27

Nach der Dusche legte Lily sich schlafen.

Eigentlich hatte sie es gar nicht vorgehabt, aber als sie aus dem Badezimmer getreten war und ihr Bett gesehen hatte, war es um sie geschehen. Sie sagte sich, dass ein kurzes Nickerchen erlaubt sei, wenn sie eigentlich noch keinen richtigen Plan hatte. Weder für den Rest des Tages, noch für die Woche, noch für ihr Leben.

Als sie aufwachte, hatte sie einen. Sozusagen.

Sie lag ruhig da, blinzelte hoch zu der von der Abenddämmerung in graues Licht getauchten Decke und lauschte auf den Regen auf dem Dach. Ein schwaches Gefühl, als würde sich etwas in ihr dehnen, sagte ihr, dass Rule weit weg und nördlich von ihr war. Dieselben Gedanken, die ihr in der Zelle immer wieder im Kopf herumgegangen waren, kamen wieder nur jetzt besser geordnet.

War sie hereingelegt worden? Ihr Bauchgefühl sagte Ja, und fürs Erste würde sie darauf hören. Doch das beantwortete nur die Frage nach dem Was, nicht die nach dem Wer oder dem Warum. »Wer« das könnte Sjorensen sein. Aber es wäre auch möglich, dass Sjorensen benutzt worden war. Und wer hätte das besser gekonnt als Special Agent Al Drummond?

Doch ließ sie sich tatsächlich von den Fakten leiten, wenn sie Drummond ganz oben auf die Liste ihrer Verdächtigen setzte, oder doch eher von ihren Gefühlen? Sie wusste es nicht. Denn sie wollte, dass er es war. Sie erinnerte sich an den Ausdruck von Genugtuung in seinen Augen, daran, wie er sich an ihrem Sturz geweidet hatte. Aber dass der Mann sie hasste, bedeutete nicht, dass er ihr etwas angehängt hatte. Jemand hätte seine Abneigung gegen sie ausnutzen können, um ihn zu manipulieren, genauso wie Sjorensen möglicherweise benutzt worden war, um Lily einen Tipp zu geben. Auch wenn Drummond nicht über eigene Magie verfügte und sie keine Todesmagie an ihm wahrgenommen hatte, konnte er immer noch einer von ihnen sein.

Oder auch nicht.

Die Frage nach dem Warum war schwieriger zu lösen. Das letzte Mal, als einer von Friars Anhängern es auf sie abgesehen hatte, hatte er es sich nicht unnötig schwer gemacht; Er hatte einfach aus einem fahrenden Auto auf sie geschossen. Wenn LeBron nicht sein Leben gegeben hätte, um ihres zu retten, hätte es auch geklappt.

Dieses Mal hatten sie sich für einen komplizierten Trick entschieden, um sie als Cop zu ruinieren. Es war, als steckten zwei verschiedene Köpfe dahinter einer raffiniert und um die Ecke denkend, der andere brutal und direkt.

Vielleicht war es gut, sich einmal genauer anzusehen, was Friar und Co. in letzter Zeit sonst noch so getan hatten. Zuerst einmal war da der verrückt-komplizierte Mord an Bixton, mutmaßlich, um ihn Ruben anzuhängen. Das musste der raffinierte Kopf gewesen sein. Dann die Brandbombe in Fagins Haus, die ihn beinahe getötet hatte. Das war eher direkt.

Zwei verschiedene Köpfe. Nun, Friar hatte zwei Lieutenants, nicht wahr? Wenn sie sich die Resultate anschaute, um daraus Schlüsse über die Ziele ihrer Gegner zur ziehen, wurde eine Sache schnell klar: Lily sollte aus der Einheit verschwinden, kein Cop mehr sein. Ob sie tot war oder suspendiert, das war egal.

Also musste sie ein Cop bleiben.

Ihr Magen knurrte. In der Arrestzelle hatte sie nur wenig gegessen, und geschlafen hatte sie, nun seit Du meine Güte. Es war halb fünf Uhr nachmittags. Sie sprang aus dem Bett, bürstete sich schnell das Haar und rannte die Treppe hinunter. Hier unten waren die Lampen angeschaltet und hielten die frühe Dämmerung zurück, die der Regen mit sich gebracht hatte. Angenehme Gerüche und Stimmen drangen aus der Küche, die, wie sich zeigte, voller Menschen war, die um den Tisch herum saßen Isen, Pete, die Rhej der Leidolf, José und Deborah Brooks.

»Ah«, sagte Lily verblüfft und blieb in der Tür stehen, als sich fünf Augenpaare auf sie richteten. »Deborah.«

Deborahs Grübchen blitzte auf. »Sie haben nicht mit mir gerechnet.«

»Nein.« Und aus irgendeinem Grund fühlte sie sich jetzt schuldig. »Ich nehme an, Sie wollen mehr darüber wissen, was mit Ruben passiert ist.«

Deborah nickte und wurde ernst. »Isen und die Serra haben mich aufgeklärt, was es heißt, ein Lupus und ein Rho zu sein. Was es heißen wird. Ich bin immer noch ziemlich überwältigt.« Sie zuckte die Achseln. »Und arbeitslos. Offiziell befinde ich mich ja in einem unbefristeten Urlaub, doch ich habe gehört, dass ich meine Arbeit als Lehrerin in Georgetown vermutlich nicht wieder aufnehmen kann, weil Ruben auf dem Clangut der Wythe sein muss.«

Lily ging zum Tisch und setzte sich neben sie. »Es tut mir so leid, denn Ihre Arbeit bedeutet Ihnen doch so viel.«

»Sie haben recht. Und ich werde auch wieder unterrichten. Aber nicht hier, vermute ich.« Sie klang standhaft, entschlossen. Ihre Augen waren traurig. »Und nicht so bald, auch wenn ich nicht mit Ruben zusammen sein kann. Ich wollte eigentlich zu ihm gehen. Ich kam hierher in der Hoffnung, dass mir jemand sagen könnte, wo ich ihn finde, doch weiter hatte ich nicht gedacht. Wenn ich zu ihm gehe, führe ich auch die die Polizei dorthin.«

Isen tätschelte Deborahs Hand. »Der Gedanke ist seltsam, dass Ruben nicht mehr zur Polizei gehört, nicht wahr? Das werden wir ändern. José«, sagte er und hob den Kopf, »fang doch schon mal mit deinem Maisbrot an.« Er nickte Lily zu. »Ich habe mein Spezial-Chili gemacht. Ich weiß, dass du das magst. Es ist fertig. Doch das Maisbrot nicht, weil wir nicht wussten, wann du aufwachen würdest. Wenn du dich noch ein bisschen gedulden kannst aber vielleicht möchtest du das gar nicht. Du hast schon nicht zu Mittag gegessen, und allein die Götter wissen, was man dir an diesem Ort zum Frühstück gegeben hat.«

Lily fand auch, dass Josés Jalapeño-Maisbrot es wert war, »noch ein bisschen« darauf zu warten. Die Rhej schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Darf ich?«, fragte sie.

»Darfst du was ? Oh, du willst mich untersuchen. Natürlich.«

José holte Milch aus dem Kühlschrank. Die Rhej trat hinter Lily und legte ihr, »Amazing Grace« summend, die Hände auf die Schultern.

Es dauerte eine Weile, und wie gewöhnlich spürte Lily nichts. José hatte genug Zeit, um die Maisbrote fertig zu machen und sie auf zwei großen Blechen in den Ofen zu schieben, bevor die Rhej das Wort ergriff. »Dein Arm ist, abgesehen von ein paar Narben, vollständig verheilt.«

Lily nickte. Das war nichts Neues für sie.

»Der winzige Schaden in deinem Gehirn ist auch verheilt. Und die Zirkulationsprobleme, die dazu geführt haben, sind verschwunden.«

Auf den Gesichtern am Tisch breitete sich ein erleichtertes Lächeln aus. Auch José nickte ihr vom Herd aus aufmunternd zu, und selbst Deborah sah erfreut aus. Vielleicht hatte man ihr erzählt, was die Clanmacht für Auswirkungen gehabt hatte, bevor die Dame sie dorthin hatte bringen können, wo sie sie haben wollte.

»Aber das ist ja wunderbar!«, rief Isen. »Lily, jetzt bist du nicht mehr böse auf unsere Dame. Und auch ganz und gar nicht mehr überrascht, glaube ich.«

Sie war alles Mögliche, und zwar so sehr, dass sie es nicht in Worte fassen konnte. Aber nicht überrascht. »Sagst du es Rule?«

»Selbstverständlich.«

Die Rhej drückte noch einmal ihre Schultern, bevor sie sie losließ. Sie setzte sich neben Lily. Ihr breites Gesicht hatte einen warmen, freundlichen braunen Ton, die Brauen über den dunklen Augen mit den dicken kurzen Wimpern waren schön gebogen, und ihr Lächeln verführte dazu, zurückzulächeln. »Willst du darüber sprechen, Liebes? Dann würde ich es gerne hören.«

»Über die Dame, meinst du?«

»Über sie und über alles, was du mir erzählen willst, doch am liebsten würde ich etwas über die Dame hören.«

»Dieses Mal hat sie zu mir gesprochen.« Lily hielt inne, selbst überrascht über das, was sie gesagt hatte. Dass sie darüber sprechen wollte. »Nicht mit Worten. Ich habe keine Worte verstanden wie ihr Rhejes. Vielleicht hat sie das andere Mal auch mit mir gesprochen, doch der Teil von mir, der der sie hören kann, kennt keine Worte, deswegen hat auch der Rest von mir sie nicht verstanden. Doch dieses Mal erinnere ich mich an ihre Stimme. Es war eine Stimme«, fügte sie hinzu, als hätte die Rhej widersprochen. »Nicht nur ein Gefühl oder ein Wissen.«

»Ihre Stimme ist wunderschön, nicht wahr? Wie ein schnurrendes Kätzchen und ein Gewitter in einem.«

Klein und gewaltig, zärtlich und erschreckend mächtig. Ja. Alles das auf einmal. Ein Stich durchfuhr sie, und sie blickte Deborah an. »Sie bat mich zuzulassen, dass sie die Clanmacht an Ruben weitergibt. Sie ließ mich wissen, was ich dazu tun müsste. Also wusste ich, wozu ich mein Einverständnis gab. Nicht in Worten, ich wusste es nicht in Worten, aber ich stimmte zu. Die Dame brauchte meine Erlaubnis, um mir die Clanmacht zu geben. Und nun brauchte sie sie wieder, um sie mir wegzunehmen. Also ist das, was ihm passiert ist, zum Teil mein Fehler.«

Deborah zog die Stirn kraus. Nach einer kleinen Weile sagte sie: »Vielleicht hat auch er sein Einverständnis gegeben. Wenn Sie es erlaubt haben, hat er es sicher auch getan.«

»Wenn es so ist, dann weiß er jetzt bestimmt nichts mehr davon.« Lily schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht mehr länger über die Dame sprechen, doch eine Frage konnte sie nicht zurückhalten. »Als ich sagte, sie kündigte mir an, was sie tun würde, meinte ich nicht damit, dass sie mir Einzelheiten verraten hat. Wie kommt es, dass sie Ruben in einen Lupus verwandeln konnte?«

»Ah. Darüber haben wir bereits ausführlich diskutiert«, sagte Isen. »Ich glaube, dass sie zuerst die Clanmacht selbst ändern musste. Cullen sagte, die Macht änderte sich, weil sie in dir war. Ich glaube, sie zeichnete vielleicht menschliche neurologische Verbindungen auf. Oder andere Körperfunktionen, die von den unseren verschieden sind. Zweitens aber diesen Teil der Geschichte sollten Sie erzählen.« Er nickte Deborah zu.

Deborah lehnte sich leicht vor. »Arjenie Fox ist auf etwas Interessantes gestoßen. Ich glaube, ich habe Ihnen erzählt, dass sie für mich Rubens Stammbaum durchleuchtet? Nun, nachdem Ruben seinen ersten Wandel hatte, hat wohl jeder auf dem Clangut der Nokolai darüber gesprochen. Zumindest Benedict und Arjenie, und dadurch kamen sie auf die Idee, unter Rubens Vorfahren nach Lupi zu suchen. Anscheinend führen Lupi nämlich darüber Buch. Und in diesen Aufzeichnungen fand sie dann dafür gibt es einen Begriff.« Sie sah Isen an, damit er die weitere Erläuterung übernahm.

»Sie fand einen pernato. Eine von Rubens Urgroßmüttern mütterlicherseits war die Urenkelin eines Wythe-Rho. Einer seiner Großväter väterlicherseits stammt von einem Wythe-Leidolf pernato ab, der seinerseits von einem anderen Rho der Wythe abstammt. Er ist blutsverwandt mit beiden Seiten, zwar nur sehr entfernt, aber trotzdem.«

Lily versuchte erst gar nicht, die komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse durchdringen zu wollen. »Pernato bedeutet das Resultat der rezessiven Gene auf beiden Seiten. Das verstehe ich. Aber warum habt ihr das nicht gewusst?«

»Wir wussten etwas über seinen Großvater auf der einen und seine Großmutter auf der anderen Seite. Aber nach der vierten Generation wurde kein pernato geboren, und darüber hinaus führen wir nicht mehr Buch über unsere Nachkommen. Das ist nicht nur eine Frage der Genealogie, sondern auch der Magie, verstehst du? Die rezessiven Gene werden vielleicht weiter vererbt, doch die Kräfte sind zu schwach, um ein Lupus-Baby hervorzubringen. Und in der Tat wurde Ruben Brooks nicht als Lupus geboren. Er ist nur blutsverwandt.«

Und die Dame hatte vermutlich die nötigen Kräfte.

Plötzlich lachte Deborah leise. »Diese ganze Fremdgeherei! Außerdem gibt es irgendwo im Familienstammbaum auch einen Elfen. Rubens Vorfahren waren offenbar echte Schwerenöter. Ich freue mich schon darauf, ihn damit aufzuziehen.«

Die Herduhr klingelte. Isen schob seinen Stuhl zurück. »Nein, nein, setz dich«, befahl er José, der sich ebenfalls erheben wollte. »Ich werde meiner zukünftigen Tochter zu essen bringen.« Lily sah Deborah an, gespannt und aufmerksam. »Es scheint, als würde es Ihnen nicht allzu viel ausmachen, dass Ruben sich in einen Lupus verwandelt hat.«

Deborah sah ihr in die Augen. »Er war sterbenskrank. Jetzt ist er es nicht mehr.«

»Er sterbenskrank?« Ruben hatte gesagt, er habe einen Herzschaden. Das sei der Grund, warum er nicht mehr die Einheit die reguläre Einheit leiten könne. Dass er todkrank war, hatte er nicht gesagt.

Deborah lächelte leicht. »Er glaubt, dass ich es nicht weiß. Als ob er so etwas vor mir verheimlichen könnte, nur weil er es nicht ausspricht! Aber ja, er rechnete damit zu sterben, sogar schon recht bald, glaube ich. Nun ist er aber ein Lupus. Und Lupi werden nicht krank, haben keine Herzprobleme. Das ist der andere Grund, warum ich gekommen bin.« Sie legte die gefalteten Hände auf den Tisch. »Macht es mir etwas aus, dass Ruben ein Lupus geworden ist? Es gibt vieles daran, das mir Angst einflößt, und vieles, das mir nicht gefällt oder das ich nicht verstehe oder beides. Aber das Einzige, das zählt, ist: Ruben war sterbenskrank. Jetzt ist er es nicht mehr.«

Lily bekam hausgemachtes Chili und Maisbrot von einem barfüßigen Multimillionär mit einem Küchenhandtuch im Bund seiner Jeans serviert. Dann bat Isen die Wachen, die sich zwar im Haus aufhielten, aber keinen Dienst hatten, zu ihnen, und in der Küche wurde es so eng, dass einige im Stehen essen mussten, doch das schien sie nicht zu stören.

Eigentlich war es ein wenig früh zum Abendessen, aber das Essen war fertig, und Lupi waren fast immer hungrig. Vor allem wenn es ofenwarmes Maisbrot und köstliches Chili mit echten Fleischstücken statt Hackfleisch gab.

Deborah schien vergessen zu haben, dass sie schüchtern war. Vielleicht war das einer der Gründe, dass sie nun schon so lange unter Daueranspannung stand, aber vor allem lag es an Isens Anwesenheit. Lily hätte gewettet, dass sein freundlicher, unerbittlicher Charme Deborah in den ersten fünf Minuten dazu gebracht hatte, sich zu beruhigen. Er schaffte es, dass sie während des gesamten Abendessens mit ihm plauderte.

Der gestrige Tag war hart für Deborah gewesen. Nachdem sie zugesehen hatte, wie ihr Ehemann sich in einen Wolf verwandelt und versucht hatte, sie zu fressen, hatte Drummond sie mit ins Hauptquartier zur Befragung genommen. Als Deborah endlich wieder nach Hause gehen durfte, hatten dort bereits ihre Eltern auf sie gewartet, die fanden, sie sollte bei ihnen einziehen, und anboten, ihr bei der Suche nach einem guten Scheidungsanwalt zu helfen. Es war zu einem Streit gekommen, und nun redeten sie nicht mehr miteinander.

Lily machte sich eine weitere Notiz im Geist: Nach dem Abendessen Eltern anrufen. »Ich hoffe, Sie versöhnen sich wieder.«

»In meiner Familie streitet man sich sehr höflich«, sagte Deborah. »Sie haben eigentlich nichts Böses über Ruben gesagt, aber das, was sie nicht gesagt haben, klang in dem, was sie gesagt haben, ziemlich deutlich durch. Ich dagegen hatte keine Lust, höflich zu sein. Nun erwarten sie sicher von mir, dass ich mich entschuldige. Doch ich bezweifle, dass ich das tun werde.«

Lily glaubte ihr. Konnte es sein, dass Deborahs Eltern nie bemerkt hatten, dass sich unter dem sanften Äußeren ihrer Tochter solider, unnachgiebiger Granit befand? Wenn es so war, dann würden sie nun ein unsanftes Erwachen erleben. »Wo werden Sie denn jetzt wohnen?«, fragte sie plötzlich. »Ist es im Moment tröstlich für Sie zu Hause zu sein, oder ist es dort zu leer, oder dort ist es möglicherweise nicht sicher.«

»Ich habe diese Möglichkeit bereits erwähnt«, sagte Isen sanft, »doch meine Vorschläge sagten ihr nicht zu.«

»Es ist mein Zuhause«, sagte Deborah. »Und ohne Ruben ist es leer dort, aber ich werde nicht zu meinen Eltern ziehen.«

»Das ist verständlich«, sagte Lily, »und das hatte ich auch nicht im Sinn. Sie dürfen nicht vergessen, dass Ihre Entscheidung Auswirkungen auf die Lupi hat, die sie schützen.«

»Aber die waren doch wegen Ruben da, nicht oh.« Deborah war stur, nicht dumm. Lily sah zu, wie sie darüber nachdachte und begriff, dass Rubens Abwesenheit nicht bedeutete, dass ihre Feinde sie in Ruhe lassen würden. Sie war immer noch ein Werkzeug, das sie gegen ihn benutzen konnten. »Ich weiß nicht, wo ich hingehen könnte.«

»Ich dachte da an Fagins Haus.«

»Ich das « Deborah schloss den Mund und dachte nach. »Sie meinen, wenn der Elementargeist mich hineinlässt?«

»Es ist nur eine Vermutung, aber offenbar kommen Sie ziemlich gut mit Elementargeistern zurecht.«

»Oh ja, das ist kein Problem für mich. Einen Versuch ist es immerhin wert. Dort würde ich auch keine Leibwächter brauchen, oder? Ich muss natürlich zuerst Fagin fragen.«

Auch Lily hatte ein paar Fragen an ihn. »Ich komme mit, wenn das in Ordnung ist.«

»Morgen«, sagte die Rhej ruhig und schob ihren Teller von sich. »Du brauchst noch einmal acht, zehn Stunden Schlaf. Meine Güte, das war wirklich gut, Isen, José. Danke.«

Überrascht sah Lily sie an. »Aber ich bin doch jetzt gesund, schon vergessen? Ich habe gerade erst vier Stunden geschlafen.«

»Ich vermute mal, dass du gestern Nacht nicht viel Schlaf abbekommen hast.«

»Nein, aber «

»Du wirst schon sehen.« Die Rhej lächelte auf eine ärgerlich wissende Art. »Der Heilungsprozess war anstrengend. Der Stress im Gefängnis hat dich wach gehalten, vermute ich, aber dein Körper will mehr Schlaf, als das bisschen, das du ihm gegönnt hast. Sonst wirst du bald wieder zusammenklappen.«

Auf keinen Fall. Dazu gab es viel zu viel zu tun.

»Eines frage ich mich«, sagte Deborah mit ihrer leisen Stimme. »Isen sagt, Ruben werde die Wölfe der Wythe nicht angreifen so wie Scott. Sie riechen richtig für ihn, wie Freunde.«

»Sie riechen, als gehörten sie zu ihm«, korrigierte Isen sie freundlich. »Ein Wolf riecht keine Clanmitglieder, und er denkt auch nicht den Begriff Freund. Er spürt ein tiefes Gefühl der Zugehörigkeit. Der neue Wolf wird diese Zugehörigkeit spüren, aber da er ein Rho ist, wird er nicht ›wir‹ denken, sondern ›meine‹.«

Deborah nickte ernst. »Und Sie sagten, Ruben sei jetzt gerade ganz Wolf, deswegen würde er so denken. Wie ein Wolf, der ein Rho ist. Deswegen habe er das Sagen.« Ein zaghaftes Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. »Das ist keine große Veränderung. Ruben hat immer das Gefühl, das Sagen zu haben. Nicht weil er andere unterdrücken will, sondern weil er sich wie der Schäfer einer sehr großen Herde fühlt, der dazu noch verantwortlich für die ganze Umgebung ist. Und jetzt, als Rho, ist das Gefühl in ihm vermutlich noch stärker.«

Isen nickte. »Nicht weil er andere unterdrücken will, wie Sie gesagt haben. Er fühlt sich verantwortlich für die, die zu seinem Clan gehören.«

»Warum hat er sich dann Rule unterworfen? Sie sagten vorhin, dass Rule seine Clanmacht nicht einsetzen konnte, um Ruben zu unterwerfen, so wie umgekehrt Ruben Rule nicht mit seiner. Dann lag es also nicht an der Clanmacht. Ruben hat es aus eigenem Antrieb getan. Das verstehe ich nicht. Er ist nicht gerade unterwürfig.«

Isen nickte. »Ich verstehe, warum Sie das verwirrt. Menschen verstehen unter Unterwerfung und Dominanz etwas anderes als wir. Fürs Erste können Sie vielleicht akzeptieren, dass wir nicht unterwürfig sind, wenn wir uns unterwerfen.«

»So ist es«, sagte Lily. »Ich habe gesehen, wie Rule sich unterworfen hat, und er wurde dadurch nicht unterwürfig.« Isen hatte ihr genug Essen für zwei serviert oder für einen Lupus. Aufessen konnte sie es sicher nicht, aber vielleicht noch einen Bissen Maisbrot Sie strich ein bisschen Butter auf ein kleines Stück. »Aber die Unterwerfung hat eine ganz eigene Sprache. Sie tun es aus vielerlei Gründen, nicht nur um festzulegen, wer das Sagen hat. Auf diese Weise erkennen Sie einen Fehler an, regeln Streitigkeiten, bekräftigen einen Handel zwischen Clans es gibt viele verschiedene Gründe.«

Zwischen Deborahs Augenbrauen stand immer noch eine kleine Falte. »Aber Ruben wusste nichts von diesem diesem kulturellen Kontext, den die Unterwerfung hat, und er hat es trotzdem getan. Er überließ Rule die Kontrolle.«

»Zu diesem Zeitpunkt wusste er so gut wie nichts. Das war das Problem. Aber er wusste, dass Rule ihm überlegen war, und er wusste, dass Rule sich um ihn kümmern würde. Das reichte.« Sie steckte sich das Stückchen Brot in den Mund. Besser, sie hörte jetzt auf zu essen, sonst Warum strahlten alle Männer im Raum sie so an? »Was ist denn?«

Isen tätschelte ihre Hand. »Du hast viel gelernt, seitdem du zu uns gekommen bist. Das freut uns. Und jetzt, fürchte ich, ist es Zeit für mich zu gehen. Pete, würdest du bitte den Wagen vorfahren?«

Als Pete ging, gab es ein bisschen Unruhe, als auch die anderen Lupi aufsprangen, um das Geschirr zusammenzustellen und Deborah ihnen helfen wollte. Lily nutzte den Lärm, um zu Isen zu sagen: »Ich bringe dich zur Tür.«

Isen bedachte sie mit einem undurchdringlichen Lächeln und bat José, zum Abwasch ein wenig Musik aufzulegen, damit er ungestört mit Lily sprechen konnte. José steckte sein Handy in die Dockingstation auf dem Küchentresen, woraufhin sie alle in den Genuss von Led Zeppelin kamen.

Kopfschüttelnd sah Lily Isen an. »Das war sehr viel weniger raffiniert und diskret, als ich es von dir gewohnt bin.«

»Ich bin flexibel. Manchmal funktioniert die direkte Art am besten. Du wolltest mich zur Tür bringen?«

Zusammen gingen sie zur Haustür. »Fährst du mit dem Wagen nach New York zurück?«

»Meine Reiseroute und meine Beförderungsmittel sind kompliziert. Der Mercedes hat ein Navigationssystem, das vermutlich nachzuverfolgen ist. Dabei fällt mir ein: Benedict hat mir gesagt, es sei möglich, meinen Standort per GPS zu ermitteln, deswegen lasse ich mein Handy am besten ausgeschaltet. Cullen hat dafür gesorgt, dass auch Rules Handy aus ist.«

Daran hätte sie selbst denken sollen. Warum war ihr das nicht eingefallen?

Weil sie sonst diejenige war, die diese polizeilichen Überwachungstechniken nutzte, und nicht diejenige, die versuchte, sie zu umgehen. »Wie kann ich dich erreichen?«

»Benedict hält immer ein paar nicht zu ortende Prepaidhandys bereit. Ich habe zwei bei mir. Man sagte mir, dass diese Geräte außerhalb von großen Städten Mühe haben, ein Netz zu finden, aber zwei Netze zur Auswahl zu haben, hilft vielleicht. Hier sind die Nummern.« Er blieb stehen, als sie das Wohnzimmer erreicht hatten, und gab Lily einen Zettel. »Ich bin froh, dass du um ein Gespräch gebeten hast. Ich wollte dich auch unter vier Augen sprechen.«

»Ach ja?«

Er lächelte. »So argwöhnisch und zu Recht. Ich biete dir meinen Rat an, was mir lästig ist, aber ich hoffe, dass du ihn dir trotzdem anhörst. War Rule in letzter Zeit gereizt? Ungewöhnlich gereizt?«

»Das ist eine Frage, kein Rat.«

»Und eine, die du nicht beantwortest, was auch eine Antwort ist. Lily, du weißt, wie groß unser Drang ist, Frauen zu schützen. Seitdem du und Rule Gefährten seid, warst du oft in Gefahr. Er ist so gut damit klargekommen, dass dir vielleicht gar nicht bewusst ist, wie stark dieser Trieb bei einem Lupus ist, wenn es um seine Auserwählte geht. Ich glaube, es gibt zwei Gründe, warum er überhaupt in der Lage ist, damit fertigzuwerden. Erstens, er weiß und akzeptiert, dass du dich in Gefahr begeben wirst, wenn es nötig ist. Denn so bist du, und das macht dich aus. Sein Wolf hilft ihm dabei«, fügte er hinzu. »Wölfe sehen ihre Gefährtinnen nicht als Welpen, die man umsorgen und schützen muss, sondern als Partnerinnen auf der Jagd, im Kampf handeln sie gemeinsam.«

Sie musste lächeln. »Dann habe ich das also seiner Wolfseite, nicht seiner menschlichen zu verdanken?«

»Vielleicht.« Er lächelte kurz. »Aber es gibt noch einen Grund. Ich habe den Verdacht, dass auf irgendeiner Ebene, ob er sich nun dessen bewusst ist oder nicht, Rule immer geglaubt hat, dass die Dame dich beschützt.«

»Das ist nicht sehr vernünftig.«

Er seufzte. »Als Junge hat Rule die Dame idealisiert. Das kommt davon, weil er von vielen bemuttert, aber von der Frau, die ihn geboren hat, verlassen wurde. Kleine Jungs fühlen oft eine innige Liebe zu ihren Müttern. Rule liebte viele Frauen auf dem Clangut, die halfen, in aufzuziehen, aber nicht auf diese Art. Seine Mutterbindung hatte er zu der Dame oder seinem jugendlichen Verständnis von ihr.«

»Du meinst, er hat einen Mutterkomplex.«

»So kann man es auch ausdrücken, ja.«

Doch jetzt drohte Lily Gefahr wegen der Dame. Dessentwegen, was Rules Mutterfigur mit der Clanmacht tat. »Jetzt kommen wir wohl zu dem Teil, in dem du mir den Rat gibst.«

»Rules Wolf akzeptiert immer noch dein Bedürfnis, notwendige Risiken einzugehen. Aber Rule, der Mann, ist nicht mehr der kleine Junge, der die Dame idealisiert. Möglicherweise denkt er nicht vernünftig, wenn es um deine Sicherheit geht. Hab Geduld mit ihm. Du kannst dieses Problem nicht für ihn lösen. Du kannst ihm eine gleichwertige Partnerin sein. Und du kannst Geduld mit ihm haben.«

Das hörte sich an wie der Rat aus einem chinesischen Glückskeks. Was ihn nicht zu einem schlechten Rat machte nur war er fürchterlich allgemein. Das, was er sonst noch gesagt hatte, allerdings Isen hatte Menschenkenntnis. Er kannte seinen Sohn. Sie nickte langsam. »Ich werde daran denken.«

»Gut.« Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Möchtest du mir jetzt sagen, was dich bedrückt?«

»Ich habe keine geheimen Sorgen. Nur die offensichtlichen.«

»Nun?«

»Ich würde gerne etwas wissen.« Als sie ihm diesen halb privaten Moment abgeluchst hatte, hatte sie gar nicht vorgehabt, ihn danach zu fragen, aber »Wenn ein Lupus das Lied des Mondes hört, hört er dann die Dame? Ihre Stimme?«

Er antwortete nicht sofort. Endlich sagte er: »Es fällt mir schwer, diese Frage zu beantworten. Normalerweise sprechen wir nicht darüber, wie wir das Lied des Mondes erleben.«

»Das ist zu intim.«

»Nein.« Er lächelte beruhigend und gab ihr einen leichten Klaps. »Wir reden nicht darüber, weil diese Erfahrung außerordentlich persönlich ist, deshalb weiß ich nicht, ob andere genauso wie ich antworten würden. Für mich ist es keine Stimme, und doch ist es das Lied der Dame. Der Mond ist ihr Instrument, oder vielleicht ist sie das Instrument des Mondes.«

»Du hörst sie nicht in Worten.«

»Nein. Wenn Licht Musik wäre, würde es sich anhören wie das Lied des Mondes. Eines aber haben alle Lupi gemeinsam. Wir hören das Lied des Mondes nicht mit den Ohren, obwohl wir es hören und nicht auf eine andere Art wahrnehmen.«

Ja. Ja, so war es. Etwas riss auf, und Worte kamen herausgeströmt. »Ich wollte nie ein Rho sein. Das hätte mein Leben so durcheinandergebracht, dass ich es mir überhaupt nicht vorstellen möchte. Deshalb wollte ich die Clanmacht nicht behalten. Ich muss mich nicht in einen Wolf verwandeln können. Ich bin glücklich, so wie ich bin. Nur werde ich nun wohl nie wieder ihre Stimme hören und das « Sie blinzelte schnell. Verdammt. Sie wollte nicht weinen. »Es muss wundervoll sein, das Lied des Mondes immer hören zu können.«

Da Isen Isen war, antwortete er ihr nicht mit Worten. Er zog sie in seine Arme, sodass es ihr noch schwerer fiel, nicht in Tränen auszubrechen, was dumm war. Weinen war einfach dumm. »Es ist ja nicht so, als hätte ich unbedingt ein Lupus sein wollen.«

»Hmm«, machte er und strich ihr sanft übers Haar.

»Wirklich nicht«, bekräftigte sie. Ihr Kopf lag an seiner breiten, kräftigen Schulter. Er roch nach Waschmittel und Wärme. Ja, tatsächlich, er roch warm. »Aber ich habe mich gefragt ich dachte, vielleicht war es das, was die Clanmacht versucht hat. Mich in einen Lupus zu verwandeln. Ohne Erfolg und zu meinem Schaden, aber trotzdem hat sie es versucht. Und ein Teil von mir ein Teil von mir hat gedacht « Ein tiefer Seufzer schickte einen Schauer durch ihren Körper. »Aber es ist nicht passiert. Ich habe kein Lupus-Blut in mir, nicht wahr?« Sie richtete sich auf und rückte von ihm ab. »Sag Rule nicht, dass ich deswegen geweint habe.«

»Nicht, wenn du es nicht wünscht.«

»Das will ich nicht. Und das war es auch nicht, was ich dir sagen wollte.«

»Nicht?« Er wartete, gütig und geduldig. Ein Buddha-Wolf.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass du von der anderen Einheit weißt. Der Schatteneinheit.«

Er nickte.

»Letzte Woche hat Ruben mich gebeten, dazuzukommen. Ich habe abgelehnt. Ich weiß nicht, wem ich sagen soll, dass ich meine Meinung geändert habe. Denn das habe ich. Ich will dabei sein.«

Langsam verzog sich Isens Mund zu einem Lächeln. »Im Moment ist Ruben natürlich vom Verkehr mit der Außenwelt abgeschnitten. Aber er hat einen Stellvertreter. Ich sorge dafür, dass Rubens zweiter Mann von deinem Angebot erfährt.«