13

Die Fahrt zum Hauptquartier nutzte Lily, um ihrem Fahrer weitere Fragen zu stellen. Bis er in der Tiefgarage parkte, verschonten die Schmerzgötter sie mit Blitzen im Schädel. Im Aufzug nach oben dachte sie an Tante Mequi.

Ihre Tante hatte unter Migräne gelitten. Schlimmer Migräne. Ein paar Mal war sie sogar deswegen in der Notaufnahme gelandet, auch wenn darüber nicht gesprochen werden durfte. Tante Mequi empfand es als ehrenrührig, dass sie den Schmerz nicht ohne Hilfe ausgehalten hatte. Ihre Migräneanfälle hatten allerdings einige Stunden und nicht Momente gedauert wie Lilys Blitze-aus-heiterem-Himmel. Aber angeblich sollte es ja verschiedene Arten von Migräne geben.

Rule hatte Angst, dass irgendeine schlimme körperliche oder magische Funktionsstörung schuld an Lilys Schmerzen war, aber Rule war ja auch ein Lupus, dem der Kopf nur wehtat, wenn er eine Gehirnerschütterung hatte. Aus Lilys Sicht konnte es vielerlei andere Gründe geben.

In dem Flur vor dem Konferenzraum hatte sich ein kleines Grüppchen versammelt. Lily erkannte zwei der Wartenden: Doug Mullins und Sherry O’Shaunessy. Alle Blicke richteten sich auf sie. Mullins machte ein missmutiges Gesicht. Sherry lächelte.

Sherry O’Shaunessy sah aus wie eine junge, vornehme Großmutter abgesehen von ihrem Haar. Das war zwar grau, doch trug sie es oft offen, und dann reichte es ihr bis über die Hüften. Heute trug sie es jedoch zu einem Zopf geflochten, den sie oben auf dem Kopf zusammengedreht hatte. Sie hatte Pausbäckchen, ein ansteckendes Lachen, und ihre Gabe war das Wasser. Sie war eine der mächtigsten Hexen des Landes und die Hohepriesterin des Wicca-Covens, mit dem die Einheit auf Vertragsbasis zusammenarbeitete.

Heute Morgen sah sie müde aus. Lily ging zu ihr. »Schön, Sie zu sehen. Sie haben doch nicht etwa die ganze Nacht durchgearbeitet, oder?«

»Ich fürchte, doch. So leicht wie früher fällt es mir nicht mehr. Haben Sie «

Sie wurde von Mullins unterbrochen. »Er will, dass Sie reinkommen, Yu.«

In Mullins’ Welt musste »er« wohl Drummond bedeuten. Lily nickte ihm zu und sagte zu Sherry: »Dann sehe ich Sie drinnen, nehme ich an.«

Sherry ergriff Lilys Hand und drückte sie leicht. Wassermagie fühlte sich wie das Element an, von dem sie ihre Energie bezog, doch Sherrys Magie war für Lily wie der Ozean, kein Regen oder Bach oder tiefer Tümpel. Beinahe meinte sie, die salzige Gischt zu riechen. »Ich bin froh, dass Sie bei diesem Fall mit an Bord sind, meine Liebe.«

»Reinkommen«, wiederholte Mullins mit böser Miene.

Sherry lächelte ihn an. »Ihr Name ist Doug, nicht wahr?«

Mullins blinzelte und machte ein unschlüssiges Gesicht wahrscheinlich, weil er gegen den Drang ankämpfte, zurückzulächeln. Satan höchstpersönlich würde seine liebe Mühe haben, Sherrys Lächeln zu widerstehen. »Doug Mullins, ja, Ma’am.«

Sie tätschelte seinen Arm. »Nicht jeder ist in der Lage, das sprichwörtliche Löffelchen Zucker anzubieten, aber deswegen müssen wir doch nicht Essig über alles gießen.« Sie sah Lily an. »Doug bewacht die Tür. Ich fürchte, er ist ein wenig ruppig, aber er hat seine Befehle.«

»Und ich auch, schätze ich.« Lily nickte ihr noch einmal zu und wandte sich der Konferenz zu.

Der Konferenzraum war groß genug, dass ein Tisch für dreißig Personen darin Platz hatte. Jetzt saßen nur vier daran: Drummond, ein Senior Agent vom MCD namens Mike Brassard, den Lily nur flüchtig kannte und zwei andere, die sie nicht kannte. An einer Weißwandtafel hingen die Tatortfotos und auf einem Konsolentisch befanden sich eine Kaffeekanne, Tassen, Milch und Zucker.

Lily steuerte geradewegs darauf zu.

Drummond unterbrach sein Gespräch mit der Frau, die neben ihm saß braune Haare, blaue Augen, blasse Haut, Brille, eins fünfundsechzig, achtzig Kilo, zerknitterter grauer Hosenanzug, Ende vierzig. »Sie kommen zu spät«, sagte er zu Lily.

»Es ist acht Uhr eins, richtig, ich bin zu spät.« Sie goss sich eine Tasse ein. Er roch, als sei er frisch.

»Ich möchte, dass Sie jeden hier in diesem Raum auf Ihre besondere Art überprüfen. Und zwar jetzt gleich.«

Lily seufzte, stellte die Tasse ab und trat zu der pummeligen Frau neben Drummond. Ein kurzes Händeschütteln bestätigte ihr, dass sie keine Gabe hatte und keinerlei Todesmagie an ihr haftete. Dasselbe tat sie mit einem Asiaten mit strahlenden Augen um die dreißig und mit Brassard, dem MCD-Agenten.

»Und?«, fragte Drummond.

»Keine Todesmagie. Ich sollte eigentlich auch Ruben Brooks überprüfen.«

»Nein.«

»Es würde nichts beweisen, aber es wäre eine Information mehr.«

»Sie sind nicht nur seine Untergebene. Sie waren zu seiner verdammten Party am Samstag eingeladen. Solange diese Ermittlungen andauern, werden Sie sich schön von ihm fernhalten.«

Sie presste die Lippen aufeinander und ging zurück, um ihren Kaffee zu holen.

»Ihrer Koffeinsucht können Sie später frönen. Wir werden mit einem großen Team arbeiten. Ich will, dass sie alle gecheckt werden, bevor wir anfangen. Doug schickt sie nacheinander rein. Sie stehen an der Tür und nehmen sie in Empfang. Wenn Sie Todesmagie finden, sagen Sie nichts, reiben Sie sich nur die Hände. Nguyen, sie notieren sich jeden, bei dem sie etwas findet.«

Die Verwirrung, falls sie etwas Verdächtiges feststellen sollte, zu minimieren, war ein guter Plan. Lily nickte, sagte aber: »Wenn ich bei jemandem nichts finde, heißt das aber nur, dass derjenige in der letzten Zeit nicht mit Todesmagie in Kontakt war. Ich kann nicht sagen, wie lange nicht.«

»Es ist eine Information mehr.«

Da sie selbst eben dasselbe gesagt hatte, konnte sie ihm schlecht widersprechen, auch wenn sie es gern getan hätte. Irgendwie hatte Drummond diese Wirkung auf sie. »Ich habe eine Theorie über einen der Täter. Den, der das Messer in Bixton gerammt hat.«

»Aber machen Sie schnell.«

Sie erklärte ihm, warum Cullen annahm, dass der Killer eine Null sein könnte wobei sie diesen Begriff vermied, weil er von vielen als abfällig empfunden wurde.

Er grunzte, möglicherweise überrascht. »Darauf kommen wir später noch einmal zurück. Jetzt gehen Sie bitte an die Tür. Ich will die Sache hinter mich bringen.«

Lily schüttelte neunzehn Hände. Keine Todesmagie. Ein Agent hatte eine schwach ausgeprägte Gabe: physische Empathie was Lily überraschte, denn es handelte sich um eine seltene Gabe, die dem Mann kaum entgangen sein konnte –, immerhin verfügte er dadurch über einen zusätzlichen Sinn. Anders als echte Empathie erlaubte es die physische Empathie, Gegenständliches auf gänzlich andere Art wahrzunehmen.

Der Agent sah ihr in die Augen, als sie seine Hand schüttelte, und sagte nichts. Auch Lily sagte nichts. Sie outete niemanden. Aber sie merkte sich seinen Namen und sein Gesicht: Don Richardson. Europäischer Abstammung, Anfang vierzig, eins achtundsiebzig, braune Haare, braune Augen, eine kleine Narbe unter dem rechten Ohr.

Ein paar der Leute kannte Lily, wie zum Beispiel Paul von der Recherche und Hannah aus der Kriminaltechnik. Und die letzte Person, die den Raum betrat und eine schwache Gabe zum Mustersichten hatte. Davon wusste Lily aber bereits. Sie selbst hatte Anna Sjorensen für die Fortbildung vorgeschlagen, als sie sich letzten Monat kennengelernt hatten. Zu eben dieser Fortbildung war Sjorensen kürzlich in die Zentrale versetzt worden; danach sollte sie dann zur Einheit stoßen.

Bei der Einheit zu arbeiten, war Anna Sjorensens Traum. Lily schenkte ihr ein Lächeln. »Schön, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.«

Sjorensen antwortete mit einem sehr ernsten Nicken. Sie war immer sehr ernst. »Das ist eine schlimme Sache. Aber ich weiß nicht recht, warum ich hier bin.«

»Wenn ich jemandem sage, er soll mir Kaffee holen, habe ich gleich eine Klage am Hals«, sagte Drummond säuerlich, »und Erin zieht mir eins über. Sie sind hier, damit Sie tun, was man Ihnen sagt. Setzen Sie sich. Fangen wir an.«

Drummond stellte Mullins und die drei anderen Personen vor, die zuerst im Raum gewesen waren, und nannte sie Team eins: Mike Brassard, Erin Hoffsteader und Sam Nguyen. Jeder der drei war mit verschiedenen Aspekten der Untersuchung betraut. Er sagte, er würde den Stand der Ermittlungen zusammenfassen und einige von ihnen um einen Bericht bitten, nachdem Ms O’Shaunessy ihnen ihre Ergebnisse mitgeteilt hatte. Danach würde sie für eventuelle Fragen zur Verfügung stehen, aber dann sollte sie ein wenig Schlaf nachholen. »Also: Fassen Sie sich kurz.«

Vielleicht konnte der Mann auch etwas anderes als ein Arschloch sein.

Danach gab Sherry eine kurze Zusammenfassung dessen, was der Coven herausgefunden hatte. Ja, an dem Dolch war eine beträchtliche Menge Todesmagie gewesen, und an Bixtons Leiche hatten sie ebenfalls Spuren festgestellt. Außerdem hatten sie das Vorhandensein eines Zaubers bestätigt, den sie aber nicht hatten identifizieren können. »Es kann Wochen dauern, sogar Monate, einen Zauber zu dekonstruieren«, schloss sie, »wenn es uns überhaupt gelingt. Es gibt keine visuellen Komponenten, deswegen müssen wir mit der Versuch-und-Irrtum-Methode arbeiten.«

Lily war, wie sie festgestellt hatte, die einzige Agentin der Einheit unter ihnen. Die Fragen, die nach Sherrys Bericht gestellt wurden, machten deutlich, dass die meisten der anderen keinen blassen Schimmer von Magie hatten. Es waren keine dummen Fragen, sie zeigten nur deutlich ihre Unwissenheit. Manche schienen skeptisch, was die Verwertbarkeit von magisch gewonnenen Beweisen anging. Einer zeigte sich sogar ganz offen feindselig.

» wissenschaftliche Methode bedeutet, dass die Resultate wiederholbar sind. Das ist wohl kaum der Fall, wenn man die ganze Nacht nackt herumtanzt und dann mit «

»Mayhew«, sagte Drummond, »halten Sie den Mund. Sie ist die Fachfrau. Nicht Sie. Sie haben einen Verstand wie eine Stahlfalle, aber wenn er nicht beweglich genug ist, das zu akzeptieren, gehören Sie nicht in dieses Team.«

Mayhew hielt den Mund. Auch wenn Lily nicht glaubte, dass sein Verstand sich bewegt hatte, aber er hielt den Mund. Die kurze Stille nutzte Lily, um leise zu Sherry zu sagen: »Was die Identifikation dieses Zaubers angeht Cullen ist in der Stadt.«

»Ausgezeichnet! Das kommt wie gerufen.«

Drummond hatte scharfe Ohren. Er hakte sofort nach. »Reden Sie von Cullen Seabourne? Diesen verdammten Berater, den Sie hinzuziehen wollten?«

»Richtig. Er ist letzte Nacht eingetroffen.«

»Und Sie dachten, es wäre in Ordnung, ihn mitzubringen, obwohl ich ausdrücklich «

»Fürs Erste arbeitet er ohne Honorar.«

Sherrys Augenbrauen schossen in die Höhe. »Cullen?«

Lily lächelte kurz. »Erstaunlich, nicht wahr?« Sie sah Drummond an. »Wir müssen so schnell wie möglich mehr über diesen Zauber auf dem Messer wissen. Wenn wir zum Beispiel wissen, aus welcher Tradition er kommt, würde das die Anzahl der Verdächtigen eingrenzen.«

»Erklären Sie uns das.«

Sherry übernahm. »Mit ein paar wenigen Ausnahmen können Praktizierende nur Zauber durchführen, die aus ihrer eigenen Tradition stammen oder danach erzeugt wurden. Ein Voodoo-Priester wäre nicht in der Lage, zum Beispiel einen nordischen Runenzauber zu wirken oder einen ägyptischen Zoan. Bei den sogenannten heidnischen Traditionen gibt es mehr Überschneidungen, aber selbst dort gibt es Unterschiede bei der Symbolik und Energiearbeit, die es einem Nordamerikaner schwer machen, einen Wicca-Zauber zu nutzen, ohne ihn zu verändern.«

Der Typ vom MCD Brassard meldete sich zu Wort. »Aber es gibt Ausnahmen.«

»Von Zauberern sagt man, sie könnten mit mehreren Traditionen arbeiten.«

Er schnaubte. »Und außerdem sagt man, dass sie selten sind. Oder besser gesagt: Es gibt sie nicht.«

»Sie verwechseln Zauberer mit Magiermeistern. Zaubern ist eine Gabe, keine erlernte Fähigkeit. In unserer Welt gibt es keine Meister mehr, aber von Zeit zu Zeit taucht immer mal wieder einer auf, der diese Gabe besitzt. Außerdem wissen wir sehr wenig über die Tradition von Nichtmenschen wie Gnomen oder Elfen, deshalb bilden sie möglicherweise eine Ausnahme.«

Sjorensen ergriff mit ernster Miene das Wort. »Sie sagten irgendetwas wie: Zauber müssten angepasst werden. Was bedeutet das?«

Sherry schenkte ihr ein Lächeln. »Fortgeschrittene Praktizierende können oftmals einen Zauber aus einer anderen Tradition ihren Bedürfnissen anpassen. Aber auch das wäre eine nützliche Information mehr, denn wenn wir feststellen, dass dieser Zauber sich offenbar mehrerer Traditionen bedient, wissen wir, dass wir nach einem fortgeschrittenen Praktizierenden suchen.«

Die Frau, die Lily direkt gegenüber saß, legte die Stirn in Falten. »Wissen wir das denn nicht jetzt schon? Sie haben Todesmagie gewonnen und damit Bixton getötet. Das hört sich für mich an, als wären sie ziemlich fortgeschritten.«

Sherry schüttelte den Kopf. »Leider kann auch jemand mit bescheidenen Kenntnissen über Magie Todesmagie gewinnen, wenn er das Ritual genau einhält. Unser Verdächtiger kann genauso gut ein intelligenter Achtklässler mit viel Engagement sein.«

»Deswegen«, ergänzte Lily, »fangen die meisten auch damit an, an Tieren zu üben. Das wäre ein möglicher Anhaltspunkt bei der Suche nach den Tätern oder nach erhärtenden Beweisen. Und es muss nur einer die entsprechenden Fähigkeiten haben. Die anderen, die an dem Ritual teilnehmen, haben möglicherweise von der Materie gar keine Ahnung. Bei der Frage«, fügte sie mit einem Blick auf Sherry hinzu, »ob sie überhaupt eine Gabe haben müssen, gehen die Meinungen auseinander.« Sie dachte dabei insbesondere an Sherry und Cullen.

Sherrys Augen funkelten. »Das stimmt. Ich persönlich bin der Überzeugung, dass alle Teilnehmenden wenigstens eine Spur von Magie besitzen müssen, doch das ist, was mich angeht, reine Theorie. Beweisen kann ich es natürlich nicht.«

Erin Hoffsteader sagte: »Was ist mit dem Zauber an dem Messer? Der muss doch ziemlich fortgeschritten sein.«

»Das wissen wir nicht«, sagte Sherry ruhig. »Noch nicht.«

»Eigentlich«, sagte Lily und bezog sich damit erneut auf Cullen, »müssen unsere Täter das Messer gar nicht selbst mit dem Zauber belegt haben. Sie können es gefunden oder gekauft haben. Es ist sogar möglich nicht wahrscheinlich, aber möglich , dass es ihnen irgendwie gelungen ist, ein Artefakt aus der Zeit vor der Säuberung mit einem intakten Zauber aufzutreiben.« Sie sah Sherry dabei an. »Falls das Messer alt genug ist, natürlich.«

»Das weiß ich nicht. Der Zauber, der am genauesten das Alter bestimmt, muss in zwei Teilen durchgeführt werden einmal bei Neumond und dann noch einmal bei Vollmond.«

»Vor der Säuberung?« Drummond war skeptisch. »Dann wäre es ja über dreihundert Jahre alt. Kann denn ein Zauber so lange überdauern?«

»Oh, ja«, sagte Sherry, »wenn er von einem Meister gewirkt wurde. Ich weiß von drei Artefakten mit intakten Zaubern. Zwei von ihnen befinden sich in einem Museum.«

Wie interessant. Aber Lily wollte nicht abschweifen. »Das alles erklärt, warum ich möchte, dass mein Fachmann einen Blick auf den Dolch wirft. Wir brauchen mehr Informationen, auch wenn die nicht verwertbar sind.«

Drummond sah aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen, aber er stimmte zu, unter der Voraussetzung, dass Sherry dabei war, wenn Cullen den Dolch untersuchte. Daraufhin dankte Drummond Sherry brüsk für ihr Kommen und entließ sie. Dann sagte er in herablassendem Ton: »Holen Sie sich Kaffee, wenn Sie wollen, aber beeilen Sie sich.«

Lily ließ sich nicht zweimal bitten. Sie hatte bereits ihren Becher in der Hand und nippte daran, als er sein Briefing begann. »Sie alle haben schon irgendwelche Gerüchte über diesen Fall gehört. Die meisten sind falsch. Jetzt sollen Sie erfahren, was wir tatsächlich mit Sicherheit wissen.« Er fuhr fort, kurz und bündig und ohne etwas auszulassen, über das Wann, Wo und den vermuteten Tathergang zu berichten. Anschließend forderte er Hannah auf, vorzutragen, was die Spurensicherung gefunden hatte.

Was, wie sich herausstellte, nicht viel war, abgesehen von einem seltsamen feuchten Fleck auf dem Teppich neben der Leiche. Die Teppichfasern von dieser Stelle wurden gerade untersucht. Resultate gab es noch nicht.

Drummond teilte Hannah mit, sie könne gehen, wenn sie wolle. Sie wollte. Dann ließ er den Blick über die verbliebene Runde schweifen. »Was als Nächstes kommt, darf diesen Raum nicht verlassen. Falls jemand plaudert, finde ich es heraus und knöpfe ihn mir persönlich vor. Wir haben eine Zeugin das Hausmädchen die jemanden zur Tatzeit am Tatort gesehen hat. Jemanden, der sich ihr als Ruben Brooks vorgestellt hat.«

Die darauf folgenden Ausrufe fasste Brassard vom MCD zusammen: »Was, zum Henker

Drummond übertönte sie. »Niemandem von uns gefällt es, wenn ein Kollege beschuldigt wird. Und warum sollte jemand, der sein ganzes Leben lang Cop gewesen ist, einen Mord begehen, nachdem er sich dem verdammten Hausmädchen vorgestellt hat? Das ergibt keinen Sinn. Aber glauben Sie mir wir nehmen die Sache sehr ernst. Das müssen wir. Er hatte ein ausreichendes Motiv, so kritisch, wie der Senator seiner Einheit gegenüberstand.« Er machte eine Pause. »Nur fürs Protokoll: Brooks streitet es ab. Sagt, er sei den ganzen Morgen zu Hause gewesen. Seine Frau bestätigt das. Special Agent Yu hat eine Theorie, die für Brooks Unschuld spricht.«

Fast zwei Dutzend Augenpaare richteten sich auf Lily. Der böseste Blick gehörte Mayhew, dem Drummond eben gesagt hatte, er solle den Mund halten. »Sie gehört zur Einheit. Brooks ist ihr Chef.«

»Das ist er«, sagte Lily ruhig. »Ich werde Ihnen nicht sagen, was ich von ihm persönlich halte, denn das würde Ihnen nichts sagen. Und diese Ermittlung nicht weiterbringen. Aber abgesehen von meiner Meinung gibt es Grund zu der Annahme, dass er nicht der Täter ist.« Sie fuhr fort, zu erklären, warum die Spur aus Todesmagie, der sie gefolgt war, darauf hindeutete, dass das Messer von jemandem benutzt worden war, der keine Magie hatte. »Aber Brooks hat bekanntermaßen eine Gabe. Es gibt keinen Grund, warum er eine Waffe mit Todesmagie brauchen sollte.«

Mayhew gab nicht auf. »Es sei denn, er wollte, dass wir glauben, dass er es nicht war.«

Lily zog die Augenbrauen hoch. »Und deshalb hat er seinen Namen dem Hausmädchen genannt? Was ist er denn dann ein genialer Verbrecher oder ein Vollidiot?«

»Genug«, sagte Drummond. »Sie kennen nun die wichtigsten Fakten. Kommen wir zur Aufgabenverteilung. Jeder von Ihnen wird mit mindestens einem Partner zusammenarbeiten. Ich will, dass jede Befragung, jedes kleinste Beweismittel von zwei Personen abgesichert wird.«

Drummond war gründlich. Die Teams checkten die öffentlichen Verkehrsmittel, prüften Rubens Aktivitäten im vergangenen Monat und holten Informationen über Bixtons Finanzen, die seiner Frau und seiner ganzen Familie ein. Ein Team reiste nach North Carolina, um nach Verbindungen in der Heimatstadt des Senators zu suchen. Ein anderes das, dem Sjorensen zugeteilt war sollte die Herkunft des Dolches ermitteln. Die Befragung von Bixtons Frau und den engsten Familienangehörigen wollte Drummond selbst übernehmen. Lily bekam den Auftrag, Bixtons politische Gegner unter die Lupe zu nehmen. Dazu sollte sie als Erstes seinen Stabschef befragen.

Ihr Partner war Doug Mullins.

Nachdem Drummond die Sitzung beendet hatte, musste Lily gegen den Strom der Leute ankämpfen, die den Raum verließen. Mullins stand wie üblich neben seinem Idol, das in eine Unterhaltung mit Nguyen vertieft war.

»Kommen Sie«, sagte Mullins zu ihr.

»In einer Minute.« Sie wartete, bis Nguyen fertig war und sich abwendete. »Zwei Punkte«, sagte sie zu Drummond. »Zuerst muss ich Ihnen sagen, dass ich heute einen Arzttermin habe. Dann «

»Wie bitte?« Er zog die Brauen zusammen. »Mir wurde gesagt, Sie seien einsatztauglich.«

»Das bin ich auch. Mein rechter Arm ist noch ein bisschen schwach, aber ansonsten bin ich fit. Aber ich wurde vom Innen- in den Außendienst versetzt, ohne dass ein Arzt seine Genehmigung dazu gegeben hätte.« Sollte er doch denken, dass sie lediglich der Bürokratie Genüge tun wollte.

Er winkte ab. »Das Zweite lassen Sie mal stecken. Ich hab’s schon von Doug gehört.« Sein Lächeln war säuerlich. »Sie beide werden einander erst einmal nicht los.«

Sie warf Mullins einen Blick zu. Der machte ein böses Gesicht. »Nein, der zweite Punkt war, dass ich gerne bei der Todesmagie nachbohren würde.«

»Wie das?«

»Obdachlosenheime. Vermisstenmeldungen. Um diesen Dolch aufzuladen, musste mindestens eine Person, wenn nicht mehr, sterben. Außerdem ist es sehr gut möglich, dass dies nicht das erste Mal war, dass unsere Täter getötet haben. Sie brauchten vermutlich Übung.«

Seine Augen wurden schmal. Er nickte knapp. »Gut. Aber Ihr Auftrag hat Priorität. Wenn Sie « Seine Brauen zogen sich zusammen. »Was haben Sie?«

Ihr Herz hämmerte, was er aber, anders als Rule, nicht hören konnte. Vielleicht hatten sich ihre Augen für den Bruchteil einer Sekunde geweitet, bevor es wieder verschwunden war. »Was meinen Sie?«

»Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen.«

Das hatte sie. Für einen kurzen Moment hatte er zwischen Drummond und Mullins geschwebt, ein blassblaues Flirren in der Luft eine Hand ausgestreckt, genau wie auf dem Schießstand. Ein Ehering am Finger.

Aber sie würde den Teufel tun und Drummond und Mullins davon erzählen. »Mir geht’s gut.« Sie wandte sich Mullins zu. »Gehen wir.«