40
Rule lag lang ausgestreckt auf dem Boden, die Augen geschlossen. Er spürte sie kommen. Endlich. Endlich.
Cullen lockerte die Aderpresse, die er um Rules linken Oberschenkel gebunden hatte. »Die Blutung hat aufgehört«, verkündete er zufrieden. »Oder fast. Sieht schlimm aus, aber wenigstens blutest du nicht mehr.«
Gut. Er hatte so viel Blut verloren, dass er es nicht schaffte, sich aufzusetzen. Es war besser, wenn er mit seinen Kräften haushaltete.
»Ich wünschte, ich wüsste, wie es drinnen aussieht … aber wenn es nicht mehr aus der Arterie blutet, wird auch die innere Blutung jetzt ziemlich schnell aufhören, falls das nicht ohnehin schon der Fall ist.«
»Sag … ihr nichts … von der inneren Blutung.« Meine Güte, reden tat weh.
Cullen schnaubte. »Sie reißt mir den Kopf ab, wenn ich sie anlüge. Aber wenn sie es nicht selbst anspricht …«
Rule nickte schwach. Das reichte ihm.
Ich werde am Leben bleiben, wenn du es auch tust, hatte sie gesagt. Er hatte sein Bestes getan, aber eine Zeit lang hatte es so ausgesehen, als würde er seinen Teil der Abmachung nicht einhalten können.
Sie war fast bei ihm …
Da. »Rule.« Sie nahm seine Hand. Wärme und Ruhe durchströmten ihn. »Du siehst fürchterlich aus.« Ihr Lachen war unsicher. »Voller Blut. Kannst du überhaupt etwas sehen?«
»Ein Auge ist zugeschwollen. Das andere …« Er sammelte Kraft, um weiterzureden. »Das wird nachwachsen müssen.«
»Dann hast du wohl nicht die Brownies gesehen.«
Brownies? Nicht, seitdem Harrys Truppe sich kurz einmal gezeigt hatte, am Rand der Menschenmenge, um ihnen zuzurufen »hier entlang!«. Anderen durch Informationen zu helfen, das war schließlich eine Stärke der Brownies. Und sie hatten sie unterstützt, indem sie den Leuten den Weg gewiesen hatten …
»Sie sind Helden. Die unglaublichsten Helden. Ich erzähle dir gleich, warum.« Lilys Stimme klang so, als hätte sie den Kopf abgewandt. »Sein Bein?«
Cullen antwortete. »Gebrochen. Die Oberschenkelarterie wurde aufgerissen, doch die Blutung hat aufgehört.«
Er hörte, wie sie schluckte.
Cullens Stimme wurde sanft, was selten geschah. »Es wird schon wieder, Lily. Eine Weile wird er nicht viel tun können, selbst mit seinen Superduperheilungskräften. Aber es wird schon wieder.«
Das war gut zu wissen.
Die Sirenen, die er gehört hatte, waren jetzt ganz nah. Gut. Es wurden viele Rettungswagen gebraucht. So viele Verletzte …
»Und die anderen?«, fragte Lily mit leiser, rauer Stimme. »Ein paar von ihnen habe ich gesehen, aber … Karonski. Wurde er schon gefunden?«
»Er lebt. Wurde bewusstlos geschlagen, aber Mike hat ihn gefunden und in Sicherheit gebracht.«
»Und Chris?«
Schweigen.
So viele Tote …
»Sie haben uns umzingelt«, sagte Cullen nach einem Moment. »Als der gigantische Elementargeist, den Fagin sich als Haustier gehalten hat, auftauchte, sind alle Wolf-Dämonen hinter Rule her gewesen. Wir anderen waren nur Hindernisse. Es hätte noch mehr Tote gegeben, wenn sie auch uns hätten töten wollen. Wir sind alle verletzt, aber es hätten noch viel mehr Lupi sterben können. Doch sie wollten nur Rule.«
»Ich dachte – in meinen Augen waren sie hinter dir her, Cullen. Der erste als Wolf, dann der Lily-Dämon, dann wieder ein Wolf.«
»Oh.« Rule konnte an der Stimme seines Freundes hören, dass er mit den Achseln zuckte. »Wenn er kann, versucht ein Dämon immer, sich einen Zauberer zu schnappen, denn sie wissen nie, zu was einer von uns fähig ist, deswegen wollen sie uns so schnell wie möglich ausschalten.«
Komisch, dass Cullen das jetzt erst erwähnte.
»Etwas hat sich zwischendurch geändert«, fuhr Cullen fort. »Zuerst schienen sie aus eigenem Antrieb zu handeln. Doch als sie Rule angriffen, nicht mehr. Jemand anders kontrollierte sie.«
»Chittenden«, sagte Lily. »Er hat sie geschickt. Er muss … ich glaube, zuerst hat er sich an den ursprünglichen Plan gehalten, indem er die von Dämonen besessenen Doppelgänger losließ. Je mehr Leute sie töteten, desto besser. Denn das würde man den Lupi in die Schuhe schieben. Es scheint so, als hätte er dann seine Taktik geändert, als er begriff, dass er auf diese Weise keine Opfer bekommen würde, um die Elementargeister zu nähren. Ich weiß nicht, was er mit den Elementargeistern vorhatte, oder wie er zweiundzwanzig Leute vor den Augen aller hatte opfern wollen. Vielleicht dachte er, dass ohnehin keiner, der Zeuge davon würde, wie er ihnen die Kehle durchschnitt, überleben würde.«
»Ja, das könnte stimmen«, sagte Cullen. »Doch dann hat er Rule entdeckt und einen Doppelgänger nach ihm ausgeschickt. Vermutlich war die Gelegenheit einfach zu günstig, um sie ungenutzt zu lassen. Ist Chittenden tot?«
»Ich habe ihn bewusstlos geschlagen. Ich war drauf und dran … aber habe es dann doch nicht getan. Ich will, dass ihm der Prozess gemacht wird.«
»Immerhin etwas, schätze ich.« Cullen schwieg einen Moment. »Du wolltest mir erzählen, was mit diesem enormen Elementargeist passiert ist. Ich habe gesehen, wie die Brownies an ihm hochgeklettert sind wie an einer Wand, aber was sie dann gemacht haben, weiß ich nicht.«
Sie erzählte es ihm. Rule spürte, wie sich sein Gesicht zu einem Lächeln verzog. Es tat weh, aber auf ein bisschen mehr oder weniger Schmerzen kam es jetzt auch nicht mehr an.
Jemand – Mike, dem Klang der Stimme nach – rief nach Cullen, damit er einen Knochen richtete. Cullen trug Lily auf: »Ruf mich, wenn er wieder anfängt zu bluten. Doch das wird vermutlich nicht der Fall sein.« und ging dann.
Das Heulen einer der Sirenen schwoll an und verstummte dann. Hilfe war da. Rule musste etwas loswerden, bevor dieser kurze Moment zu zweit vorbei war. »Lily.«
Sie beugte sich näher vor zu ihm. So nah, dass er ihren Duft einatmen konnte, den süßen, beruhigenden Duft ihrer Haut … und ihrer Tränen. Sie hatte sich so bemüht, sich die Tränen nicht anhören zu lassen, doch sie weinte seit dem Moment, als sie sich neben ihm niedergelassen hatte. Er musste wirklich schlimm aussehen. »Du hast das Richtige getan. Wenn du gehorcht hättest …« Nein, Gehorsam lag seiner nadia nicht, und dafür war er froh und dankbar. »Wenn du auf mich gehört hättest, als ich versucht habe, es dir zu verbieten, wären wir jetzt alle tot.«
»Ich habe getan, was ich tun musste, aber es war nur eine Vermutung. Mehr nicht.«
»Eine Vermutung, der du mit großem Mut nachgegangen bist.« Auch wenn es ihn viel Mühe kostete, hob er die Hand, um ihr Haar zu berühren. Ihr Gesicht berührte er nicht, obwohl es gern getan hätte. Aber sie wollte nicht, dass er ihre Tränen bemerkte. »Ich wusste, dass du gehen musstest, dass du deinen Teil beitragen musstest. Ich konnte nur nicht … Du bist mutiger als ich.«
Seine schöne, mutige nadia schnaubte. »Ja, klar. Und warum hast du Scott geschickt, statt selbst mitzukommen?«
»Ich konnte nicht.« Die Erinnerung an diesen Moment wurde wach und drückte ihm wieder die Luft ab – wie Lily losrannte, ins Ungewisse, wie jede ihrer Bewegungen die wölfischen Instinkte, die in den von Dämonen besessenen Kopien seines Volkes lebendig waren, gereizt hatte. »Scott ist noch nicht wieder ganz genesen. Er konnte nicht richtig kämpfen. Zu viele wären gestorben, wenn ich gegangen wäre. Ich musste bleiben.«
»Ich weiß«, sagte sie sanft und fand wundersamerweise die eine Stelle in seinem Gesicht, die nicht schmerzte, und streichelte sie. »Ich weiß. Was bedeutet, du hast getan, was du tun musstest, genau wie ich, oder nicht?«
Die vier Kundgebungen von Humans First forderten zweihundertneunundfünfzig Todesopfer – einhundertzwölf allein in D.C. Kein Wunder, denn dies war bei Weitem die größte Kundgebung gewesen. Außerdem war es die einzige, bei der Elementargeister beschworen worden waren, und den Schätzungen zufolge war die Zahl der Wolf-Dämonen hier doppelt so hoch wie in den anderen Städten gewesen. Albuquerque war auf Rang zwei, was die Zahl der Toten anging, vor allem weil Manuel und seine Clanmänner die weiteste Anreise gehabt hatten und erst spät eingetroffen waren.
Von den zweihundertneunundfünfzig Todesopfern waren siebenunddreißig Lupi … was sich nicht allzu unverhältnismäßig anhörte, bis man sich alle Zahlen ansah. Was Arjenie tat, weil ihr Verstand so arbeitete. Sie schickte Rule eine E-Mail mit diesen Zahlen, die er las, als man ihm die letzte der vier Blutkonserven verabreichte, die er brauchte.
Daraufhin rief er auf der Stelle ein paar seiner Medienkontakte an, um seine Absicht anzukündigen, vor der Presse eine Stellungnahme abzugeben, und zwar in dem Rollstuhl, mit dem er aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Ein Auge war hinter einer Gazeauflage verborgen. Die Schwellung um das andere war, wie er gesagt hatte, zurückgegangen.
Auf dieser Pressekonferenz berichtete er vor den Kameras, dass an den vier Kundgebungen insgesamt schätzungsweise fünfunddreißigtausend Menschen teilgenommen hatten. Sieben Zehntel von einhundert Prozent dieser Menschen waren ums Leben gekommen. Einhundertvierundsechzig Lupi waren herbeigeeilt, um die Menschen auf diesen Kundgebungen zu retten.
Ein Fünftel von ihnen wurde getötet, fast ein Drittel von ihnen in D.C.
Rules Auftritt vor der Presse zog mehrere Stunden lang die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, bis eine Bekanntmachung des Verteidigungsministers alles andere in den Hintergrund drängte.
Ein nuklearer Sprengkopf war am Morgen aus Versehen als Folge einer Reihe von geheimnisvollen Pannen, die niemand erklären konnte, gezündet worden. Der Flugkörper hatte offenbar die Westküste angesteuert, als – was ein noch größeres Mysterium war – er plötzlich aus der Sicht und vom Radar verschwunden war. Es war keine Spur des Flugkörpers oder des Sprengkopfes gefunden worden.
Bei allem, was an diesem Tag passiert war, war es nicht überraschend, dass niemand bemerkte, dass vier der Städte der Vereinigten Staaten, die über Drachen verfügten, zeitweise auf diese hatten verzichten müssen. Da sie nur einen einzigen Tag fort waren, hätte es wohl auch ohne die dramatischen Ereignisse niemand bemerkt.
Am nächsten Tag gingen am Flughafen von Denver sechs Frauen zu unterschiedlichen Zeiten an Bord und flogen zurück nach Hause.
Die siebte Frau brauchte keinen Flug zu nehmen. Sobald ihre Arbeit getan war, hatte ein großer schwarzer Drache vorsichtig die Klauen um ihre leere Hülle gelegt und sie nach Hause gebracht, während ihr farbenfrohes Gewand fröhlich im Flugwind flatterte.
Drachen können nicht selbst Tore öffnen. Sie können sie manipulieren, mit Energie versorgen, sogar schließen, doch sie können sie nicht öffnen. Aus Gründen, die sie nicht erklären, reicht die Magie ihres Liedes dafür nicht. Die Rhejes können Tore öffnen, dieses Wissen wird in den Erinnerungen bewahrt. Doch ein Tor genau vor einer Interkontinentalrakete, die mit tausend Meilen pro Stunde durch die Luft raste, zu platzieren, das können auch sie nicht. Deswegen brauchten sie die Drachen genauso, wie die Drachen sie brauchten.
Für die Öffnung eines Tores braucht man eine riesige Menge Energie. Die konnten die Drachen liefern, doch die Rhejes mussten sie channeln. Für ein einundachtzig Jahre altes Herz, so tapfer es auch war, war das zu viel der Anstrengung, und die beiden anwesenden Heilerinnen konnten ihren Chant nicht unterbrechen, um ihr zu helfen. Trotzdem hatte sie weitergemacht und nicht aufgegeben, bis das Tor sich geöffnet hatte und die Rakete in eine Welt geflogen war, in der es seit über dreitausend Jahren kein Leben gegeben hatte.
Der Clan der Nokolai hatte eine neue Rhej.
Zwei Tage später wurde Lily in Crofts Büro gerufen, um »die Ergebnisse der verwaltungsgerichtlichen Anhörung zu diskutieren«. Aus dem Klang seiner Stimme schloss sie, dass er gute Nachrichten für sie hatte, deswegen war sie voller Hoffnung, doch ihren Job behalten zu können – möglicherweise mit einem Eintrag in der Personalakte, aber damit konnte sie leben.
»Was sagen Sie da?«, fragte sie entgeistert.
»Es ist eine große Ehre. Die Bürgermedaille der Präsidentin ist die zweithöchste Auszeichnung für einen Zivilisten in diesem Land. Die Präsidentin wird sie Ihnen selbstverständlich persönlich überreichen.«
Das machte sie wütend. »Ich bin keine Heldin. Ich war einfach da. Mehr nicht. Oh, und ich habe Chittenden einen Schädelbruch zugefügt, was mich persönlich sehr glücklich macht. Aber wenn die Präsidentin Medaillen verteilen will, dann kann ich Ihnen die Namen von ein Dutzend Personen sagen, die sie mehr verdienen. Harry und seine Truppe. Chris, Mike, Scott, Rule, Isen –« Sie musste abbrechen, weil ihr der Atem stockte. Nicht jeder, den sie aufgezählt hatte, war noch da, um eine dumme Medaille zu empfangen. »Diese alte Frau mit der Handtasche – das ist eine Heldin! Es ist nicht richtig, mich auf diese Weise auszuzeichnen. Es ist nicht richtig.«
»Manchmal ist da zu sein das, was das Wichtigste ist. Immer wieder da sein, unermüdlich, egal wie schwer es ist.«
Sie schüttelte den Kopf. Ihr fehlten die Worte.
»Außerdem bin ich nicht der Meinung, dass Sie nicht viel getan haben. Und es gibt noch zweiundzwanzig andere, die ohne Sie heute nicht am Leben wären, die sicher meiner Meinung sind. Und wenn Sie diesem Tipp nicht nachgegangen wären …« Croft hielt inne, als wäre ihm das Thema unangenehm. Er wusste, wer Lily den Tipp gegeben hatte, dass Chittenden im Besitz des Amuletts war, auch wenn es nicht in ihrem offiziellen Bericht stand, doch er hatte immer vermieden, es zu erwähnen. Ganz offensichtlich behagte ihm die Vorstellung, dass Geister Tipps geben konnten, nicht. »Wenn Sie nicht aktiv geworden wären, wären die Brownies niemals erfolgreich gewesen.«
»Dann geben Sie den Brownies die Medaille.«
»Das wollte die Präsidentin auch. Doch ihr Sprecher sagte, sie müssten respektvoll jede Art von Auszeichnung ablehnen, und außerdem würden sie nie ihr Reservat verlassen, deshalb wüssten sie gar nicht, wovon wir sprechen.«
Das brachte sie zum Lachen. »Ich habe gehört, dass sie es nicht mögen, wenn man viel Wind um ihren Mut macht.«
Er lächelte. »Sieht so aus.« Das Lächeln verschwand. »Was die öffentliche Ehrung des Heldentums von Lupi angeht und der Opfer, die sie bringen … Ich hoffe, dass das irgendwann geschieht, aber im Moment ist das Land zu sehr gespalten. Es herrscht ein starkes Unbehagen, selbst bei denen, die zustimmen würden, dass sie sich heldenhaft verhalten haben – aber man glaubt, dass das alles gar nicht erst passiert wäre, wenn es in diesem Land keine Lupi gäbe. Und selbstverständlich gibt es die lautstarke Minderheit, die glaubt, dass die Regierung mit einem umfangreichen Vertuschungsmanöver kaschieren will, dass eigentlich die Lupi hinter allem stecken und nicht Paul Chittenden.«
Lily verzog das Gesicht. Die Humans-First-Bewegung gab es immer noch. Sie hatte jetzt weniger Mitglieder, aber sie war nicht tot.
»Lily.« Mit ernster Miene lehnte Croft sich vor. »Menschen brauchen Helden. Geben Sie ihnen einen.«
»Ja, seien Sie kein Frosch«, sagte Al Drummond. Er saß auf dem anderen Besucherstuhl, blass wie immer. »Nehmen sie die verdammte Medaille.«
Sie hätte ihm gern gesagt, dass es ihr physisch unmöglich war, ein Frosch zu sein. Sie hätte ihm gern gesagt, er solle verschwinden – was zu tun er sich bisher geweigert hatte. Nicht, dass er jede Minute des Tages um sie herumschwirrte, doch dann und wann erschien er ganz plötzlich, gewöhnlich mit einem ungebetenen Rat.
Aber da man komisch angeschaut wurde, wenn man mit einem unsichtbaren Freund sprach, hielt sie den Mund. Und am Ende akzeptierte Lily die Medaille. Es würde Monate, vielleicht ein Jahr dauern, bevor die Überreichungszeremonie stattfinden konnte. Und wer weiß? Bis dahin würde sie sie vielleicht gar nicht mehr über sich ergehen lassen müssen, weil sie tatsächlich suspendiert und entlassen worden war.
Drei Tage später, am Abend, bevor Lily und Rule – endlich – nach Hause fliegen sollten, befanden sie sich im Schlafzimmer des Hauses in Georgetown und zogen sich an.
Auf dem Bett sitzend, schlüpfte Rule in sein Hemd. Mittlerweile konnte er wieder ohne Krücken stehen; er hatte zwar nachdrücklich darauf bestehen müssen, doch man hatte schließlich sein Bein in Gips gelegt, sobald die äußere Wunde sich geschlossen hatte. Das half zwar, aber das Stehen tat immer noch mehr weh, als er zugeben wollte, deswegen setzte er sich so oft wie möglich hin.
Der Oberschenkelhalsknochen hatte gerade erst angefangen zu heilen, die Verletzung an seinem Auge war noch da. Kein schöner Anblick, wie er wusste, deswegen behielt er den quadratischen Gazeverband darüber. Seine Selbstheilungskräfte hatten die inneren Verletzungen als Erstes in Angriff genommen. Das war normal. Doch er fand, dass es ewig dauerte, bis er sich wieder normal fühlte.
So viele Tote. Zu viele, und der Krieg hatte gerade erst begonnen.
»Bin ich die Einzige, die findet, dass es komisch ist, zu einer Dinnerparty zu gehen?«, fragte Lily, die sich von ihrem Schrank abwandte, eine Halskette in der Hand. »Oder dass Deborah und Ruben eine geben?«
»Deborah möchte sich normal fühlen. Und außer uns ist nur Isen eingeladen, also ist es keine richtige Party.«
»Kannst du den Verschluss mal zumachen?«, sagte Lily und hielt ihm die Halskette hin. Die, die er ihr geschenkt hatte … Herrje, war das erst vor zwei Wochen gewesen? »Nein, bleib sitzen.« Sie stieß ungeduldig die Luft aus und ging vor ihm in die Hocke. »Hier.« Sie strich ihr Haar zur Seite. »Ich hoffe, Fagin hat recht mit diesen weißen Steinen.«
Er ließ sich Zeit damit, die Halskette zu schließen, denn er genoss den leichten, unwillkürlichen Schauer, der sie bei seiner Berührung überlief. Bisher war er noch in zu schlechter Verfassung gewesen, um mit ihr zu schlafen, doch das würde sich heute Abend, da seine inneren Verletzungen verheilt waren, ändern. Das gelobte er sich. »Was ist mit diesen Steinen? Es sind übrigens Achate.«
»Das hat er auch gesagt. Außerdem sagte er, dass weiße Achate gegen das Böse und verwirrte Geister schützen.«
Er musste grinsen. »Du willst wohl nicht, dass Drummond uns einen Besuch abstattet, wenn wir unsere Steaks essen?« Laut Lily war ja der Geist nicht ständig um sie. Nur hin und wieder.
»So ist es. Wenn es funktioniert, dann lege ich sie nie wieder ab.« Sie stand auf. »Ich hole dir deine Schuhe. Nein, bleib da«, sagte sie streng. »Findest du es in Ordnung, dass du mir ständig geholfen hast, als mein Arm nicht zu gebrauchen war, aber du dir von mir nie helfen lassen willst?«
Anscheinend war dies eine rhetorische Frage, denn sie ging zurück zum Schrank, ohne auf eine Antwort zu warten. Also knöpfte Rule weiter sein Hemd zu und wartete gehorsam.
Dass er den ersten Wandel als Erwachsener erlebt hatte, hatte sich wesentlich auf Rubens Umstellung ausgewirkt. Gestern war er nach Washington als Zweibeiner zurückgekehrt – doch nur vorübergehend und nicht allein. Außer Isen hatte er noch fünf Wachen der Wythe mitgebracht. Isen fand, dass Rubens Selbstbeherrschung ausreichte, um ihn in die Nähe von Menschen lassen zu können, solange er selbst bei ihm war. Wenn der Wolf zu präsent war, fiel es Ruben noch schwer zu sprechen, doch alles in allem hatte er sich gut in der Gewalt.
Sie hatten beschlossen, Rubens Transformation so gut es ging geheim zu halten. Die Präsidentin wusste davon, ebenso Croft. Doch selbst der Direktor des FBI war sich nicht im Klaren darüber, dass sein kurzzeitig beurlaubter und dann wieder eingesetzter Leiter der Einheit 12 ein Werwolf war, der den Kampf gegen die Dämonen-Doppelgänger in Albany mit angeführt hatte.
Die Vorwürfe gegen Ruben waren fallen gelassen worden. Er würde weiter die Einheit 12 befehligen … doch Croft würde trotzdem nicht vom Schreibtisch loskommen, denn Ruben war noch längst nicht bereit, die gesamte Leitung zu übernehmen. Morgen würden er, Deborah und Isen zum Clangut der Wythe aufbrechen, um sich dann an einen geheimen Ort zurückzuziehen, wo der von seiner Privatsphäre besessene Heiler, der Ruben gleich nach seinem Herzinfarkt geholfen hatte, seine Behandlung fortsetzen konnte. Ob diese Behandlung wirkte, würde sich in einigen Wochen zeigen, wenn die Brooks wieder nach Hause kamen. Bis dahin wäre ihr Swimmingpool gefüllt und das neue zweigeschossige »Gästehaus« fertiggestellt … die Schlafräume für die Wythe-Wachen.
Natürlich würden die Brooks von nun an sehr viel Zeit in Upstate New York verbringen, was aber Rubens Arbeit als Leiter der Einheit 12 nicht beeinträchtigen würde.
Als Lily sich von dem Schrank abwandte, hatte sie Rules Lieblingsslipper in einer Hand … und eine kleine, in glänzend weißes Papier gewickelte Schachtel in der anderen.
»Was ist denn das? Mein Geburtstag ist doch erst in vier Tagen.« Und er würde ihn mit Lily und Toby verbringen. Sein Herz machte einen kleinen Satz. Das war das erste Mal, dass er seinen Geburtstag mit seinem Sohn feierte – und gemeinsam mit Lily.
»In drei Tagen«, korrigierte sie ihn. »Glaubst du, das hätte ich vergessen? Das ist unser Elf-Monate-eine-Woche-und, äh … drei-Tage-Jubiläum.«
Er lächelte. »Elf Monate, zwei Wochen und fünf Tage.«
»Stell dich nicht so an.« Sie ließ sich neben ihm auf dem Bett nieder. »Der Punkt ist der: Das ist kein verfrühtes Geburtstagsgeschenk. Du weißt, dass das nicht meine Sache ist. Es ist nur eine Kleinigkeit.« Sie gab ihm die Schachtel.
Unter der großen silbernen Schleife wirkte die leichte Schachtel winzig klein. Er zog die Schleife ab und riss das Papier auf.
Sie hatte ihm eine Augenklappe geschenkt. Eine Augenklappe aus schwarzer Seide.
»So siehst du aus wie ein Pirat, nicht wie ein Patient«, sagte Lily. »Patient zu sein ist nicht schön, aber ein Pirat – na ja. Das ist schneidig.«
»Ich bin nicht eitel.« Doch auf einmal hatte er es eilig, den Verband loszuwerden. Er reichte ihr die Augenklappe, damit er die Gaze entfernen konnte.
»Doch, das bist du.« Die Augenklappe wurde mit einem Seidenband befestigt, das hinten elastisch war. Sie zupfte daran. »Gut. Es passt.«
Ja, es passte. Seine Finger sagten ihm, dass die Klappe sein Auge von der Braue bis zum Wangenknochen bedeckte. »Sehe ich jetzt schneidig aus?«
»Und wie.« Sie beugte sich vor zu ihm und küsste ihn leicht. »Ein Mann mit Gips und Verband sieht wie ein Verletzter aus. Ein Mann mit Gips und Augenklappe sieht gefährlich aus. Habe ich mir jedenfalls gedacht.«
»Ja, das ist so eine Gewohnheit von dir, das habe ich schon bemerkt.« Er schlüpfte in seine Schuhe. »Gibst du mir bitte die Krücken? Ich will sehen, wie es aussieht.«
Sie reichte sie ihm. »Was die Hochzeit angeht.«
Er hielt inne. »Ja?«
»Wir wissen immer noch nicht, wer die Zeremonie abhält. Vielleicht sollten wir mal darüber reden.«
Das letzte Mal, als Rule dieses Thema angesprochen hatte, wäre sie ihm fast davongelaufen. Für Lily stellte Religion im Allgemeinen ein Problem dar. Warum redete sie nun … Oh. Er lächelte.
Sie gestaltete alles so normal wie möglich für ihn, oder versuchte es wenigstens. Was hatte er ihr vor zwei Wochen gesagt? Sie hatte ihn gefragt, wie er in dieser Situation eine Hochzeit planen und eine Halskette für sie aussuchen konnte, und die Antwort war ganz klar für ihn gewesen.
Wie sonst konnte er leben?
Jetzt jedoch war nichts klar für ihn … nur seine Liebe zu Lily. Die ein Geschenk für ihn ausgesucht hatte und auf einmal über Hochzeitspläne sprechen wollte. Er stützte sich mit den Krücken hoch, beugte sich vor und küsste sie. »Vielleicht könnte Sam für uns die Zeremonie abhalten.«
Sie starrte ihn an. »Sam? Aber er ist nicht – das ist – ich glaube nicht, dass das legal ist.«
»Oder wir könnten Vater Michaels fragen. Bei Cullen und Cynnas Hochzeit hat er mir gut gefallen.« Er schwang sich hinüber zu dem hohen Spiegel und lächelte. Die Augenklappe sah wirklich gut aus.
»Aber wir sind nicht katholisch. Und er lebt hier, und wir heiraten in San Diego.«
»Das könnte ein Problem darstellen. Ich habe eine andere Idee. Ich glaube, Carl war irgendwann mal Pfarrer. Unter einem anderen Namen, aber das dürfte kein Hindernis sein.« Er drehte sich um. »Würdest du gerne von Carl getraut werden?«
»Dem Koch deines Vaters?«
»Ja, und außerdem hätte ich gerne Tauben.«
»Tauben.« Sie riss entsetzt die Augen auf. »Meine Mutter wünscht sich Tauben.«
»Vielleicht hat sie nicht unrecht. Wäre es nicht herrlich, ein paar weiße Tauben fliegen zu lassen, die unsere Botschaft von Hoffnung und Liebe hinauf zu –«
»Blödmann.« Doch sie lachte. »Tauben, na klar. Unsere Gäste würden sich sicher über ein paar fliegende Hors d’œuvre freuen. Und vielleicht sollten wir statt Kuchen als Nachspeise ein paar süße kleine Häschen für sie bestellen, die sie nach der Zeremonie jagen können, und damit unsere Botschaft von kuschelig köstlicher Liebe an alle Fleischesser zu schicken.«
Er musste sie noch einmal küssen – was ärgerlicherweise erst ein umständliches Hantieren mit den Krücken erforderte, denn er hatte nicht vor, ihr nur einen flüchtigen Kuss auf die Wange zu geben. Doch schließlich hatte er es geschafft – und dann blieb die Zeit einfach stehen.
Als er sich von ihr gelöst hatte, hob er den Kopf und sah sie an: »Ich liebe dich, Lily.«
»Ja«, sagte sie lächelnd. »Ich weiß.«