10

Lily parkte drei Häuserblocks vor der Nummer 14321 in der Camber Lane. Schon einen Block vorher hatte das Gedränge zugenommen, und je mehr sie sich ihrem Ziel näherte, desto erbitterter wurden die Ellbogenduelle. Die Presse hatte Blut geleckt.

Doch den Fragen nach zu schließen, die man ihr zubrüllte, schienen die Journalisten bisher nur wenig zu wissen. So wie sie ja auch. Croft hatte ihr nicht viel gesagt. Er wollte, dass Drummond sie briefte.

Bixtons Leiche war im Wohnzimmer seines Hauses gefunden worden, von der einzigen Person, die sich zu diesem Zeitpunkt dort aufgehalten hatte dem Hausmädchen. Seine Frau war zu Besuch bei ihrer Familie in North Carolina. Der Notruf des Hausmädchens war um zwölf Uhr eins eingegangen. Der Todeszeitpunkt war noch nicht offiziell festgestellt worden, aber Lily hatte Grund zu der Annahme, dass er wohl irgendwann zwischen acht Uhr dreißig und zwölf Uhr dreißig liegen musste. Die mutmaßliche Tatwaffe allerdings war bekannt: Der Täter hatte den Dolch freundlicherweise in Bixtons Leiche stecken lassen. Sonst gab es keine weiteren sichtbaren Wunden oder Gewalteinwirkungen.

Genauer gesagt, er hatte ihn in der Schulter stecken lassen. Nicht in der Brust, in der Nähe irgendeines lebenswichtigen Organs. Deswegen war Lily hier.

Aus ihrer Sicht gab es drei Möglichkeiten. Nummer eins: Der Dolch war nicht verantwortlich für Bixtons Tod, weder direkt noch indirekt, indem er einen Herzanfall oder sonst irgendwelche Reaktionen ausgelöst hatte. Nummer zwei: Der Dolch war in ein Kontaktgift getaucht worden. Nummer drei: Es war Magie im Spiel.

Croft setzte auf Möglichkeit Nummer drei. Und Lily auch.

Dass sie dieses Mal nicht die Ermittlungen leiten konnte, hatte sie akzeptiert. An dem Grund dafür hatte sie schwer zu schlucken, aber sie verstand ihn und wusste, warum Croft gezwungen war, sie zu fragen, wo sie gewesen war, als jemand dieses Messer in Bixton gestoßen hatte. Rule war nicht der Einzige, den Bixton sich in seiner politischen Karriere zum Feind gemacht hatte. Und er war auch nicht der einzige Lupus in der Stadt. Aber die Presse würde ihr Augenmerk mit Sicherheit auf ihn richten und wer immer den Fall übernahm, musste das ebenfalls tun.

Sie hatte Rule nicht angerufen. Croft hatte gesagt, der Fall würde im Moment nach dem Grundsatz »Kenntnis nur, wenn nötig« behandelt. Das bedeutete, sie durfte mit niemandem außerhalb des von Drummond geleiteten Teams darüber sprechen. Also hatte sie ihn angerufen. Aber sie war in der Einhaltung der Befehle ausgesprochen kreativ gewesen.

Schließlich war Mikas Höhle ganz in der Nähe gewesen. Wenn sie ihm »zurief«, sie dürfe ihm nichts sagen, nun, dann kam er vielleicht auf die Idee, mal einen Blick in ihren Kopf zu werfen, um herauszufinden, was es war. Und entschied sich dann sogar dafür, es weiterzusagen.

Oder auch nicht. Bisher hatte sie nichts von ihm gehört.

Mit ein bisschen Glück würde der Oberlakai des Opfers selbst Rule ein Alibi geben. Doch wenn sie Pech hatten so weit ist es noch nicht, sagte sie sich. Und geh nicht davon aus, dass die Erzfeindin der Lupi dahintersteckt, nur weil es genauso aussieht wie damals vor elf Monaten, als sie versucht hatte, Rule einen Mord in die Schuhe zu schieben. Was Lily vereitelt hatte.

Warum der Chefermittler aus den Reihen des FBI kam, gab ihr mehr Rätsel auf. Eigentlich war ein Mord mit magischen Mitteln ein Fall für die Einheit.

Aber es hatte sich noch nicht bestätigt, dass magische Mittel angewendet worden waren, rief sie sich in Erinnerung, als sie endlich die Absperrung erreichte, und schob ein Mikro aus ihrem Gesicht. Die Straßen im Umkreis von einem Block um das Haus des Senators waren abgeriegelt. Auf der anderen Seite ging es nicht ganz so chaotisch zu. Aber auch nicht viel weniger.

»Special Agent Yu«, sagte sie zu dem Uniformierten an der Absperrung und hielt ihm ihre Marke hin.

Er musterte sie, sah in seinem BlackBerry nach und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Ma’am. Sie sind nicht auf meiner Liste.«

»Dann stimmt ihre Liste nicht. Holen Sie jemanden her, der Crawford, hallo!«

Ein blasser Mann mit geschäftigem Blick und Glatze drehte sich um und runzelte die Stirn. Terry Crawford war seit dreißig Jahren beim Secret Service und sein Gesichtsgedächtnis besser als jede Software. Letzten Winter, als sie für kurze Zeit zum Secret Service beordert worden war, hatte sie mit ihm zusammengearbeitet. »Agent Yu mir wurde nicht gesagt, dass ich Sie durchlassen soll.«

Sie zog die Augenbrauen hoch. Der Secret Service regelte den Zugang. »Sie sichern den Tatort?«

»Ich sorge dafür, dass wir nicht plötzlich allzu viele Helfer haben. Wenn Sie also nicht in offiziellem Auftrag hier sind «

»Doch, ich wurde Special Agent Drummond zugeteilt. Ihre Liste stimmt nicht.« Ein Kameramann rempelte sie an, doch sie ersparte ihm einen bösen Blick.

Crawfords Lippen wurden zu einem Strich. »Das muss ich mir bestätigen lassen.« Er griff an sein Headset.

Lily wartete ungeduldig. Sie war mittlerweile verwöhnt, stellte sie fest. Normalerweise hatte sie das Sagen. Seit der Wende hatte die Einheit so viel zu tun, dass sie nicht wie sonst im Team arbeiten konnten und sie daher die Ermittlungen zu beinahe jedem Fall, den sie übernommen hatte, geleitet hatte. Außerdem standen die Agenten der Einheit ganz oben in der Nahrungskette auch daran hatte sie sich gewöhnt.

Aber es war nicht so, als wüsste sie nicht mehr, wie man sich unterordnete. Sie war nur außer Übung. Und wäre auch geduldiger, wenn sie nicht

Crawford nickte dem Streifenbeamten zu. »Sie kann rein.«

Lily duckte sich unter der Absperrung durch.

»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat«, sagte Crawford leise, als sie bei ihm war. »Das hier ist ein gottverdammter Zirkus. Jede bescheuerte Behörde der Stadt will mitmischen. Ich habe schon zwei Agenten vom ATF weggeschickt und noch einen von der DEA.« Kopfschüttelnd brach er ab. »Aber ich verstehe, warum man Sie braucht. Drummond ist drinnen.«

»Danke. Wo trage ich mich ein?«

»Einer von meinen Leuten regelt das vor der Tür.«

Die Washingtoner Bleibe des Senators war nicht viel anders als ihre, dachte Lily, als sie sich dem Haus näherte. Größer, klar, nicht aus Backstein, sondern aus Naturstein, außerdem lag sie schöner einem kleinen Park gegenüber, statt anderen, identischen Reihenhäusern. Aber von außen sah sie nicht sehr viel besser aus als der Wohnsitz der Nokolai in der Hauptstadt.

Am Fuß der kleinen Treppe vor der Veranda, auf der zwei Töpfe mit üppig blühenden gelben Chrysanthemen standen, trug Lily sich in die Liste ein. Die Haustür stand offen. Sie trat ein.

Auf der anderen Seite der Tür wurde es prächtiger. Die große Eingangshalle hatte einen Marmorboden, und das Gemälde über dem zierlichen Konsolentisch sah alt und teuer aus. Wenn sie sich recht erinnerte, war die Familie Bixton ursprünglich durch Holz zu Wohlstand gelangt. Rule hatte ihr gesagt, dass das persönliche Vermögen des Senators in einem Blind Trust angelegt war, um mögliche Interessenkonflikte zu vermeiden. Bixton ist zwar bigott, hatte er gesagt, aber ehrlich.

An der Wand der Tür gegenüber stand ein kleiner Tisch mit einem Blumenschmuck, zwei silbernen Kerzenhaltern und einer Schachtel Einwegfüßlingen. Zu ihrer Rechten führte ein Bogendurchgang in das Wohnzimmer, aus dem sie Stimmen hörte; offenbar fand dort gerade ein offizielles Briefing statt. Von hier aus konnte sie den Raum nicht einsehen. Zu ihrer Linken befanden sich eine geschlossene Tür und eine breite, geschwungene Treppe, die jeder Filmstar aus den Vierzigern mit Entzücken vor der Kamera hinabgeschritten wäre.

Lily bückte sich, zog ihre Nikes und die Socken aus und verstaute sie in der Umhängetasche, die sie aus dem Kofferraum ihres Autos mitgenommen hatte.

»Was tun Sie denn da, verdammt?«, fragte jemand mit einer tiefen, rauen Stimme.

Lily richtete sich auf. Der Mann, der in dem Bogendurchgang rechts von ihr stand, war von durchschnittlicher Größe und eher schmal. Er trug einen marineblauen Anzug von der Stange und hatte das dünner werdende schwarze Haar aus seiner hohen Stirn gekämmt. Er trug einen schlichten goldenen Ehering an seiner linken Hand, genau wie der Geist. Über die ausgetretenen schwarzen Schuhe hatte er Füßlinge gezogen. Seine Augen waren dunkel und aufmerksam, und er war offensichtlich aufgebracht.

»So kann ich Magie am Boden schneller erspüren. Ich bin Special Agent Lily Yu.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Und Sie sind

Er musterte sie finster. »Al Drummond, aber Sie können mich mit ›Sir‹ anreden. Der Boden hat Bixton nicht umgebracht, sondern ein gottverdammtes Messer. Ziehen Sie sich ihre verdammten Schuhe wieder an, schnappen Sie sich ein paar Füßlinge und kommen Sie her.« Er drehte sich um und verschwand wieder im Wohnzimmer.

Lily befolgte zumindest eine seiner Anordnungen: Sie folgte ihm ins Wohnzimmer nachdem sie ihre Baby-Feuchttücher hervorgekramt und sich die nackten Füße sorgfältig abgewischt hatte. Ihre Schuhe blieben in der Umhängetasche.

Der Raum war lang und schmal und endete mit zwei hohen Flügeltüren, die in den Garten hinausführten. Die Einrichtung war ausgesprochen kultiviert: Die Wände blassgolden, die seidenen Vorhänge dunkelgolden, die Möbel eine Mischung aus Elfenbein und Gold mit ein paar roten Tupfern. Lilys Mutter hätte es gefallen. Über dem Kaminsims hing ein Gemälde, eine bukolische Landschaft, wie sie vor hundertfünfzig Jahren etwa in Mode gewesen war. Ein verschnörkelter Rahmen. Auch hier frische Blumen in einer Vase auf dem Sims und in einer tiefen Schale schwimmend auf dem Couchtisch. Nichts lag herum. Alles war makellos abgesehen von der hässlichen Leiche auf dem Teppich am anderen Ende des Raums.

Das kleine geschäftige Grüppchen, das sich hier zu schaffen machte, war Lily vertraut wenn nicht per Namen, so doch aufgrund des Aufgabengebietes jedes Einzelnen. Ein Mann schoss noch Fotos, während ein anderer eine Kamera hielt und eine ältere Frau Notizen machte. Diese Frau war Lily bekannt: Hannah Kuruc war eine erstklassige Kriminaltechnikerin. Die anderen beiden gehörten dann wohl zu ihrem Team. Am anderen Ende stand ein Mann in einem dunklen Anzug in der Terrassentür, mit dem Rücken zum Zimmer, und sprach mit jemandem, den Lily nicht sehen konnte. Als er kurz den Kopf drehte, erkannte sie sein Profil.

Der Medical Examiner höchstpersönlich hatte sich an den Tatort bequemt. Für Senator Bixton reichte die zweite Garnitur nicht.

Drummond stand in einer Zimmerecke und unterhielt sich mit einem kleinen, rotblonden Mann mit Knollennase. Er sah zu ihr herüber. »Das ist Herrgott noch mal. Was habe ich Ihnen gesagt, verdammt? Haben Sie schon mal was von Verunreinigung des Tatorts gehört? Ziehen Sie die Scheißfüßlinge «

»Auf dem Boden am Eingang sind Spuren von Todesmagie.«

Die Augenbrauen des Rotblonden schossen in die Höhe. Alle, die am anderen Ende des Zimmers standen, wandten sich ihnen zu, außer Hannah. Drummond behielt seine finstere Miene bei. »Sind Sie sicher?«

»Ganz sicher. Die Textur von Todesmagie ist unverwechselbar.« Sie fühlte sich an wie zermahlendes Glas und Morast. »Die Spuren sind nur schwach, aber sie sind da. Auf dem Teppich habe ich bisher nichts gefunden. Dazu müsste ich hin und her gehen.«

»Auf keinen Fall. Ihre Methode ist vor Gericht nicht zulässig, und ich will nicht, dass mein Tatort kontaminiert wird.«

»Spuren, die so schwach sind wie die am Eingang, verschwinden schnell, und ich habe meine Füße in der Halle sorgfältig gesäubert.«

»Kommen Sie mal runter von Ihrem hohen Ross, Al«, sagte Hannah, die den Teppich neben der Leiche stirnrunzelnd betrachtete. »Bis ich sage, Sie können ihn haben, ist das hier immer noch mein Tatort. Sie sagten, das Hausmädchen habe heute Morgen Staub gesaugt?«

Drummond presste die Lippen aufeinander. »Das hat sie angegeben.«

»Hm.« Jetzt hob sie den Blick. »Lily, Sie können jetzt herkommen, aber um Gottes willen «

»Fassen Sie nichts an«, beendete Lily den Satz für sie.

Hannahs Mundwinkel hoben sich. »Richtig.« Sie zeigte auf den Mann mit der Videokamera. »Nehmen Sie alles auf, was sie macht.«

Drummond sah Lily mürrisch an. »Sie sind hier, um das Messer zu untersuchen. Das hat Priorität.«

Lily hielt ihm erneut die Hand hin. »Sie können mir genauso gut gleich die Hand schütteln. Das erspart uns beiden die Verlegenheit, dass ich mir irgendeinen Vorwand ausdenken muss, um Sie zu berühren.«

Er verdrehte die Augen, streckte die Hand aus und ergriff ihre.

Fester Griff, breite Handfläche, keine Magie. Lily nickte, ließ ihn los und setzte sich langsam in Bewegung.

Der schnellste Weg zum anderen Ende war durch die Mitte. Sie aber nahm einen Zickzackkurs ja. »Ich habe etwas. Eine Fährte. Schwach und nicht durchgängig, aber « Sie fischte in ihrer Umhängetasche, zog ein Packet Eisstiele heraus und legte einen vor sich auf den Teppich und dann einen anderen ungefähr dreißig Zentimeter hinter sich, dorthin, wo sie die Fährte aufgenommen hatte. »Ich markiere die Stellen, an denen ich Reste von Todesmagie finde.«

»Das Messer zuerst, verdammt. Haben Sie schon mal was davon gehört, dass Befehle dazu da sind, dass man sie befolgt?«

»Ja, irgendwann mal. Es fällt mir schon wieder ein.« Langsam bewegte sie sich vorwärts und blieb dann und wann stehen, um einen Holzstiel hinzulegen. Ungefähr eineinhalb Meter vor der Leiche hielt sie inne und legte drei Stiele auf den Boden. »Hier ist es stärker.« Noch ein Schritt. Noch einer und dann noch ein Stiel. Nach einigen weiteren Schritten stellte sie ihre Tasche ab, ging in die Hocke und musterte das, was von Bixton noch übrig war.

Der Senator war schon angezogen gewesen: ein blütenweißes Hemd und eine Hose, die aussah wie die, die er auch bei Lilys Befragung getragen hatte, aber ohne Weste und Anzugjacke. Seine Krawatte war wieder rot, aber diese hatte kleine goldene Pünktchen.

Er lag auf dem Rücken neben einem dick gepolsterten Sitzkissen und sah leicht beleidigt aus. Ein Arm lag eng am Körper, die Handfläche nach oben gedreht, die Finger gekrümmt, den anderen hatte er zur Seite ausgestreckt, sodass die Fingerspitzen den Bezug des Sitzkissens berührten. Keine sichtbaren Abwehrverletzungen. Seine Augen waren glasig, der Mund geöffnet und der Körper schlaff die seltsame Starrheit des Todes. Das beeindruckte Lily immer wieder: Wie reglos die Toten waren. Tote sahen nicht aus, als schliefen sie oder als wären sie bewusstlos. Sie sahen tot aus.

Und außerdem rochen sie schlecht. Im Tode entspannten sich alle Muskeln. Bixton war mit voller Blase gestorben, aber, dem Geruch nach zu schließen, mit nur wenig im Verdauungsapparat.

Das Messer ragte aus der fleischigen Stelle zwischen Achselhöhle und dem oberen Rand des Brustkastens, direkt unter dem Schlüsselbein. Nicht viel Blut. Das Messer selbst sah alt aus; der Griff war aus Knochen oder Elfenbein oder etwas Ähnlichem geschnitzt. Von der Klinge sah sie etwa fünf Zentimeter.

Hast es nicht ganz reinbekommen, was? Obwohl da kein Knochen ist, auf den die Klinge hätte stoßen können. Entweder bist du nicht sehr kräftig, oder es war dir egal, wie tief sie steckte, weil es nicht der Stahl ist, der ihn getötet hat. Er war nur das Transportmittel.

»Vorsicht«, blaffte Drummond. »Hinterlassen Sie keine Fingerabdrücke.«

Lily drückte den Handrücken in Bixtons Handfläche. »Special Agent Drummond Sir , Sie gehören nicht zur Einheit.« Als Nächstes untersuchte sie Bixtons Kehle, hielt dort kurz inne und presste dann den Handrücken an sein Gesicht. »Sie haben vorher noch nie mit einer Sensitiven gearbeitet. Aber vielleicht sollten Sie mir doch zugutehalten, dass ich ein Profi bin. Versuchen Sie es wenigstens.«

»Werden Sie irgendwann auch mal dieses verdammte Messer untersuchen? Als Profi?«

Ärger überlief kribbelnd ihre Haut, fast so deutlich spürbar wie Magie. Doch sie ließ sich nichts anmerken. Offenbar war sie tatsächlich aus der Übung, als Untergebene zu arbeiten … oh ja, sie war es nicht mehr gewöhnt, Befehle von Arschlöchern entgegenzunehmen. »Wenn Bixton durch Magie getötet wurde, ist vielleicht noch ein Rest davon an seinem Körper. Aus der Fundstelle und der Menge der Restmagie lässt sich auf die Art des Zaubers schließen, der benutzt wurde.«

»Ist es denn wichtig, welcher Zauber es war? Tötung mit magischen Mitteln ist ein Kapitalverbrechen. Da ist es doch egal, was für ein Hokuspokus dazu geführt hat.«

»Wenn er erschossen worden wäre, würden Sie dann nicht die Kugel finden wollen? Vielleicht ich weiß nicht ein paar ballistische Untersuchungen machen?«

Er grunzte. »Also, was haben Sie gefunden?«

»An seiner Hand und seinem Gesicht nichts. Eine sehr schwache Spur an seiner Kehle. Um woanders nachsehen zu können, muss ich seine Kleidung öffnen, aber zuerst kümmere ich mich um das Messer.« Jetzt legte sie den Handrücken an den Messergriff. Und zog eine Grimasse. Eklig. »Todesmagie. Viel davon. Das wird nicht so schnell verfliegen. Da werden Sie sich problemlos eine Bestätigung durch einen Coven holen können.« Nur Beweise, die von einem konzessionierten Wiccacoven erbracht wurden, waren vor Gericht zugelassen, keine anderen. Ein Coven war zwar nicht zu dem in der Lage, was Lily tat Gaben waren stärker und genauer als Zauber , aber für diesen hübschen Dolch, der so stark mit Todesmagie geladen war, würde ein Hexenzauber reichen. »Haben Sie Ms O’Shaunessy schon gesprochen, oder soll ich das tun?«

»Ihr Croft sollte das eigentlich tun. Suchen Sie weiter nach Resten von Magie.«

Vielleicht war das Arschloch doch lernfähig. Lily warf Hannah einen Blick zu.

Ihre Mundwinkel zeigten unglücklich nach unten. »Okay, aber ich ziehe ihn aus. Haben Sie noch mehr von diesen Feuchttüchern dabei?«

Während Lily sich die Hände abwischte, kniete sich Hannah auf die andere Seite der Leiche und beugte sich tief hinunter, um die gestärkte Oberfläche von Bixtons Hemd zu studieren. Nach einem Moment grunzte sie, winkte einen der Techniker zu sich und nahm eine Pinzette und einen Asservatenbeutel von ihm entgegen. »Sieht aus, als wäre es eines von Bixton«, sagte sie und legte ein kurzes, weißes Haar in den Beutel, »aber ganz sicher ist man nie.«

Dann öffnete Hannah vier Knöpfe genug, damit Lily ihre Hand zwischen den Stoff und die kühle, feuchte Haut schieben konnte. Bixton hatte eine haarige Brust. Das überraschte sie aus irgendeinem Grund.

»An einer Stelle ist die Todesmagie konzentriert«, sagte sie, nachdem sie vorsichtig getastet hatte. »Über dem Herzen. Wenn ich die Hand vom Mittelpunkt der Brust wegbewege, wird sie gleichmäßig schwächer. Die Wunde selbst habe ich nicht berührt, nur den Bereich ungefähr fünf Zentimeter darum herum.« Sie zog die Hand zurück und drehte sich um, um nach ihrer Tasche zu greifen.

»Was sagt Ihnen das?«, wollte Drummond wissen. »Wo die Magie ist und wo sie nicht ist. Was bedeutet das?«

Lily stand auf und rieb sich mit einem frischen Tuch über die Hände. Sie fühlte sich beschmutzt, aber nicht, weil sie eine Leiche angefasst hatte. Sondern durch die Todesmagie. »Zuerst einmal wurde er nicht auf direktem Weg durch Todesmagie getötet. Die wurde nur benutzt, um den Zauber, der ihn getötet hat, mit Energie zu versorgen, nicht als eine Art eigenständige Waffe.«

»Das geht?« Seine Augenbrauen hoben sich überrascht, und einen kurzen Moment lang klang er nicht mehr mürrisch. »Kann man jemanden umbringen, indem man ihn einfach mit Todesmagie beschießt?«

»Ich kann das jedenfalls nicht«, sagte sie trocken und ging zu ihm zurück, wobei sie darauf achtete, nicht auf die Spur, die sie mit den Stielen gelegt hatte, zu treten. »Und ich bin wirklich sehr froh, dass es unser Täter auch nicht kann.« Nur ein einziges Mal hatte sie erlebt, dass jemand auf diese Weise zu Tode gekommen war: durch eine Irre, die dazu einen antiken, von der Erzfeindin erschaffenen Stab benutzt hatte. Diese Frau war jetzt tot, der Stab zerstört, aber vermutlich konnte sie jederzeit einen neuen erschaffen, wenn sie wollte. »Dass die Magie am stärksten über seinem Herzen war, deutete darauf hin, dass auf sein Herz gezielt wurde.«

Drummond rieb sich mit zusammengezogenen Brauen das Kinn. »Brooks’ Herzinfarkt wurde durch einen Trank hervorgerufen, nicht durch einen Spruch. Und ich habe nichts davon verlauten hören, dass Todesmagie dabei im Spiel war.«

»Soweit ich weiß, ist das auch so, aber in diese Ermittlungen war ich nicht involviert. Das Herz ist ein beliebtes Ziel bei Todeszaubern. Vor ein paar Monaten hatte ich mit einem Täter zu tun, der einen Herzstopper benutzt hatte und als Transportmittel eine Klinge.« Sie runzelte die Stirn und schob den Fuß ein gutes Stück zur Seite. Eine zweite Fährte hatte sie nicht gefunden. Aber musste der Täter nicht auch Todesmagie abgegeben haben, als er ging?

Nicht unbedingt, begriff sie. Nicht, wenn der Zauber sich restlos entladen hatte. Das Bemerkenswerte war eher, dass er überhaupt etwas verloren hatte. Konnte es sein, dass der Täter sich selbst mit Todesmagie aufgeladen hatte und nicht die Klinge und dann beim Zuschlagen die Energie durch das Messer geschickt hatte?

War das möglich? Sie musste Cullen anrufen.

»Hm. Ich nehme an, deswegen sind Sie da. Sie haben Erfahrung mit diesem Scheiß.« Er sah an ihr vorbei. »Hannah, Sie haben jetzt freie Bahn. Ich muss ein paar Gespräche führen. Lassen Sie mich wissen, was Sie finden. Doug, Agent Yu, kommen Sie mit.«

Er führte sie und den Rotblonden in die Eingangshalle und von dort durch die Tür, die sie schon bei ihrem Eintritt gesehen hatte. Doch war es kein Einbauschrank, wie sie flüchtig gedacht hatte, sondern ein kleines Büro. Viele Bücher, ein einzelnes, schmales Fenster. Ein Schreibtisch mit dem üblichen Computerzeug und säuberlichen Stapeln von Akten und Papier.

Er blieb stehen und drehte sich zu ihr. »Ich mag es nicht, wenn meine direkten Anordnungen ignoriert werden.«

»Ach ja? Und ich mag es nicht, wenn man mich wie einen Volltrottel behandelt.«

»Der Unterschied ist, dass ich hier das Sagen habe. Und Sie nicht. Das ist Doug Mullins. Er ist, soweit es mich betrifft, der zweite Mann im Team. Sie nehmen also auch von ihm Befehle entgegen.«

Mullins war ein gedrungener kleiner Mann mit blasser Haut, blassen Augen und einem breiten Mund, der sein Gesicht sicher sehr veränderte, wenn er lächelte. Falls er je lächelte. Oder sprach. Bisher hatte sie noch kein einziges Wort von ihm gehört. »Gut«, sagte sie und streckte die Hand aus. »Schön, Sie kennenzulernen, Agent Mullins.«

Er musterte ihre ausgestreckte Hand ungefähr so, als sei sie ein Stück Kaugummi unter seinem Schuh.

Drummond schnaubte. »Sein Sie kein Weichei, Doug. Geben Sie der netten Agentin die Hand, damit Sie weiß, dass Sie kein großer, böser Hexer sind.«

Widerstrebend tat er es. Feuchte Handfläche, kurze Finger, keine Magie. Ehering an der linken Hand, schlicht und aus Gold. Lily sah Drummond an. »Ziehen Sie eigentlich den Sachverstand eines jeden in Ihrem Team in Zweifel? Oder nur den der Frauen? Oder den von magisch Begabten?«

Drummond rieb sich wieder das Kinn. Dann nickte er. »Ein Punkt für Sie. Ich hätte Sie fragen sollen, was Sie da machen, bevor ich es Ihnen untersagt habe. Aber von jetzt an gilt Folgendes: Wenn ich sage, Sie sollen auf einem Bein hüpfen, dann hüpfen Sie auf einem verdammten Bein. Oder ich hole mir jemand anderen aus Ihrem Hokuspokus-Klub, der diesen Teil der Ermittlungen übernimmt.«

Lily war wenig beeindruckt von der Drohung. Croft hatte sie diesem Fall zugeteilt. Drummond konnte sie nicht einfach so wegschicken aber er konnte ihr ihren Job erschweren. »Ich werde Ihre Anordnungen befolgen, Sir. Aber ich eigne mich schlecht dazu, ohne Angaben von Gründen auf einem Bein zu hüpfen.«

»Pech. Erzählen Sie mir etwas über Todesmagie. So, als wüsste ich gar nichts darüber. Was die Sache wohl so ziemlich trifft.«

»Es handelt sich um Magie, die während eines gewaltsam durchgeführten rituellen Todes gewonnen wird.« Das wusste er sicher bereits. Jeder Cop wusste das. »Die Praktizierenden nutzten die Energie der Transition «

»Praktizierende? Was ist das?«

»Für ein Ritual braucht man mehr als nur eine Person. Die einzig bekannte Ausnahme ist ein Widergänger, der Todesmagie kreiert und gleichzeitig davon lebt und dafür kein Ritual braucht.«

»Wäre es möglich, dass wir es mit einem Widergänger zu tun haben?«

»Wie genau wollen Sie es denn wissen?«

»Sparen Sie sich die Einzelheiten für Ihren Bericht auf. Jetzt brauche ich nur ein Ja oder ein Nein.«

»Es wäre möglich, ist aber sehr unwahrscheinlich.« Zum einen, weil es sehr, sehr schwer war, einen Widergänger zu erschaffen. Und zum anderen, weil ein Widergänger nicht so viel gut schmeckende Todesmagie auf dem Dolch zurückgelassen hätte. Widergänger fraßen das Zeug nämlich.

»Dann ist es also ein menschlicher Täter.«

»Mehrere. Für ein Todesmagie-Ritual werden mindestens fünf Teilnehmer benötigt: einer für jede Himmelsrichtung, einer, der das Ritual leitet und die tatsächliche Tötung vornimmt. In allen bekannten Ritualen nutzt der Killer ein Messer, normalerweise, um dem Opfer die Kehle durchzuschneiden. Das Ritual erlaubt es der durchführenden Person, die Energie, die bei der Transition einer Seele vom Leben zu dem, was immer danach kommt, frei wird, aufzunehmen und zu halten.«

Offenbar hatte Mullins doch eine Stimme einen rauen Bariton, der so gar nicht zu seiner Größe passte. »Seele?« Er legte reichlich Hohn in dieses eine Wort. »Sie glauben an Seelen?«

»Wenn Ihnen das Wort nicht gefällt, suchen Sie sich ein anderes aus. Es gibt etwas, das den Körper überdauert. Wir wissen nicht, wie lange oder was damit passiert, nicht sicher zumindest, aber dass es Seelen gibt, hat nichts mit Glauben zu tun, das ist Fakt.«

Mullins schob kampfeslustig das Kinn vor. »Das können Sie nicht beweisen.«

»Die Todesmagie selbst ist der Beweis dafür, dass noch etwas anderes als das rein Körperliche existiert.«

»Dieser ganze Quatsch von Transitionen! Sie hören sich an wie ein Fernsehmedium. Offensichtlich nutzt Todesmagie die Lebensenergie des Opfers, nicht irgendeine Fantasietransition.«

»Was ist denn Lebensenergie?«

»Die Energie, die den Körper am Leben hält.«

Sie schnaubte. »Tolle Definition! Wenn Sie sich an das rein Physische halten, besteht eine lebenserhaltende Ernährung aus tausendzweihundert Kalorien pro Tag. Das entspricht ungefähr 5300 Kilojoule. Wenn der Praktizierende, der Todesmagie nutzen will, nur Zugriff auf das rein Physische hätte, würde er sich das Leben sehr viel einfacher machen, wenn er einen Weg fände, die Energie eines Föns aufzunehmen.«

Drummond unterbrach sie ungeduldig. »Genug der Metaphysik. Um Todesmagie herzustellen, muss jemand jemanden töten. Damit sollten wir anfangen.«

»Es ist auch Todesmagie, wenn das Opfer ein Tier ist«, sagte Lily, »aber Menschen geben mehr Saft. Ich nehme an, unser Täter brauchte den Tod eines Menschen, aber « Sie trommelte mit den Fingern auf ihren Oberschenkel. »Ich muss einen Experten zu Rate ziehen.«

»Ich dachte, Sie seien die Scheißexpertin.«

»Sie würden ja auch keinen Spezialisten für Blutspuren bitten, eine Faseranalyse zu machen. Da ich keine Magie wirken kann, habe ich auch nie das Zaubern erlernt. Ich muss mit jemandem reden, der alles kann Zaubern, Theorie und Geschichte.«

»Denken Sie an jemand Bestimmten? Einen von Ihren Leuten aus der Einheit?«

»Nein, an einen Berater.« Cullen Seabourne, Lupus und Zauberer. Zauberer waren so selten, dass manche Menschen glaubten, es gäbe sie gar nicht. Und ein Lupus, der dazu noch Zauberer war? Unmöglich.

Regeln brechen, das war etwas, das Cullen besonders gerne tat. »Er hat die notwendige Sicherheitsfreigabe«, fügte Lily hinzu. »Die Einheit zieht ihn oft zurate. Ich muss Sie nur bitten, sein Honorar zu genehmigen.«

Er grunzte. »Die Anfrage brauche ich schriftlich Name, Kontaktdaten, Honorarstaffel. Hat Croft Ihnen gesagt « Sein Telefon summte. Er nahm den Anruf entgegen, versprach, er würde gleich da sein und sagte zu Mullins: »Briefen Sie sie. Ich muss mit Armistead reden.«

»Soll ich ihr alles sagen?«

»Ja, verdammt. Sie muss doch wissen, warum sie ihre Klappe nicht aufreißen darf.« Als er ging, schloss er die Tür fest hinter sich.

Mullins sah sie an. »Ich habe gehört, Sie haben bei der Mordkommission gearbeitet.«

»Das ist richtig.«

»Bilden Sie sich ja nichts darauf ein.« Er zog einen kleinen Notizblock aus der Innentasche seiner Jacke und überflog seine Notizen. »Bixton hatte einen geregelten Lebenswandel. Unter der Woche stand er jeden Tag um sieben Uhr auf, zumindest laut Aussage des Hausmädchens. Ihr Name ist Sheila Navarette unverheiratet, zweiunddreißig, wohnt hier im Haus. Um sieben Uhr dreißig hatte sie das Frühstück für ihn fertig, und um diese Uhrzeit ist er auch heute erschienen. Eier und Toast, Kaffee, Apfelsaft. Während er aß, hat sie im Erdgeschoss Staub gesaugt wie jeden Tag und sich dann an den Abwasch des Frühstücksgeschirrs gemacht. Um acht Uhr fünfzehn ist sie auf dem Weg in die Küche an ihm vorbeigekommen. Sie glaubt, dann sei er in sein Büro gegangen, weil das seine Gewohnheit war, aber gesehen hat sie es nicht.

Sie hat also abgewaschen und ist dann nach oben gegangen, wo sie die Betten gemacht, aufgeräumt und die Wäsche eingesammelt hat, die sie anschließend in den Keller getragen hat. Dort war sie zwischen neun Uhr dreißig und zehn Uhr, als die Türklingel schellte. Das Türklingeln hört man in allen drei Geschossen Keller, Erdgeschoss und Obergeschoss. Sie ging an die Tür und führte den Besucher zum Senator ins Wohnzimmer. Nachdem die beiden Kaffee und Tee abgelehnt hatten, ging sie zurück in den Keller, wo sie blieb, um die Hemden des Senators zu bügeln, bis sie gegen zwölf Uhr wieder nach oben kam, um das Mittagessen vorzubereiten, und die Leiche entdeckte.«

Er blickte von seinen Notizen auf. In seinen Augen lag ein seltsames spöttisches Funkeln. »Das war der einzige Besucher, den der Senator heute Morgen empfangen hat.«

»Wollen Sie mir damit sagen, dass es schon einen Verdächtigen gibt? Oder wenigstens einen Zeugen. Haben Sie eine Beschreibung? Einen Namen?«

»Beides.« Demonstrativ schaute er wieder in seine Notizen. »Dünn, durchschnittlich groß, trug einen dunkelgrauen Anzug und ein weißes Hemd. Hellblaue Krawatte. Er hatte weder Aktentasche noch Laptop oder irgendeinen anderen Gegenstand dabei. Sie schätzt sein Alter auf zwischen vierzig und fünfzig. Dunkles Haar, dunkle Augen, große Nase, Brille. Sie hat ihn bisher noch nie hier im Haus gesehen, und er hatte auch keinen Termin. Trotzdem hat der Senator ihn empfangen.«

»Und sein Name?«

Mullins lächelte dünn. »Ruben Brooks.«