15
Dennis Parrott machte seinem Namen alle Ehre – wie ein Papagei hatte er viele hübsche Federn und gab hin und wieder etwas von sich, das tatsächlich relevant war. Er war Anfang fünfzig, sah aber jünger aus – ein schlanker Mann mit schmalem Gesicht, akkuratem Haarschnitt, randloser Brille, freundlicher Stimme und freundlichem Lächeln. Ihn zu befragen, war, als würde man mit einer Reklametafel sprechen.
Gelackt hatte Rule ihn genannt. Bisher hatte Lily noch keinen Blick, und sei es noch so flüchtig, unter den Lack werfen können. »Und Sie wissen nichts über diese Hassbriefe, die der Senator erhalten hat?«
»Nein, tut mir leid. Über so etwas haben wir nie gesprochen. Aber Sie haben Kopien, sagten Sie?«
»Von denen, die dem Secret Service übergeben wurden, ja. Es könnte noch mehr geben.«
»Danach müssen Sie Nan fragen. Ich fürchte, mehr Zeit kann ich Ihnen heute nicht schenken, aber Nan hat sicher meine Bitte an die Mitarbeiter weitergeleitet, in vollem Umfang mit Ihnen zu kooperieren.«
Nan war Nanette Beresford, die Sekretärin des Senators, eine gut aussehende ältere Dame mit der gedehnten Sprechweise der Südstaaten und dem sprichwörtlichen rasiermesserscharfen Verstand. Sie hatte sich darum gekümmert, dass Lily und Mullins einen kleinen Konferenzraum für die Befragung der Mitarbeiter benutzen konnten.
»Nur noch eine Frage.« Mullins schenkte dem gelackten Parrott ein leeres Lächeln. »Geht auch ganz schnell. Ich weiß, Sie sind beschäftigt – sehr wichtiger Job, und jetzt nach dem Tod des Senators ertrinken Sie sicher nicht nur in Arbeit, sondern betrauern auch den Verlust eines Freundes. Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie unter diesen Umständen überhaupt Zeit für uns haben.«
»Das ist doch selbstverständlich.« Das freundliche Lächeln erschien kurz auf Parrotts schmalem Gesicht. »Mir liegt schließlich viel daran, dass Sie denjenigen fassen, der diese schreckliche Tat begangen hat. Aber wir müssen uns beeilen.«
Mullins hatte Lily ehrlich überrascht. Auf der Fahrt mit dem Aufzug zu ihrem Termin mit Parrott hatte er sich in einen knollennasigen Colombo mit einem Hauch Andy Griffith verwandelt. Das Komische war, dass er gut darin war. Die Rolle des schüchternen, linkischen Fernsehdetektivs lag ihm.
»Ich habe mich nur gefragt … das ist irgendwie ganz normal in diesem Job, jede kleine Ungereimtheit fällt einem auf, auch wenn sie vermutlich gar nichts zu bedeuten hat. Als wir über die Arbeit des Senators sprachen, seine Kampagne gegen den Missbrauch von Magie, sagten Sie, Sie haben keine Gabe. Ich frage mich, warum Sie das gesagt haben.«
»Weil es die Wahrheit ist.«
Mullins sah verwirrt aus. Er warf Lily einen Blick zu. »Aber Sie haben mir das Zeichen gegeben – als wir uns alle die Hände geschüttelt haben, haben Sie mir signalisiert, dass er … er sagt, es sei nicht so.«
»Die Gabe ist wohl nur schwach ausgeprägt, nehme ich an«, sagte sie. »Obwohl der Talisman, den er trägt, um sie zu verbergen, recht wirkungsvoll ist, deshalb könnte er mehr Energie haben, als ich glaube. Eine Wassergabe. Stimmt’s, Mr Parrott?«
Jetzt gab es kein Lächeln für sie, und endlich konnte Lily kurz unter die glatte Oberfläche sehen: Tief unten in diesen freundlichen braunen Augen lauerte ein Raubtier, das auf Lily nicht gut zu sprechen war. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
Traurig schüttelte sie den Kopf. »Damit kommen Sie nicht durch. Es gibt Menschen, die wissen nichts von ihrer Gabe. Wenn sie nicht stark ausgeprägt ist, lässt sie sich leicht unterdrücken, ohne dass man es selber merkt. Aber diese Menschen, die sich ihrer Gabe nicht bewusst sind, stellen keinen Talisman her oder erwerben einen, mit dem sie sie verbergen können.«
Mullins blinzelte, wobei er dümmer denn je aussah. »Ich wusste gar nicht, dass das möglich ist. Einen Talisman selbst herzustellen, meine ich.«
»Ich auch nicht. Das ist recht bemerkenswert für jemanden, der vorgibt, keine magischen Kräfte zu haben.«
Der freundliche Ausdruck blieb auf Parrotts Gesicht kleben wie Kaugummi an einer Schuhsohle, doch er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das perfekt gestylte Haar. An einem steckte ein schlichter goldener Ehering, genau wie der, den der Geist getragen hatte. Sahen denn alle Eheringe für Männer gleich aus? »Das könnte mich ruinieren. Ich bitte Sie, nichts davon, aber auch gar nichts nach außen dringen zu lassen.«
»Ich oute niemanden, wenn ich nicht muss. Wenn es nicht wesentlich für die Ermittlungen ist, ist es reine Privatsache, welche Gabe jemand hat oder ob er ein Andersblütiger –«
»Ich bin kein Andersblütiger!« Seine Oberlippe kräuselte sich voller Abscheu. »Und was meine Gabe angeht … ja, sie ist nur schwach ausgeprägt. Aber ich habe niemanden getäuscht, Special Agent. Magie ist falsch; sie schwächt die Verbindung zwischen den Menschen und unserem Schöpfer. Den Talisman habe ich vor einigen Jahren aus religiösen Gründen anfertigen lassen. Ich wollte meine Gabe unterdrücken, nicht verbergen, sondern unterdrücken.«
Das war … durchaus möglich. Vielleicht. Als sie Parrotts Hand geschüttelte hatte, hatte sie … seine Magie nicht richtig gespürt, aber ihren Druck, so als wenn unterdrückte Magie unter der Haut einer Null flösse. Dieses Gefühl, dass da etwas unter seiner sich künstlich anfühlenden Haut strömte, hatte sie eine Wassergabe vermuten lassen – eine verborgene. Aber es war möglich, eine Gabe zu unterdrücken. Lily kannte einen Empathen, der genau das mit einem Zauber getan hatte. Parrotts Magie hatte sich nicht wie die des Empathen angefühlt, aber vielleicht wirkte sein Talisman anders. »Dann müssen Sie sicher den Talisman von Zeit zu Zeit erneuern.«
Er zog ein Gesicht. »Leider ja. Was mir ganz und gar nicht behagt, aber ich … ich habe keine Wahl. Man hat mir gesagt, es gebe keinen Weg, meine Magie ganz loszuwerden, deshalb muss ich mich eben damit abfinden, den Talisman zu erneuern.«
Mullins schüttelte den Kopf. »Was für ein Pech aber auch. Und dann mit dem Senator zusammenzuarbeiten, der Magie genauso wenig mag wie Sie, vielleicht sogar noch weniger … Verflixt, ich wette, er hätte sie ohne zu zögern gefeuert, wenn er es herausgefunden hätte.«
»Er wusste es.«
Lilys Augenbrauen wanderten höher. »Sie behaupten, Senator Bixton habe von Ihrer Gabe gewusst und Sie als Stabschef behalten?«
»Ich bin seit fünfzehn Jahren bei ihm. Natürlich wusste er es. Ich habe es ihm schon vor langer Zeit gebeichtet. Und von dem Talisman wusste er auch. Bob ist – war – ein mitfühlender Mensch. Er respektierte meine Entscheidung, die Magie, mit der ich gestraft bin, zu unterdrücken.«
Natürlich versuchte Lily, ihn zu bewegen, ihnen den Talisman zu übergeben, damit sie ihn testen lassen konnten. Sie war nicht überrascht, als er sich weigerte. Entweder er log und hatte nicht das getan, was er behauptet hatte, oder er sagte die Wahrheit und hatte Angst um seine Seele, wenn er sich von seinem Talisman trennte.
Auch wollte er ihnen nicht sagen, wo er den Talisman hatte machen lassen – was noch ein bisschen verdächtiger war. Aber vielleicht wollte er ihnen einfach nicht noch mehr Beweise für seine Gabe in die Hand geben. Oder er wollte sogar den Praktizierenden schützen, an den er sich angeblich gewendet hatte. Viele Praktizierende misstrauten den Behörden.
Lily war mit dem Resultat der Befragung nicht zufrieden. Sie ließen Bixtons Sekretärin wissen, dass sie nun bereit wären, den Raum, den sie für sie frei gemacht hatte, in Beschlag zu nehmen, woraufhin sie sie in einen kleinen Konferenzraum führte. Ohne Fenster, dafür aber mit einer Kaffeekanne. Die Lily als Erstes ansteuerte. »Möchten Sie eine Tasse?«
»Ich rühre das Zeug nicht an. Was glauben Sie?« Mullins zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich. »Hat er Bixton wirklich von seinem schmutzigen, kleinen Geheimnis erzählt?«
»Vielleicht. Wenn nicht, und Bixton hat es herausgefunden, wäre es ein prima Motiv. Vor allem, wenn er die Gabe nicht so unterdrückt hat, wie er behauptet.«
»Woher wussten Sie von dem Talisman?«
»Ich habe es nur vermutet, aufgrund von Erfahrung. Es hätte auch ein Zauber sein können –«
»Ist denn ein Talisman nicht ein Zauber?«
»Für uns sehen sie gleich aus«, stimmte sie ihm zu, »aber für Praktizierende unterscheiden sie sich erheblich. Ein Talisman ist das Produkt eines Zaubers, und nicht alle Praktizierenden sind in der Lage, sie herzustellen. Ich habe gehört, dass der Hauptunterschied temporal ist, was immer das bedeutet. Für mich persönlich fühlen sich Talismane und Zauber nicht gleich an. Talismane sind gewöhnlich schwächer und ihre Textur ist, äh … sie wiederholt sich mehr, vielleicht kann man so sagen.« Sie zuckte die Achseln. »Auf jeden Fall ist sie anders. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass Sie jeden Moment ›ach, Quatsch‹ sagen.«
Er zog eine Packung Kaugummi aus seiner Jackentasche. »Ich bin gut.« Er nickte, als stimme er sich selbst zu. »Sie waren aber auch nicht schlecht. Haben meine Vorlage gerade rechtzeitig aufgenommen.«
»Vorsicht mit Komplimenten. Sonst steigen sie mir noch zu Kopf.«
Langsam wickelte er ein Kaugummi aus und sah so mürrisch und lustlos aus wie immer. »Wird es Ihnen schwerfallen, mit mir zusammenzuarbeiten, jetzt, da Sie meinen enormen Intellekt, Charme und Sexappeal kennen?«
»Mein Gott. Sie haben ja Sinn für Humor.«
»Das gehört zum Paket dazu.« Er steckte sich den Kaugummi in den Mund. »Manchmal muss ich mir die Frauen mit einem Stock gewaltsam vom Leibe halten.«
Senator Bixton hatte einen großen Mitarbeiterstab. Sie hatten gerade mal mit vier von ihnen gesprochen, dann musste Lily gehen, um sich von der Rhej der Leidolf untersuchen zu lassen.
Sie dachte gerade über die äußere Erscheinung und erste Eindrücke nach, als Cullen in die Garage hinter dem Reihenhaus fuhr. Doug Mullins war nicht der gedankenlose, selbstgefällige Mistkerl, für den sie ihn gehalten hatte. Oh, er war schon ein bisschen ein Mistkerl, aber er war nicht dumm, und er war selbstkritisch genug, um zu wissen, dass man ihn unterschätzte, und dies für sich zu nutzen. Er war verdammt gut bei Befragungen.
War sie Dennis Parrott gegenüber ähnlich voreingenommen, nur aufgrund einer spontanen Abneigung?
»Erzähl mir mehr über den Unterschied zwischen Talismanen und Zaubern«, sagte sie zu Cullen, als sie aus dem Auto stieg. »Es hat etwas mit Zeit zu tun, oder?«
Er schloss die Tür. »Ein Talisman ist ein Zauber im Stillstand.«
»So wie ein Schutzbann? Die tun auch nichts, bis sie aktiviert werden.«
»Nicht ganz. Ein Schutzbann wirkt erst, wenn er ausgelöst wird, aber dann sofort und vollständig. Bei einem Talisman ruht ein Teil des Zaubers auch dann, wenn der Talisman aktiviert ist. Sonst würde der Talisman nur eine Wirkung von ein paar Sekunden haben.« Als sie sich dem Haus näherten, warf er ihr einen Blick zu. »Zauber wirken im Hier und Jetzt. Im Moment. Talismane können über eine Periode von mehreren Stunden oder Wochen wirken, je nach Fähigkeit und Absicht ihres Erschaffers.«
»Wochen? Die Schlaftalismane, die du letzten Monat gemacht hast, haben ihre Kraft nur ein paar Stunden behalten.«
»Da war ich in Eile, und es mussten welche sein, die jemanden auf der Stelle ausknocken würden. Ich habe auch Schlaftalismane, die lassen einen eine Woche schlafen, aber dann döst man langsam ein, und das war ja nicht das, was wir damals wollten.«
Das stimmte. »Wie lange kann denn ein Talisman höchstens wirken?«
»Theoretisch gibt es da keine Grenze. Praktisch hängt es davon ab, um welche Art Talisman es sich handelt, wie er mit Energie versorgt wird und wie gut der Erschaffer ist. Aber aus Gründen, die wir nicht verstehen, überdauern Talismane keinen Mondzyklus. Um einen herzustellen, der länger hält, muss man schon ein Meister sein, und dann hat man das, was man ein Artefakt nennt.«
Überrascht blieb sie kurz vor der Sonnenterrasse stehen, die Rule schon an der Rückseite des Hauses angebaut hatte, bevor Lily und er sich kennengelernt hatten. »Dann ist ein Artefakt also so eine Art Turbotalisman?«
»Ja, so in etwa. Zumindest meiner Meinung nach. Beweisen kann ich es nicht, da ja niemand mehr weiß, wie man ein Artefakt herstellt.«
»Heute Nachmittag kannst du einen Blick auf den Dolch werfen, mit dem Bixton umgebracht wurde. Kannst du sofort sagen, ob es ein Artefakt ist oder ein … ich schätze mal, ein Talisman, obwohl sich das irgendwie komisch anhört, denn sein Zweck war ja, jemandem den Tod zu bringen?«
»Ein Talisman, der tötet oder verletzt, wird oft Fluch genannt, aber das hat mit der mangelhaften Nomenklatur zu tun. Flüche können auch gesprochene Zauber sein. Ich selbst nenne einen verfluchten Gegenstand lieber maluuni. Das kommt aus dem Suaheli, obwohl der Ursprung im Arabischen liegt, und es bedeutet –«
»Zurück zu meiner Frage«, sagte sie entschieden und betrat die Terrasse.
»Ja, ich kann es mit einem Blick erkennen. Wenn ich den Zauber nicht sehe und ihn mit meinem Blick nicht wahrnehmen kann, dann ist es ein Artefakt.«
»Moment mal. Was meinst du damit? Wenn du ihn nicht siehst –«
»Ich habe einen Zauber, der die Einzelheiten anderer Zauber erscheinen lässt, damit ich sie sehen kann.«
»Ja, deinen Vergrößerungszauber.«
»Der wirkt aber nicht bei Artefakten. Zumindest nicht bei denen, die ich kenne. Ich habe fünf Gegenstände gesehen, die wir magische Artefakte nennen würden. Bei vier von ihnen waren die Einzelheiten des Zaubers – ihr Aufbau, die Träger und Kabel und Leitungen – verborgen, wenn sie nicht benutzt wurden. Das Einzige, was zu sehen war, war der Auslöser, das Teil, das die Verbindung zum Nutzer darstellt. Meister geben nur sehr ungern ihre Tricks preis, und sie wissen, wie man etwas verbirgt. Leider weiß ich nicht, wie sie es gemacht haben.« Er dachte einen Moment angestrengt nach. »Wenn ich je herausfinden sollte, wie dieser verdammte Elfenstein funktioniert, kann ich dir mehr sagen.«
»Der Stein, den du Rethna weggenommen hast, meinst du? Das ist ein Artefakt?« Dieser Stein hatte dafür gesorgt, dass die Kugeln an Rethna abgeprallt waren. Oder einfach verpufft. Wie er genau wirkte, wusste sie nicht, aber er wirkte. Sie hatte mehrere Male aus kurzer Distanz auf Rethna geschossen und sie kein einziges Mal getroffen.
»Oh ja. Knifflige Sache. Bisher habe ich noch nicht herausgefunden, wie man ihn aktiviert oder wie man den Rest des Zaubers zum Vorschein bringt, aber man erkennt den Auslöser, und ich kann die Energien sehen, daher weiß ich, dass sich der Talisman nicht mit Rethnas Tod aufgelöst hat.«
»Was ihn zu einem Artefakt macht.« Sie öffnete die Hintertür. Die Küche war leer, aber Rule befand sich im Obergeschoss. Vielleicht war die Rhej der Leidolf bei ihm. »Und das fünfte magische Artefakt, das du kennst? Was ist damit?«
»Bei dem habe ich nur Energie gesehen, selbst wenn es benutzt wurde.« Er folgte ihr nach drinnen. »Was eigentlich unmöglich ist, weil der Auslöser immer sichtbar sein muss. Sonst gibt es keinerlei Verbindung zum Nutzer.«
»Aber du bist sicher, dass es ein Artefakt war?«
Er grinste grimmig. »Oh ja. Aber es war nicht das Werk eines Meisters. Das war der Stab, den sie gemacht hatte.«
Alle Rhejes hatten eine Gabe, aber nicht immer die gleiche. Zwei von ihnen waren Heilerinnen. Die Rhej der Leidolf war eine davon, eine stattliche Frau mit einer Haut wie heißer Kakao mit viel Milch. Ihr schwarz-graues Haar lag ihr wie eine enge Kappe am Kopf und ließ die hohe, runde Stirn und die riesigen goldenen Kreolen an den Ohren frei. Ihren Namen kannte Lily nicht. Eine Rhej sprach man nicht mit Namen an, es sei denn, sie gestattete es einem.
»Kein Grund, dein Mittagessen hinunterzuschlingen«, sagte sie zu Lily und lehnte sich bequem mit gekreuzten Unterarmen auf den runden Küchentisch. »Ich lauf dir nicht weg.«
»Ich dir aber.« Lily schluckte den letzten Bissen des Corned-Beef-Sandwiches, das sie sich zubereitet hatte, und griff nach einem Glas Milch. Normalerweise trank sie Diätcola, aber Corned Beef verlangte nach Milch. »Verrate mir eins: Wenn deine Gabe bei mir nicht wirkt, warum kannst du dann in meinen Körper sehen?«
»Aus demselben Grund, aus dem der Schönling hier deine Magie sehen kann«, sagte sie ohne zu zögern. »Aber ich benutze keinen Blick, es ist eine andere Art der Wahrnehmung.« Sie warf Cullen ein amüsiertes Lächeln zu. Er wirkte nervös, offenbar hätte er sie gern unterbrochen … aber sie war eine Rhej. Selbst Cullen brachte einen Funken von Respekt für eine Rhej auf. »Und jetzt würde er mir am liebsten widersprechen und es alles ganz hübsch erklären, aber mit dem Gerede kannst du nichts anfangen. Die Rhej der Nokolai spürt doch auch, wo du gerade bist, obwohl sie blind ist.«
»Nun … ja. Aber sie ist eine physische Empathin.«
»Aber sie nimmt dich trotz deiner Magie wahr. Aus meiner Sicht ist physische Empathie ganz ähnlich wie heilen. Ein Heiler erspürt dich auf dieselbe Weise, doch dafür muss er dich anfassen. Erst dann kann er auch unter deine Haut gucken, nicht nur darauf. Dieser Sinn unterscheidet sich gar nicht so sehr von dem, mit dem Cullen deine Magie sieht.« Sie lächelte. »Bist du bereit? Können wir anfangen?«
Lilys Magen flatterte unangenehm – was wohl nicht am Corned Beef lag. »Ich glaube ja. Muss ich irgendetwas tun?« Bisher hatte sich nur eine Heilerin mit Lily beschäftigt: Nettie. Diese Frau hatte vielleicht andere Methoden. Sehr wahrscheinlich sogar, denn sie war keine Schamanin wie Nettie. Dieselbe Gabe, verschiedene Praktiken.
»Zuerst möchte ich dir nur ein paar Fragen stellen. Erzähl mir von den Kopfschmerzattacken. Bisher hattest du drei?«
»Ja. Ziemlich stark, aber nie sehr lang. Die erste dauerte nur ein paar Sekunden. Die zweite eine Minute oder weniger. An die dritte erinnere ich mich nicht mehr genau.«
»Knapp über eine Minute«, sagte Rule. »Ich habe nicht auf die Uhr gesehen, aber es waren wahrscheinlich zwischen einer und zwei Minuten.«
»Okay«, sagte die Rhej. »Wo hat es denn wehgetan?«
»Hier.« Lily rieb sich den Hinterkopf. »Ähm … beim dritten Mal, war ich anschließend erschöpft. So sehr, dass ich nicht wach bleiben konnte.«
»Und Schwindel? Übelkeit? Schwäche, die irgendwo besonders stark ist? Irgendeine Veränderung des Sehvermögens?«
»Du meinst so etwas wie eine Migräne-Aura?«
»Jede Art von Veränderung.«
Lily schüttelte den Kopf. »Nach dem dritten Mal war mir schwindlig. Ich war erschöpft. Aber mir war nicht übel. Ich dachte, es könnte vielleicht irgendeine Art von Migräne sein. Meine Tante hat Migräne.«
»Finden wir’s heraus. Reich mir deine Hände.« Die Rhej streckte Lily über den Tisch hinweg die Hände entgegen.
Die Hände der Rhej waren warm. Sie hatte große Handteller und lange Finger. Und Lily spürte viel Magie. Heilmagie, die sie gerne anfasste. Könnte Luft Berührung erleben, so würde sie sich, sanft angerührt von der Sommersonne, fühlen, wie wenn junge Grashalme an ihr entlangstrichen wie eine zutrauliche Katze.
Aber da war noch mehr. Lily spürte es, ungenutzt, wartend, gewaltig – das Prickeln von Fell und Kiefernnadeln. Lupus-Magie.
Eine Rhej war in der Lage, wenn nötig die Magie des gesamten Clans zu nutzen. Wie, das wusste Lily nicht. Denn die Rhej war ein Mensch. Sie trug keine Clanmacht in sich, konnte sie nicht beeinflussen, war nicht Teil von ihr. Aber sie konnte sie nutzen, um das zu tun, was dem Rho verwehrt war.
Das Gesicht der Rhej wurde glatt, ihre Augen blickten ins Leere. Sie summte leise … »Amazing Grace«, begriff Lily. Vielleicht arbeitete sie mit spiritueller Energie, so wie Nettie. Lily merkte nichts. Keine suchende Magie berührte ihre Haut. Und sie wurde auch nicht müde, so wie sonst, wenn Nettie sie untersuchte, aber Nettie versetzte sie danach auch immer in Schlaf, also …
»Cullen«, sagte die Rhej mit leiser, sanfter Stimme. »Bitte sieh dir mal ihren Passagier an. Schau genau und aufmerksam hin.«
Rule runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?«
Doch die Rhej schüttelte nur den Kopf, ohne zu antworten. Cullen glitt von seinem Stuhl herunter und ließ sich auf einem Knie neben Lily nieder. »Rück ein Stück vom Tisch weg, damit ich richtig sehen kann.«
»Ich kann nicht …« Aber die Rhej ließ Lilys Hände los. Sie schob den Stuhl zurück und versuchte, möglichst ruhig zu sitzen, als Cullen vor sie rutschte und konzentriert ihren Bauch anstarrte. Nach einer Weile runzelte er die Stirn und begann leise vor sich hinzumurmeln – es klang wie ein Kauderwelsch aus Hawaiianisch und Norwegisch – und zeichnete dabei mit der Hand Symbole in die Luft. Anschließend legte er die Handflächen aufeinander, als würde er beten, zog sie dann langsam wieder auseinander und hielt inne, als noch ungefähr ein halber Meter Raum zwischen ihnen war.
Diesen Raum bewegte er langsam hoch zu Lilys Hals, musterte ihn einige Momente lang aufmerksam und verlagerte dann das Gewicht, um hinter Lily zu kommen, ohne dabei die Stellung der Hände zu ändern. Einen viel zu langen Moment konnte sie nicht sehen, was er tat. Ihr Herz hämmerte.
Endlich rutschte er wieder vor sie. Jetzt waren seine Hände nur noch fünfundzwanzig Zentimeter auseinander. Diese fünfundzwanzig Zentimeter leeren Raums zog er, ab und zu innehaltend, ihren Rumpf hinunter, über ihren Bauch, um dann ihr Becken zu beobachten. Dann schnippte er mit den Fingern und löste, wie Lily vermutete, den Vergrößerungszauber.
Langsam stand er auf. »Das … ergibt keinen Sinn.«
»Was hast du gesehen?«, fragte die Rhej.
»Wurzeln. So sah es zumindest aus. Zarte Ranken, feiner als Haar, zu klein, um sie ohne Vergrößerung zu sehen. Ich habe sieben davon gefunden. Sie reichen von der Clanmacht in ihr Rückenmark. Vier hören dort auf, drei allerdings …« Er verstummte, sah erst Lily, dann Rule an. »Drei wandern durch den Hirnstamm zum Kleinhirn und verwirren sich dort.«
»In meinem Gehirn?« Lilys Stimme klang zu hoch. »Die Clanmacht tut etwas mit mir? Das kann doch nicht sein. Meine Gabe schützt mich davor.«
Rule umklammerte fest ihre Hand. »Selbst wenn du nicht diese Gabe hättest, dürfte das gar nicht möglich sein. Clanmächte schlagen keine Wurzeln in ihren Trägern. Das ist absolut untypisch.« Er warf Cullen einen scharfen Blick über die Schulter hinweg zu. »Und das hast du bisher noch nie bei einer Clanmacht beobachtet?«
Cullen schüttelte den Kopf. Sein Blick wanderte von Lily zu Rule und wieder zurück. Er war auf ihre Bäuche gerichtet, nicht auf ihre Gesichter, so als würde er Rules Mächte mit der, die Lily in sich trug, vergleichen.
»Es tut mir leid«, sagte die Rhej. »Ich weiß nicht, warum, aber die Mächte scheinen … etwas in deinem Körper zu verändern. Auf eine Art, die keinen Sinn für mich ergibt. Auf eine Art, die nicht gut für dich ist.«
»Sie versucht, aus mir einen Lupus zu machen?« Obwohl Lily sich bemühte, normal zu sprechen, klang ihre Stimme immer noch schrill.
Die Rhej schüttelte langsam den Kopf, die Stirn angestrengt gerunzelt. »Ich weiß nicht, was sie tut. Oh, sie heilt deinen verletzten Arm – das ist ein Nebeneffekt –, aber alles andere … vielleicht versucht sie, dich in einen Lupus zu verwandeln, und schafft es nicht. Ich habe schon viele Jugendliche vor dem ersten Wandel erlebt. Dabei verändert sich neurologisch etwas. Aber deine Veränderungen sind nicht dieselben, die ich bei ihnen wahrgenommen habe. Vielleicht will sie dich auf eine Weise heilen, für die dein Körper nicht gemacht ist. Ich weiß es nicht.«
Sie sah Lily an. Ihr Blick war fest, aber Lily erkannte Sorge in ihren dunklen Augen. »Aber was immer die Macht da gerade wirkt, es tut dir nicht gut. In den letzten Tagen hattest du zwei Mini-Schlaganfälle. Die Macht heilt den Schaden, aber was sie darüber hinaus bewirkt … Mir fehlen die medizinischen Fachbegriffe, um es zu beschreiben, aber sie muss dich verlassen und dorthin gehen, wo sie hingehört. Und zwar bald.«
»Es ist nicht so, dass nur sie etwas mit dir macht«, sagte Cullen.
»Was?« Lily reckte den Hals, um zu ihm aufzusehen. »Was meinst du damit?«
Er zeigte auf ihren Bauch. »Die Wythe-Clanmacht ist immer noch violett, aber es ist der falsche Ton. Mag sein, dass sie dich verändert, aber du veränderst sie ebenfalls.«