38
Paul Chittenden war zwar Friars Lieutenant an der Ostküste, doch er würde sicher nicht auf der Bühne auftreten, denn er zog es vor, im Hintergrund zu bleiben. Die offizielle Organisatorin der Kundgebung war Kim Evans, ein hochgewachsenes, nervöses Energiebündel, das die Kameras liebte und ein Problem damit hatte, zwischen Fakten und Fiktion zu unterscheiden.
Davon hatte Rule sich erst kürzlich auf einer Party in D.C. überzeugen können, der Art von Veranstaltung, die er früher öfter besucht hatte und die Lily hasst. Aus diesem Grund nahm er auch mittlerweile weniger Einladungen zu solchen Partys an. Doch er hatte gehört, dass Kim Evans erscheinen würde, und hatte sie unbedingt treffen wollen, um sich ein Bild von ihr zu machen.
Die Mühe hatte sich gelohnt. In der fünfminütigen Unterhaltung mit ihm hatte Evans dreimal gelogen – zwei Mal bei Geschichten, die sie selbst von sich gegeben hatte und die aufgezeichnet worden und nun auf verschiedenen Nachrichtenseiten im Web anzusehen und anzuhören waren. Und anschließend hatte sie sich auf eine Äußerung Rules bezogen, von der er mit Sicherheit wusste, dass er sie nie so gemacht hatte. Sie log leidenschaftlich gern und aus voller Überzeugung, und wenn sie ertappt wurde, tat sie es mit einem »machen Sie sich nicht lächerlich« ab.
Evans’ nachdrückliches Bestehen darauf, dass die Wahrheit immer das war, was sie dazu erklärte, verlieh ihr eine seltsame Art von Charisma. Die Presse fand sie faszinierend. Auf der Tribüne waren Fernsehkameras aufgebaut – die, die Bilder für den Großbildschirm lieferten, aber auch die verschiedener Nachrichtensender.
Rule stand neben Cullen an der Nordseite der Menschenmenge, dort, wo sie bereits dünner wurde, weit weg von der Bühne. Näher kamen sie nicht, wenn sie sich nicht mit Gewalt einen Weg bahnen wollten. Gerade als Rule genau das tun wollte, stieß Abel zu ihnen. Er beschloss, sich die Organisatoren der Veranstaltung zur Brust zu nehmen. Seine Polizeimarke, sagte er, würde ihm schon Zugang verschaffen.
Seit zehn Minuten hatte die Menge die beiden verschluckt. Rule wurde zunehmend nervös. Bisher hatte Abel noch nicht angerufen. Entweder waren die Brownies spät dran, oder sie kamen nicht durch die vielen Leute durch. Gleich würde die Show beginnen. Eine anschwellende Melodie kündigte Kim Evans an, als sie die Stufen hinaufstieg. Evans hatte die Eleganz eines Rennpferdes – schlank, schnell und nervös. Das pinkfarbene Kostüm und die Schuhe mit den sieben Zentimeter hohen Absätzen waren makellos, der Wind blies ihr das blonde Haar, das sie offen trug, um das schmale Gesicht. Die Menge jubelte und applaudierte wie wild.
Rubens Handy klingelte. Es war Lily. Sein Herz hämmerte in einer Mischung aus Erleichterung und Sorge – Erleichterung, weil er ihre Stimme hören würde. Sorge, weil sie nicht bei ihm war. »Ja?«, sagte er, um dann, nachdem er sich das andere Ohr zugehalten hatte, fortzufahren: »Sag das noch einmal. Hier sind zu viele Leute, die schreien und klatschen. Ich konnte dich nicht verstehen.«
Und trotz seines guten Gehörs, und obwohl er die Hand auf dem anderen Ohr hatte, verstand er sie nur lückenhaft, als sie ihre Nachricht wiederholte: »… wird hier viel los sein, aber du musst es wissen. Sag es den anderen. Sie … machen Lupus-Doppelgänger. In Wolfsgestalt. Eine Menge. Sie müssen Brians Gewebe dazu benutzt haben. Lassen sie los, wenn … Hier und … buquerque und … iego und New York.«
Der Plan war eigentlich ganz einfach: Sie würden warten, bis die bewusstlosen Opfer alle eingeladen waren, dann den Wagen anhalten, um damit zu ihrem Treffpunkt bei der Kundgebung fahren.
Erst alle Kidnapper aus dem Haus kommen zu lassen, war zweifellos die beste Lösung. Wenn die Opfer erst einmal alle an einem Ort und sicher im Wagen waren, würde es schwerer sein, sie als Geiseln zu benutzen. Das Heikle daran war, dass sie Drummond vertraute. Sozusagen.
Lily verließ sich dabei auf ihr Bauchgefühl – und vielleicht auch auf das von Mullins. Drummonds Sinn für das, was richtig und was falsch war, mochte völlig verdreht sein, aber es war stark ausgeprägt. So stark, dass er seine Karriere und seinen idiotischen Krieg gegen die magisch Begabten für ein paar Obdachlose geopfert hatte. In seiner Verwirrung war er überzeugt davon, alles nur getan zu haben, um Menschen zu schützen. Lily und Ruben, die Lupi, Begabte im Allgemeinen – das waren keine richtigen Menschen für ihn. Doch er konnte nicht zulassen, dass »Unschuldige« – Menschen ohne Gabe oder ohne das Talent, sich Fell wachsen zu lassen – getötet wurden.
Zwar würde sie ihn nicht aus den Augen lassen, doch sie hatte vor, ihn zu benutzen. Er hatte einen Vorteil, den sie nicht außer Betracht lassen durfte: Er hatte die Schläger ausgesucht, die das erste Haus bewachten.
Oder zumindest hatte er alles arrangiert. Dennis Parrott hätte niemals gewusst, wo er starke Männer, die auch vor blutiger Arbeit nicht zurückschreckten, hernehmen sollte. Auch wenn Drummond behauptete, dass er nichts von der Todesmagie gewusst hatte – dass seine Leute selbst vor Mord nicht haltmachten, war ihm sicher nicht entgangen. Wie die meisten Cops hatte er Kontakte auf der anderen Seite des Gesetzes. Er hatte das Meeting zwischen Parrott und Randy »Big Thumbs« Ballister organisiert. Den Spitznamen »Big Thumbs« hatte er bekommen, weil er zu sagen pflegte, er würde »den Scheißkerl wie einen Käfer zerquetschen«, und dies dann mit einer Bewegung seines Daumens verdeutlichte. Es hieß, dass er schon sehr oft jemanden zerquetscht hätte.
Der größte Teil der Operation wurde von Lupi durchgeführt. Wenn alles so lief wie geplant, wurde Lily gar nicht gebraucht. Das nagte an ihr. Sie mochte es gar nicht, andere in die Gefahr zu schicken, während sie herumstand und Befehle gab, doch sie riskierte niemandes Leben, nur um ihr Ego zu pflegen. Lupi waren eben zu ganz anderen Dingen in der Lage als sie.
Deshalb kauerte Lily nun auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Websterhauses hinter einem riesigen wuchernden Wacholderstrauch. Es wurde bereits heller, und obwohl die Umgebung noch immer in Grautöne gehüllt war, konnte sie schon recht viel erkennen. Der Imbisswagen parkte auf dem rissigen Asphalt der Einfahrt, mit der geöffneten Hinterseite zum Haus hin. Der Fahrer war gerade hinter das Steuer gestiegen und kurbelte die Fenster herunter, um sich eine Zigarette zu gönnen.
Er war so etwas wie ein Joker im Spiel; umgeben von Metall war er schwer auszuschalten, und es gab keine Deckung, um sich unbemerkt an ihn anzuschleichen. Also mussten sie hoffen, dass Big Thumbs’ Männer genug Angst vor ihm hatten, um zu gehorchen, egal was passierte. Wenn nicht … Für diesen Fall hatte Lily sich genau diese Stelle ausgesucht, den einzigen Platz, der Deckung bot und gleichzeitig einen guten Blick auf den Mann.
Zwei Männer kamen aus der Haustür, die ein langes, in ein Betttuch gehülltes Bündel trugen. Ein weiterer Mann – Big Thumbs höchstpersönlich – stand hinter ihnen und sah zu. Wenn sie richtig gezählt hatten, war das die vorletzte Geisel. Und dort kamen schon die nächsten beiden Männer mit noch einem Bündel heraus. Wo zum Teufel war …
Sie seufzte erleichtert, als ein weißer Ford, den jeder Kriminelle, der etwas auf sich hielt, sofort als Polizeiwagen identifiziert hätte, heranfuhr und den Imbisswagen blockierte. Drummond stieg aus und schlug die Tür zu.
Die ersten beiden Männer hievten hastig ihr Bündel in den Wagen und liefen zurück zu ihrem Boss. Sie machten sich nicht einmal die Mühe, unauffällig vorzugehen, sondern zogen beide ihre Waffen.
Lily konnte gut verstehen, wie Big Thumbs sagte: »Was, zum Teufel, machst du denn hier?«
»Parrott hält mich für seinen Scheißbotenjungen, deswegen. Er sagte, er habe das letzte Mal etwas hiergelassen. Ein schickes Kartenetui, aus Metall – könnte das Feuer überstehen, wenn ihr das Haus abgefackelt, und seine Initialen sind darauf, deshalb will er, dass du es findest.«
»Und warum ruft er mich nicht selbst an?«
»Weil er kein Prepaidhandy dabei hat, Dummkopf. Er wird wohl kaum Anrufe mit seinem eigenen Handy machen.«
Big Thumbs überlegte, dann grunzte er. »Ich hasse es, mit verdammten Amateuren zusammenzuarbeiten. Er bezahlt gut, ist aber eine echte Nervensäge. Wo soll denn das gottverdammte Kartenetui sein?«
»Da wo er diese Zeremonien abhält. Er sagte, du wüsstest, was er meint.«
»Okay, aber wenn wir zu spät kommen, sollte er lieber nicht motzen.« Big Thumbs nickte den beiden zuletzt gekommenen Männern zu, die ihre Last im Rückraum des Wagens abluden und die Türen zuschlugen. »Seht euch nach dem schicken Kartenetui des Mannes um. Müsste hinter dem Haus sein.«
Der Garten wurde von einem brandneuen, zwei Meter fünfzig hohen Holzzaun umschlossen. In dieser Gegend fiel er ins Auge wie ein bunter Hund. Laut Shannon stank es im Garten am stärksten nach Todesmagie.
Dort erwarteten sie Scott und Chris. Diese beiden Männer würden nicht wieder zurückkommen.
Big Thumbs wartete ganze fünfundvierzig Sekunden. Seine Ungeduld war ihm anzusehen. »Zum Teufel damit. Kein Grund, dass sich die Lieferung deswegen verspätet. Ihr beiden, steigt ein.« Er sah Drummond an. »Fahr deinen Scheißwagen weg.«
Warum lasen die Bösen bloß nie das Drehbuch? Zeit für Plan B: Angst und Schrecken verbreiten. Lily zog eine kleine Metallpfeife aus der Tasche.
»Warum brauchen die so lange?«, sagte Drummond gleichermaßen ungeduldig. »Ich hab’ keine Lust, gesehen zu werden, wie ich hier mit dir quatsche. Ich suche selbst nach dem Scheißetui.« Er begann auf das Haus zuzugehen.
Mist. Jetzt arbeitete auch Drummond ohne Drehbuch.
Big Thumbs packte ihn am Arm. »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Fahr dein Scheißauto weg.«
Lily führte die Pfeife an den Mund und blies einmal, zweimal, dreimal hinein. Und hörte nichts, denn es war eine Hundepfeife.
Drummond riss seinen Arm los – oder versuchte es. Big Thumbs war ein großer Mann, und er hatte einen festen Griff. »Hör zu, Arschgesicht, ich rate dir –«
Zwei riesige Wölfe kamen mit höchstem Tempo um das Haus herum, jeder von einer Seite.
Einer der Männer kreischte wie ein Mädchen und begann wild um sich zu feuern. Der andere verfiel für eine Sekunde in Schockstarre – was bereits viel zu lang ist, wenn ein Lupus sich mit Höchstgeschwindigkeit bewegt.
Wenigstens der nächste Teil lief wie am Schnürchen.
Präzise wie ein Uhrwerk schalteten die Wölfe die beiden Schützen aus – zwei große Sätze, zwei Männer am Boden, über ihnen knurrende Wölfe. Mullins feuerte aus dem Haus heraus durch ein Fenster – ein hoch angesetzter Schuss, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Keine Bewegung, Arschlöcher! Hier ist das FBI!« Und Drummond – der sich eigentlich von Big Thumbs hatte entfernen sollen, damit dieser ihn nicht als Geisel nehmen konnte – packte und verdrehte seinen Arm und warf ihn zu Boden. Er zog seine Waffe und hielt sie dem Mann ins Gesicht. »Sag dem Fahrer, er soll aussteigen. Jetzt sofort. Ich habe sehr schlechte Laune.«
Lily atmete zittrig ein. Durch das Adrenalin war ihr Körper im Turbomodus. Vorsichtig kam sie hinter dem Wacholderstrauch hervor.
Der Fahrer schoss auf Drummond. Er fiel auf Big Thumbs.
Lily blieb stehen, nahm Schussposition ein, indem sie die rechte Hand mit der linken stützte, nahm sich eine volle Sekunde, um zu zielen, und feuerte zweimal.
Der Fahrer wurde zurückgerissen, als die Kugel in seinem Gesicht auftraf. Lily spürte diesen Moment körperlich – keine Emotion, nur die Tatsache, wie ihre Kugel in sein Gehirn einschlug und sein Leben beendete.
Die Haustür flog auf, und Mullins kam herausgerannt, Chris und Scott folgten ihm dichtauf.
Big Thumbs schob Drummonds Körper von sich herunter und griff nach der .357, die Drummond aus der Hand gefallen war, als die Kugel ihn traf. Lily hatte kein freies Schussfeld, verdammt, das wurde von einem der Wölfe blockiert, doch sie sah, wie Big Thumbs auf Mullins zielte. Sie begann zu rennen, obwohl sie wusste, dass sie zu spät kommen würde.
Drummond drückte sich mit einem Arm hoch und rollte sich wieder auf Big Thumbs.
Die Waffe ging los.
Scott war als Erster dort. Bevor Lily über die Straße gerannt war, trat er Big Thumbs an den Kopf, so heftig, dass dieser sich so bald nicht mehr und vielleicht nie mehr regen würde, und rollte Drummonds sanft auf den Rücken. Blut befleckte Drummonds weißes Hemd und sickerte ihm aus dem Mund. Seine Augen starrten ins Leere. »Kein Herzschlag«, sagte Scott knapp.
»Der Fahrer«, rief Lily Chris zu, während sie schlitternd zum Stehen kam. »Sieh nach ihm. Wenn er tot oder handlungsunfähig ist, holt die Leute aus dem Rückraum. Shannon! Mark! Wandelt euch zurück, fesselt diese beiden Typen und helft dann Chris.«
»Al.« Mullins fiel neben seinem Freund auf die Knie. »Al, oh, Scheiße. Al.«
Etwas Weißes und Nebelhaftes bildete sich über Drummonds Körper.
In der Graslandschaft der Prärie im Nordosten von Colorado standen sechs Frauen im Kreis neben einem Zaun, der eine graslose Stelle umschloss, wo zwei Stahltüren in den Boden eingelassen waren. Sie chanteten in einer Sprache, die so alt war, dass es von ihr keine schriftlichen oder mündlichen Aufzeichnungen gab. Die siebte Frau – die dunkelhäutige in dem schönen Dashiki – saß mit geschlossenen Augen abseits und tat nichts – zumindest nichts, das man mit bloßem Auge hätte erkennen können … doch was immer die Regierung der Vereinigten Staaten an diesem Ort normalerweise tat, würde heute nicht möglich sein.
Über ihren Köpfen flogen vier Drachen … und ihre Stimmen gesellten sich zu denen der Frauen.
Langsam, fast lautlos, begannen sich die Stahltüren zu bewegen.
Rule war nichts Cleveres eingefallen, wie sie mit »einer Menge« Doppelgänger anders fertigwerden sollten, als ohnehin schon geplant. Er hatte Isen, Benedict und Manuel informiert, die auch keine Vorschläge hatten – aber wenigstens waren sie auf ihren Plätzen. Und warteten, so wie er.
Rules primäres Ziel war das Amulett oder der Artefakt oder was immer benutzt wurde, um die Doppelgänger zu erschaffen und zu lenken. Ein Blutvergießen zu verhindern, war das sekundäre, wenngleich auch wichtige Ziel, aber vor allem mussten sie dieses Artefakt unbedingt finden und zerstören. Deswegen hatte er zwei Männer eingeteilt, deren einzige Aufgabe darin bestand, Cullen zu schützen … die einzige Person auf dieser Welt, die erwiesenermaßen in der Lage war, schwarzes Feuer zu rufen und unter Kontrolle zu behalten.
Denn das war von großer Bedeutung. In der magischen Gemeinschaft ging das Gerücht, dass Mrs O’Learys Kuh unschuldig war und dass der große Brand von Chicago eigentlich von jemandem mit einer Feuergabe ausgelöst worden war, der die Flammen zwar rufen, aber nicht hatte kontrollieren können.
Rule hatte sich dafür entschieden, seine Männer aufzuteilen. Vierzehn von ihnen waren bei ihm und Cullen, neun bei José, am Rand der Menschenmenge, ungefähr auf der Höhe der Mitte, um schnell dort eingreifen zu können, wo sie gebraucht wurden. Und einer war auf dem Dach des Smithsonian positioniert.
Rule und sein Team hatten sich unbeliebt gemacht, als sie sich ohne große Rücksicht den Weg bis nah an die Tribüne vor gebahnt hatten. Die Männer drängten sich um ihn und Cullen – weil es so eng war, aber auch, damit ihn niemand wiedererkannte. Das war auch der Grund, warum sie nicht bis ganz nach vorn gegangen waren, wo die Absperrungen und drei Männer in Security-Uniformen die Leute von der Bühne fernhielten. Er wollte nicht, dass Parrott ihn sah.
Interessant war, dass die Organisatoren der Veranstaltung offensichtlich verhindern wollten, dass sich jemand der Tribüne auf mehr als viereinhalb Meter näherte … dieser hohen, geschlossenen Bühne, unter der ein ganzer Coven Platz gehabt hätte.
Lily war auf dem Weg zu ihm. Er hatte mit ihr gesprochen, kannte ihre Pläne und konnte spüren, dass sie näher kam. Er wusste, dass er sich etwas vormachte, wenn er jetzt Erleichterung verspürte, weil sie bald bei ihm sein würde. Denn wie sollte er inmitten eines Chaos, wie es hier bald ausbrechen würde, für ihre Sicherheit sorgen? Vor allem, wenn sie alles daran setzte, bei diesem Chaos an vorderster Front mitzumischen. Aber je näher sie kam, desto ruhiger wurde er. Desto ausgeglichener.
Manchmal wurde er aus sich selbst nicht schlau.
Von Abel hatte er bisher nichts gehört und konnte ihn auch nicht per Telefon erreichen. Vielleicht hatte Abel herausgefunden, was sich unter der Bühne befand. Vielleicht war ihm etwas zugestoßen.
Rules Telefon steckte in der Tasche, doch er trug ein Headset, das auch bei starker Betriebsamkeit funktionierte. Dahinein sprach er jetzt. »Kann sie denn den Elementargeist wenigstens ein Stück weit kontrollieren?«
»Nur sehr begrenzt, sagt sie, doch er habe versprochen, sie zu beschützen. Äh … sie sagt, er sei ziemlich aufgeregt.«
Ein riesiger, aufgeregter Erdgeist, das verhieß nichts Gutes. Aber wenigstens hatten Deborahs Leibwächter sie gefunden und liefen nun neben ihr am äußersten Westende der Promenade her, während sie und der Elementargeist in seine Richtung unterwegs waren. Deborahs Handy funktionierte nicht, deswegen sprach Rule mit Matt statt mit Deborah.
Sie fuhr auf einem Fahrrad. Und das mitten im Washingtoner Stadtverkehr! Sie hatte es in der Hütte hinter Fagins Haus gefunden und die ganzen zwölf Kilometer bis hierher darauf zurückgelegt. Schließlich konnte sie dem Elementargeist nicht in einem Auto hinterherfahren, hatte sie Matt erklärt. Was für ein Glück also, dass Fagin noch ein altes Fahrrad hatte.
Rule war sich sicher, dass Ruben, genau wie er, es nicht für Glück halten würde. »Halte mich auf dem Laufenden, wenn sich etwas ändert«, trug er Matt auf und beendete die Verbindung. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Noch zehn Minuten. Vielleicht weniger.
Der Pfarrer der Megachurch in Maryland war endlich beim »Amen« in seiner langen, aber erstaunlich harmlosen Predigt angekommen. Rule hatte nichts dagegen einzuwenden, dass die Versammelten anschließend darum baten, vor dunklen Mächten beschützt zu werden – er hoffte nur, dass irgendeine Macht den Pfarrer auch erhörte und beim Beschützen unterstützte. Der Pfarrer kehrte zurück zu seinem Sitzplatz an der rechten Seite der Bühne, wo bereits vier Personen – zwei Männer und zwei Frauen – saßen und ihrem Auftritt entgegensahen.
Kim Evans war eine von ihnen. Sie stieg wieder auf das Podium und fuhr damit fort, die Menge gegen das große Böse in ihrer Mitte aufzupeitschen, wobei sie keinen Zweifel daran ließ, wer der letzte Märtyrer war: Senator Bob Bixton.
»… ein Mann, der uns eigentlich alle hatte beschützen sollen, ein Mann, der geschworen hatte, diesem Land zu dienen – ein Mann mit einer Gabe, der die Einheit mit der Aufgabe, magische Verbrechen in diesem Land zu bekämpfen, leitete – spazierte einfach in Senator Bixtons Haus und erstach ihn. Warum? Müssen wir das wirklich noch fragen?«
Sie machte eine dramatische Pause, während die Menge ihr ihre Antworten entgegenschrie – Nein, Mörder, Verräter –, dann fuhr sie fort: »Heute ist jemand gekommen, um zu Ihnen über die Gefahr zu sprechen, die durch Magie Korrumpierte darstellen – eine Gefahr, über die wir alle wissen, dass sie fortwährend wächst und bereits alle Ebenen unserer Gesellschaft und unserer Regierung durchdrungen hat – des Senators langjähriger Freund und sein Stabschef, Dennis Parrott!« Sie trat zur Seite und begann zu klatschen.
Die Menge jubelte und fiel in das Klatschen ein. Parrott war nicht unter den Wartenden auf der Bühne gewesen, sondern erklomm über die seitlichen Stufen die Bühne.
»Leck mich am Ärmel«, sagte Cullen mit lauter Stimme, um das Getöse Tausender enthusiastischer Humans-First-Anhänger zu übertönen. »Das ist Parrott?«
»Ja.«
»Er hat eine Charisma-Gabe. Und dazu noch ziemlich stark. Verstärkt durch einen fiesen Schuss Todesmagie. Und …« Er verstummte und kniff die Augen zusammen. Der Jumbotron-Bildschirm konnte noch so riesig sein, dort würde Cullen nicht finden, was er suchte.
Eine Charisma-Gabe würde erklären, wie die Außerirdischen es schafften, dass Menschen wie die »arme Meggie« ohne sich zu sträuben mit ihnen mitgingen. Jemandem mit einem starken Charisma vertraute man. Wollte man gefallen. So wie die arme Meggie. Möglicherweise erklärte das auch, wo Abel abgeblieben war. Parrott hätte ihn lang genug ablenken können, damit ein anderer ihn bewusstlos schlug … oder schlimmer.
»Vielleicht trägt Parrott es am Körper«, sagte Cullen plötzlich. »Das Artefakt, meine ich. Von hier aus kann ich es nicht erkennen, aber irgendetwas beeinflusst seine Energie.«
»Drummond sagte Lily, dass Parrott keiner von den Erschaffern der Doppelgänger sei. Würden die denn die Kontrolle über das Artefakt jemand anderem überlassen?«
»Na ja, Drummond ist ein verlogenes, mordendes Schwein, aber wer weiß? Vielleicht hat er ja in diesem Punkt die Wahrheit gesagt. Aber Parrott hat irgendetwas, ich kann nur nicht erkennen, was es ist. Aber ich glaube, es ist ein Ring. An seiner rechten Hand sehe ich etwas schimmern …« Eine Falte erschien zwischen seinen Brauen. »Ich muss näher an ihn ran.«
Rule erwiderte nichts. Es gab einen Weg, sich Parrott zu nähern, aber darauf würden sie nur Notfall zurückgreifen. Zum Beispiel, wenn plötzlich riesige geifernde Wölfe auf der Tribüne erschienen.
Parrott überquerte die Bühne. Einmal blieb er stehen, um zu winken und zu nicken, als habe er jemanden unter den Zuschauern erkannt. Als er beim Rednerpult ankam, hob er beide Hände, um Ruhe zu erbitten. Die Kameras zoomten auf ihn, und auf dem riesigen Bildschirm erschien sein ernstes, glatt rasiertes Gesicht.
Rules Handy vibrierte. Er zog es aus der Tasche und tippte auf das Display … »Harry. Ich hatte dich schon aufgegeben.«
»Wir sind hier, Rule! Wir sind hier! Der Verkehr war schlimm, aber wir haben es geschafft. Ich habe noch nie so viele Leute an einem Ort gesehen. Menschen sind schon verrückt, was?«
»Das denke ich oft. Wo seid ihr jetzt genau?«
»Ich bin neben der Bühne, wie du gesagt hast. Und keine Sorge«, sagte er stolz. »Meine Truppe habe ich so postiert, wie du es mir gesagt hast.«
»Das ist sehr gut, Harry. Außerdem habe ich dir gesagt, dass ich jemanden brauche, der in diesem Spiel sehr, sehr gut ist.«
»Das bin ich! Ich bin der Beste. Ich bin der Champion in diesem Spiel! Was kann ich für dich tun?«
»Siehst du den Mann, der jetzt auf der Bühne steht? Er hat einen Ring an seiner rechten Hand …« Rule fuhr fort, Harry zu erklären, was er von ihm wollte. Parrott redete gerade, doch Rule hörte nicht richtig hin … bis der Mann Lilys Namen sagte.