler Schopf, der in ein paar breite, schwarz verhüllte Schultern mündete, überragte die anderen, und genau dieser Mann schien im Mittelpunkt des Gesprächs zu stehen.
Zavier, der sie als Erster entdeckte, löste sich geschmeidig von der Gruppe und kam auf sie zu, um sie zu begrüßen. »Victoria! Endlich sind Sie da. Ich hatte schon angefangen, mir Sorgen zu machen, nachdem wir letzte Nacht so plötzlich getrennt wurden.« Mit freudig glänzenden Augen vollführte er eine ausholende Armbewegung. »Und sehen Sie doch nur, wer zu uns zurückgekehrt ist.«
Max drehte sich um, und ihre Blicke trafen sich kurz, bevor Victoria ihre Aufmerksamkeit wieder auf Zavier richtete, der trotz seines muskulösen Körperbaus so aufgeregt wirkte wie ein Kind über ein neues Spielzeug.
»Hallo, Max«, sagte Victoria und ging auf die Gruppe zu. Aus irgendeinem Grund war sie unsicher, ob sie preisgeben sollte, dass sie letzte Nacht miteinander gesprochen hatten. Auf seinem Gesicht spiegelte sich nichts von der gestrigen Besonnenheit wider, stattdessen zeigte es wieder diesen ihr viel vertrauteren reservierten, fast schon mürrischen Ausdruck. »Guten Nachmittag, ihr alle«, wandte sie sich lächelnd an die anderen Venatoren, die ihr mit einem warmen, freundlichen Nicken antworteten und ihr damit ein Gefühl vermittelten, als sei sie eine lange vermisste Schwester, die endlich in ihre Mitte zurückgekehrt war.
Aber als Max auf seine typische Art eine Braue hochzog, bevor er sie seinerseits beiläufig nickend begrüßte, spürte Victoria einen Anflug von Ärger. Warum wirkte sein Gesicht so kühl und distanziert, jetzt da er wusste, dass sie hier war? Zuvor hatte er sich völlig entspannt an der Unterhaltung beteiligt, das hatte sie an seiner Körperhaltung erkennen können.
»Es tut mir leid, dass ich zu spät komme«, fuhr sie fort, während sie sich gleichzeitig darüber ärgerte, dass sie sich entschuldigte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dies nur Max zuliebe zu tun. »Aber es ist ein Problem aufgetaucht, das mich aufgehalten hat und um das wir uns unbedingt kümmern müssen. Ilias, weißt du, wo Wayren steckt?«
»Sie ist natürlich in ihrer Bibliothek und wartet bereits auf dich«, erwiderte er.
Victoria, die inzwischen ganz bei den Venatoren angelangt war, wurde von Zavier ins Zentrum der Gruppe gezogen. »Max«, begann sie und sah ihm dabei wieder in die Augen. »Willkommen zurück. Bist du denn auch wirklich zurück?«
»Für den Moment, ja.«
Dann wandte sie sich an die anderen und fragte: »Wie war die letzte Karnevalsnacht?«
»Wir konnten fünfzehn Vampire töten«, berichtete Ilias.
»Dann sind es insgesamt siebzehn«, erwiderte Victoria lächelnd. »Und ich habe keinerlei Hinweise auf menschliche Opfer entdeckt.«
»Wohin sind Sie denn gestern verschwunden?«, fragte Zavier, der unverdrossen weiter ihren Arm festhielt. »Ich war in Sorge, dass, wer auch immer vorletzte Nacht versucht hat, Sie zu entführen, erfolgreich gewesen sein könnte.«
Victoria spürte Max’ Blick auf sich - vermutlich überlegte er, ob sie ihr Gespräch mit Beauregard erwähnen würde. Aber da keiner der anderen vom Alchimistischen Portal oder Eustacias verschwundenem Armband wusste, sah sie keinen Anlass, die Details ihres Abends zu schildern. Falls nötig, würden sie sie noch früh genug erfahren.
Stattdessen schenkte sie Zavier eines dieser Lächeln, von denen sie inzwischen wusste, wie effektiv man damit einen Mann von seinen Gedanken ablenken konnte, dann erwiderte sie: »Ich habe einen Vampir verfolgt, und als ich zurückkam, waren Sie verschwunden. Aber, was viel wichtiger ist: Ich könnte Sie heute Abend gut als Begleiter gebrauchen. Wären Sie bereit, mir zu helfen?«
»Aber mit Vergnügen. Sie müssen mir einfach nur sagen, was ich tun soll.«
»Danke.« Victorias Lächeln wurde um noch ein paar Grad wärmer. Mit Zavier als Unterstützung, der über ihre Mutter und deren Freundinnen wachte, könnte sie sich in der Villa Palombara wesentlich besser auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren.
»Sagtest du nicht, dass du mit Wayren sprechen wolltest?«, unterbrach Max sie.
»Ja, und auch mit Ilias.« Victoria suchte den Blick des älteren Mannes.
Zavier wirkte ein wenig enttäuscht, als sie ihm ihren Arm entzog, doch sie versprach: »Es wird nicht lange dauern. Ilias, ich muss noch schnell eine Sache erledigen, anschließend werde ich zu dir und Wayren in die Bibliothek kommen.«
Sie entschuldigte sich, dann eilte sie die lange Galerie mit den Venatoren-Porträts entlang, wobei sie dieses Mal auch an dem neuesten, dem ihrer Tante, vorbeikam. Am anderen Ende blieb sie vor etwas stehen, das scheinbar nur eine Wand war, in Wirklichkeit jedoch drei versteckte Türen in sich barg. Eine davon führte zu einer alten Wendeltreppe, die dem Konsilium als einer von mehreren Geheimausgängen diente. Diese Stufen schlängelten sich zu der Ruine eines verfallenen Gebäudes empor, das rein äußerlich nichts anderes zu sein schien als ein verlassenes Haus in einer kleinen Gasse namens Tilhin, die mehrere Straßen vom Haupteingang der Santo Quirinus entfernt lag.
Die zweite Tür führte zu Wayrens Privatbibliothek, aber es war die dritte Tür, derentwegen Victoria gekommen war. Sie wurden im Übrigen nicht als Wand getarnt, um die anderen Venatoren zu täuschen; sie alle wussten von der Existenz dieser Räume, und viele von ihnen hatten sie schon betreten.
Ihre Geheimhaltung war lediglich eine Vorsichtsmaßnahme. Für den Fall, dass jemals in das Konsilium eingebrochen werden sollte, konnten die wichtigen und kostbaren Dinge, die in der Asservatenkammer und in Wayrens Bibliothek aufbewahrt wurden, durch den nahe gelegenen Ausgang in Sicherheit gebracht werden. Deshalb glaubte Victoria, dass dies für Eustacia der wahrscheinlichste Ort gewesen wäre, um dort das Armband mit dem Schlüssel zu verstecken.
Vielleicht hatte sie ja die Möglichkeit gehabt, es hierher zu bringen, bevor sie zu der Versammlung gegangen war, die ihr Schicksal besiegelt hatte. Es war zwar nicht sehr wahrscheinlich, trotzdem wollte Victoria sämtliche Möglichkeiten überprüft haben, bevor sie mit Sebastian sprach.
Sie drückte gegen das Marmorrelief einer Weinranke, und eines der Blätter glitt zur Seite. Rumpelnd öffnete sich die schwere Steinwand gerade so weit, dass sie hindurchschlüpfen konnte.
Im Inneren der Kammer, in der stets Fackeln zum Anzünden bereitstanden, bewahrten die Venatoren ihre größten Geheimnisse, ihre wertvollsten Waffen und die gefährlichsten Andenken ihrer Geschichte auf. Victoria hielt ihre Kerze hoch, um die Schränke mit den tiefen Fächern und all die breiten Regale zu beleuchten, die die Wände säumten. Mit Glasplatten bedeckte Vitrinentische, in denen einige der kostbaren Objekte lagerten, reihten sich aneinander, und in einer Ecke stand ein Schreibtisch, auf dem eingerollte Manuskripte und ein Vergrö ßerungsglas lagen.
Außerdem war hier der Pflock ausgestellt, den Gardeleus erhalten hatte, als er zum Urvater aller Venatoren berufen worden war. Er war aus Espenholz gefertigt, das vom Heiligen Kreuz stammte. Lady Catherines Smaragdring, den sie während ihres Aufenthalts am Hofe Königin Elisabeths getragen hatte, befand sich in einer kleinen Eschenholzschatulle, deren Ecken mit Silber beschlagen waren. In einem Eisenkäfig wurde ein kopfgroßes Ei verwahrt, das von dem Schlangendämon Pithius stammte. Es war zwar nie ausgebrütet worden, trotzdem wurde es aus Sicherheitsgründen hinter Gittern gehalten, nur für den Fall, dass die Kreatur darin eines Tages spontan ausschlüpfen sollte. Allerdings hatte es Ilias zufolge während der Jahrhunderte, die es schon dort lag, nicht ein einziges Mal auch nur gezuckt.
Dann war da noch die goldene Armspange, die Eustacia und Kritanu eines Weihnachtsabends in Venedig beschlagnahmt hatten, wodurch es ihnen gelungen war, die Stadt vor der schrecklichen Zerstörungswut eines mächtigen Vampirs zu retten. Außerdem die goldene Fußkette, die dem Dämon Daahak gehört hatte, einem div aus dem alten Persien, sowie einer jener fünf geflochtenen Kupferringe, die Lilith vor Jahrhunderten den Treuesten unter ihren Wächtervampiren geschenkt hatte. Dann lag neben dem Käfig mit dem Ei noch ein seltsam geformtes Jadekästchen, das Victoria noch nie geöffnet gesehen hatte. Und, auf einem der Tische, ein längliches Objekt aus Obsidian.
Ein Splitter von Akvans Obelisken.
Victoria ging hinüber, um ihn zu betrachten. Das funkelnde, blau-schwarze Glasfragment war nicht länger als ihr Unterarm vom Handgelenk bis zum Ellbogen und vielleicht drei Finger dick. Es mündete an einem Ende in eine tödliche Spitze, während das andere breiter und gezackt war. Eine Seite war glatt und gerundet, die andere uneben und zerfurcht.
Der Keil hatte zu dem riesigen Obelisken gehört, dessen gewaltige, böse, primitive Macht sich der Dämon Akvan zunutze gemacht hatte. Bei seiner Zerstörung war der Obelisk in einer gigantischen Explosion zerborsten und in tausend Stücke zersplittert. Victoria hatte den Obsidiansporn entdeckt, als sie in dem anschließenden Chaos mit Sebastian geflohen war, und ihn anschließend hier in Sicherheit gebracht.
Der Schein ihrer Kerze, der über das schimmernde Objekt flackerte, erinnerte sie an die blauen und schwarzen Flammen, die aus dem Obelisken hervorgelodert waren, als er noch unversehrt gewesen war. Während Victoria den Splitter betrachtete, fühlte sie ein Flirren jener Verderbtheit, die ihm einst innegewohnt hatte, und sie legte die Hand auf ihren Bauch, wo ihre vis bullae hingen und sie beschützten.
Als sie näher herantrat und mit den Fingern über den Obsidiankeil strich, spürte sie, wie das Böse in ihm aufbegehrte, und sie fragte sich plötzlich, ob es wirklich klug war, ihn hier im tiefsten, entlegensten Teil des Konsiliums zurückzulassen.
»Was tust du da?«
Max’ Stimme ließ sie zusammenzucken. Sie riss die Hand weg und drehte sich rasch zu ihm um. »Schnüffelst du mir etwa hinterher?«, fauchte sie, verärgert darüber, dass er sie ertappt hatte. Sie trat von dem Tisch weg, ohne sich noch einmal nach dem Splitter umzusehen. »Warum bist du überhaupt hier? Ich dachte, du wüsstest nicht, ob du zu uns zurückkommst. Und jetzt bist du schon wieder so omnipräsent, als wärst du nie fort gewesen. So als hättest du ein Anrecht darauf.«
Er trat nun in den Türspalt, füllte ihn ganz aus und warf wegen des helleren Korridors in seinem Rücken einen langen, dunklen Schatten in den Raum. »Ich bin für den Moment wieder zurück«, korrigierte er sie. »Suchst du nach etwas Bestimmtem?«
»Ich vergewissere mich nur, ob Tante Eustacia ihr Armband nicht hier gelassen hat, bevor sie … vor jener Nacht. Es wäre immerhin möglich gewesen«, verteidigte sie sich, als er spöttisch die Brauen hochzog. »Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich komme zu spät zu meiner Verabredung mit Wayren.«
Sie drängte sich an ihm vorbei, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als in den Gang zurückzuweichen, dann schloss sie die Tür der Asservatenkammer. Doch als sie anschließend die Bibliothek betrat, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass Max ihr folgte. »Was willst du noch?«, fragte sie unwirsch.
»Als ein Berater der letzten Illa Gardella«, entgegnete er gelassen, »wurde ich eingeladen, an der Unterredung teilzunehmen. Ilias war der Meinung, dass meine Anwesenheit durchaus erwünscht sei.«
Wayren unterband jeden Einwand, den Victoria eventuell hätte vorbringen können, indem sie sagte: »Bitte setz dich, und Max, vielleicht nimmst du auf diesem Stuhl hier Platz.« Falls der bissige Wortwechsel der Venatoren die sanftmütige Frau überrascht oder gar erschüttert hatte, so ließ sie es sich nicht anmerken. »Nun berichte uns, was geschehen ist, Victoria.«
Mit einem finsteren Blick zu Max begann sie zu sprechen. »Meine Mutter und ihre Freundinnen sind heute Abend zu einer Schatzsuche eingeladen, die nirgendwo anders stattfindet als in der Villa Palombara.«
»Möglicherweise suchen sie nach dem verschollenen Schlüssel«, vermutete Max, der, die Unterarme lässig auf die Lehnen gestützt, mit überkreuzten Beinen fast schon auf seinem Stuhl lümmelte. Beinahe so, als wüsste er, dass Victoria umso gereizter war, je entspannter er wirkte.
Was durchaus den Tatsachen entsprach. »Ja, auf den Gedanken bin ich natürlich auch schon gekommen - dass der verschwundene Schlüssel irgendwo in der Villa ist. Ich werde heute Abend mit von der Partie sein, um sicherzustellen, dass alles gut geht. Vielleicht werde ich den Schlüssel ja selbst finden -«
»In Begleitung unseres fähigen Zavier«, fiel Max ihr ins Wort. »Es ist tatsächlich ein guter Plan, deine Mutter von jemandem beschützen zu lassen. Allerdings nicht der beste.«
Victoria holte tief Luft, um die Wut, die sich in ihr zusammenbraute, zu besänftigen. Sie war nun die Illa Gardella, nicht mehr der frischgebackene Venator, den Max noch ein Jahr zuvor so mühelos hatte zur Weißglut treiben können. Sie war die Auserwählte; sie hatte ihr Können unter Beweis gestellt; sie besaß das Blut, die Fähigkeiten - und die beiden vis bullae.
Dies war nun ihr Leben.
Er mochte mehr Erfahrung haben als sie, und das war durchaus wertvoll. Trotzdem hatte auch sie Erfolge vorzuweisen. Warum also sollte sie sich seine Vorschläge nicht anhören können, ohne sich provoziert zu fühlen?
Auch wenn es sie ärgerte. Doch während sie langsam, so wie Kritanu es sie gelehrt hatte, wieder ausatmete, hob sie lediglich wortlos die Brauen - und zwar beide, als Antwort auf Max’ eine hochgezogene - und wartete, dass er fortfuhr.
»Wir wissen, dass Sara Regalado versucht hat, dich entführen zu lassen. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass sie, ihr Vater oder sonst jemand, der mit der Villa in Verbindung steht, Interesse an dem Schlüssel hat. Zwar leben keine Palombaras in Rom, aber trotzdem nehmen wir an, dass es hier Vampire gibt, die versuchen, die Schlüssel in ihren Besitz zu bringen, um das Alchimistische Portal zu öffnen. Hältst du es nicht auch für denkbar, dass irgendjemand sich als ein Palombara ausgibt und heute Nacht in der verlassenen Villa diese seltsame Party veranstaltet, in der Hoffnung, dabei auf einen der Schlüssel zu stoßen?«
»Und dass es in Wirklichkeit Vampire oder Tutela-Mitglieder sind?«, folgerte Victoria weiter. »Doch. Und aus ebendiesem Grund habe ich Zavier gebeten, mich zu begleiten. Als Leibwache meiner Mutter.«
Nun lehnte auch sie sich bequem in ihrem Stuhl zurück. »Ich werde ebenfalls daran teilnehmen, Max, allerdings anonym. Ich lege nämlich keinen gesteigerten Wert darauf, von einem der vermutlich anwesenden Vampire erkannt zu werden. Und da meine Mutter ausgerechnet von den Tarruscelli-Zwillingen eingeladen wurde, die schließlich Freunde der Regalados sind, bin ich mir des Risikos durchaus bewusst, das ich eingehe, wenn ich die Ahnungslose spiele und einfach in die Villa spaziere.«
»Also planst du, dich heimlich in das Gebäude zu schleichen?«
Victoria nickte. »Ich werde mir irgendeine Ausrede einfallen lassen, die es mir erlaubt, Zavier als Begleiter meiner Mutter und ihrer Freundinnen zurückzulassen, während ich vorgebe, nach Hause zurückzukehren.«
»Ein brillanter Plan, Victoria. Du hast das Ganze wirklich durchdacht.« Max nickte, so als würde er ihr eine außerordentliche Ehre erweisen. »Ich werde dich dort treffen, dann können wir uns gemeinsam einen Weg nach drinnen suchen.«
Sie erwiderte nichts, weil sie ihm diese Genugtuung nicht gönnen wollte.
Außerdem hatte sie nichts anderes von ihm erwartet.