16

Kurz nach halb drei stand Lily vor dem Konferenzraum, in dem sie und Mullins sich eingerichtet hatten. Dieses Mal hatte Craig sie gefahren, nicht Cullen. Sie war immer noch wütend. Sie kannte Craig nicht und wollte nicht, dass er Zeuge einer ihrer Kopfschmerzattacken wurde. Doch Cullen musste sich am Nachmittag bereithalten, um den Dolch zu untersuchen was ja auch ganz in ihrem Sinn war. Warum also war sie so wütend?

Vielleicht galt ihre Wut gar nicht Cullen.

Sie stieß die Tür auf. Mullins blickte von einem unordentlichen Haufen Papier auf. »Es wurde aber auch Zeit.«

Es roch stark nach Hamburger und Zwiebeln. Lily entdeckte die Reste von Mullins Mittagessen am anderen Ende des Tisches. Sie begab sich zu der Kaffeekanne. »Sind Sie beim Arzt schon mal pünktlich drangekommen?«

»Ich glaube nicht. Ich würde gern mit der Sekretärin anfangen.«

»Nanette Beresford? In Ordnung.« Lily goss sich eine Tasse Kaffee ein.

Koffein hatte die Rhej ihr nicht verboten. Sie hatte gesagt, Lily solle »Anstrengungen vermeiden«. Nicht schnell laufen. Nicht lange aufbleiben. Nicht, weil die Heilerin mit Sicherheit wusste, dass diese Dinge Lily schaden könnten; sie vermutete es nur.

Mini-Schlaganfälle. Guter Gott.

»Hat der Arzt Ihnen grünes Licht gegeben?«

»Ich soll mich nicht anstrengen.«

»Dann sollten Sie mich wohl lieber nicht um den Tisch jagen. Sie wollten doch mit Ihrem Fachmann sprechen. Ist dabei etwas Nützliches rausgekommen?«

»Parrott muss seinen Talisman mindestens alle vier Wochen erneuern lassen. Egal, ob er die Wirkung hat, die er angibt.«

Er grunzte. »Das bringt uns nicht viel weiter. Sind Sie sicher, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist? Sie sehen nicht gut aus.«

»Kopfschmerzen. Die sich aber nicht auf meine Arbeit auswirken.« Nur, dass ihr Kopf jetzt gerade nicht wehtat und es sich sehr wohl auswirken würde. Sie log, und sie würde weiter lügen. Ohne die Clanmächte zu erwähnen von denen sie ja niemandem erzählen durfte , war es unmöglich, zu erklären, warum eine Heilerin der Ansicht war, ihr Leben sei in Gefahr. Wenn sie das versuchen sollte, würde sie sofort von den Ermittlungen abgezogen und ins Krankenhaus gesteckt, wo man alle möglichen Untersuchungen anstellen würde, die nichts nützen würden, weil die Ärzte auch dann nichts gegen die Clanmacht ausrichten konnten, wenn sie davon wussten.

Sie goss sich Kaffee nach. Ihr Arm zitterte ganz leicht. »Wir müssen herausfinden, wer Parrotts Talisman hergestellt hat. Und wer ihn regelmäßig erneuert. Vielleicht macht er es selbst, vielleicht kennt er einen sehr guten Praktizierenden denn für einen solch starken, komplizierten Talisman bedarf es eines echten Experten.« Sie nahm einen Schluck. Der Kaffee war von heute Morgen und schmeckte alt und bitter. »Jemand, der solch einen Talisman herstellen kann, könnte möglicherweise auch wissen, wie man einen verfluchten Dolch macht.«

»Hm.« Er notierte sich etwas auf einem Blatt Papier. »Das werde ich an Al weitergeben. Das sollte man weiterverfolgen. Das sind die, mit denen wir noch sprechen müssen.« Er las ihr eine Liste mit Namen vor.

Lily hörte zu, trank das bittere Gebräu in ihrer Tasse und versuchte mit aller Macht, an den Fall zu denken und nicht an tickende Zeitbomben und Große Alte, die andere für ihre eigenen Zwecke missbrauchten, ganz gleich, ob sie dabei umkamen oder nicht. An Rule und die wilde Angst in seinen Augen oder daran, wie viele Menschen ihren Tod betrauern würden oder wie zur Hölle sie das verhindern konnte.

Sie bat ihren ersten Zeugen an diesem Nachmittag herein. Und schaffte es tatsächlich, sich halbwegs auf den Fall zu konzentrieren, auf das, was die Sekretärin des Senators zu sagen hatte. Doch sobald die Befragung beendet war, wurde sie wieder abgelenkt von unklaren Gefühlen, die wirr in ihr rumorten. Als sie Nan bat, den nächsten Mitarbeiter hereinzuschicken einen jungen Mann mit dem interessanten Namen Kemo Maddon drängte eines dieser Gefühle plötzlich nach oben und war deutlich zu spüren.

Sie hatte Sehnsucht nach ihrer Mutter.

Sie musste lächeln. Dieser Gedanke entbehrte nicht einer gewissen Komik. Obwohl ihre Mutter sie in den Wahnsinn trieb, sehnte sie sich nach ihr, wollte sie nach Hause, zurück nach San Diego, vielleicht zurück in ihr enges Kinderbett, sich die Decke über den Kopf ziehen und von ihrer Mutter umsorgen lassen.

Manchmal war es gar nicht so leicht, erwachsen zu sein.

Rutschend kam der Wolf auf dem Damm aus Stein und Erde zum Stehen, der sich auf dieser Seite um Mikas Höhle herum erhob. Seine Flanken pumpten. Die Luft stank nach Drachen. Und unter diesem Geruch waren tausend andere: Eiche, Kaninchen, feuchte Erde und hundert verschiedene Pflanzenarten die gesamte Mischung, die für diesen Ort zu dieser Zeit des Jahres so typisch war. Und ein Hauch von nahendem Regen. Und Katze.

Er hatte selbst nicht gewusst, dass er herkommen würde. Er war einfach losgerannt und dann auf einmal hier gewesen. Gut. Manchmal waren Instinkte nützlicher als all das Nachdenken, an dem dem Mann so viel lag.

Er blickte zurück zu dem schwarz-grauen Wolf, der hinter ihm den Abhang hochkletterte, und bleckte still die Zähne. Entschieden klopfte er drei Mal mit der Pfote auf den Boden bleib zurück und warte.

José nahm Rules Signal wörtlich. Er blieb stehen und begann rückwärtszugehen.

Rule wandte sich wieder nach vorn und machte sich an den Abstieg über den holprigen Hang, etwas vorsichtiger als beim schnellen Anstieg auf der anderen Seite. Mika sah er nirgendwo, und der Wind kam aus der falschen Richtung, sodass er nicht wittern konnte, ob der Drache in der Nähe war. Wenn nicht, dann würde sich das bald ändern. Rule hatte die Schutzbanne des Drachen überschritten. Das war nicht erlaubt, nicht ohne Einladung. Deshalb würde Mika mit einiger Sicherheit sehr bald hier sein.

Gut. Rule knurrte in die leere, nach Drachen riechende Luft. Er wollte Antworten auf seine Fragen und würde sie auch bekommen.

Unten angekommen, blieb er stehen. Mika!

Rule legte seinen ganzen Willen, sein ganzes Gefühl in diesen Ruf. Es war keine Gedankensprache, aber der Drache würde ihn trotzdem hören. Mika, ich möchte mit dir sprechen!

Von der Stelle, einer Kuhle, unter der Kuppel, wo früher die Symphonieorchester gespielt hatten, erhob sich ein Kopf über den Erdwall. Er war ungefähr so groß wie Rules Schreibtisch zu Hause und ähnelte mit seiner schmalen Schnauze, dem gewölbten Schädel und den großen Augen Augen so strahlend gelb wie eine Flamme dem eines Seepferds oder einer Echse. Vor den karmesinroten Schuppen flatterte ein orangefarbener Kragen entlang des Kiefers wie Feuer, mit dem der Wind spielt.

Du ärgerst mich, kleiner Wolf. Du betrittst unerlaubt mein Revier, und du schreist mich an. Normalerweise bist du nicht so dumm. Ich muss nicht töten, um zu strafen.

In seiner jetzigen Gestalt fiel es ihm schwerer, Worte zu finden und noch schwerer, wenn Gefühle ihn gepackt hielten und ihn schüttelten wie ein Terrier eine Ratte. Statt jedoch Worte zu suchen, erinnerte Rule sich, so gut er konnte: an Lily, als sie vom Stuhl fiel und dann behauptete, sie habe das Bewusstsein gar nicht verloren; an Cullen, der von den Wurzeln sprach, die die Clanmacht geschlagen hatte; an die Rhej, die fand, dass die Clanmacht Lily schadete.

Seltsam, sagte Mika dann. Ich sehe keinen Grund, warum deine Dame Lily schaden wollte, du etwa? Oh, beruhige dich. Du kannst mich nicht angreifen, und warum solltest du auch? Ich bin nicht der Grund. Warum bist du gekommen?

Rules Körper bebte, als ein Sturm aus Wut und Angst durch ihn ging. Das war nicht gut. Er durfte sich nicht von dem Sturm in seinem Inneren beherrschen lassen. Er öffnete das Maul und atmete langsam, suchte nach dem Ort, wo eisige Klarheit herrschte, an dem Gedanken und Handlungen zusammenkamen, weit ab vom Strudel der Emotionen.

Certa war ein Kampfzustand. Doch es gab ganz sicher mehr als nur eine Art von Kampf. Ich möchte mit Sam sprechen.

Ich werde es ihm ausrichten, wenn ich ihm das nächste Mal Bericht erstatte.

Ich möchte persönlich mit Sam sprechen. Das war möglich. Sam hatte es ihm selbst gesagt. Sam konnte durch Mika oder einen der anderen in der Gedankensprache kommunizieren, vorausgesetzt, sie gaben ihm die Erlaubnis, sie auf diese Weise zu benutzen.

Das ist absurd. Das würde viel zu viel Energie verbrauchen. So etwas tun wir nur im Notfall oder

Ich will durch dich mit Sam sprechen, oder die Leidolf verlassen das Bündnis.

Das kannst du nicht würdest du das tun? Erstaunen lag in dem Gedanken, als Mika endlich begriff, dass es Rule tatsächlich ernst war. Langsam erhob er sich aus der Kuhle unter der Kuppel, bis er schließlich auf allen vieren stand, den Kopf auf dem langen, muskulösen Hals hoch erhoben. Den orangefarbenen Kragen vor Erregung aufgerichtet, blickte er mit gelb glühenden Augen auf Rule hinunter. Eigentlich sollte ich eines deiner Beine fressen, um dich Dickkopf von dieser Dummheit abzubringen.

Rule legte den Kopf zurück und zeigte die Zähne. Selbst wenn ich die Leidolf zurückziehe, sind die Nokolai immer noch mit euch verbündet, und ich bin ein Nokolai. Du kannst mich nicht angreifen. Du bist durch dein Wort gebunden.

Daraufhin folgte Stille, mentale und physikalische. Mikas Kragen senkte sich. Er wusste ebenso gut wie Rule, dass Sam nicht zufrieden sein würde, wenn er sich weigerte und Rule daraufhin die Leidolf zurückzog. Und welche Konsequenzen das haben würde, wusste er vermutlich besser als Rule. Ich frage Sam, ob er mit dir sprechen möchte.

Gut.

Menschen sind sehr töricht.

Ich bin kein Mensch.

Mika schnaubte. Auf jeden Fall benimmst du dich wie einer.

»Na gut, Ella«, sagte Cullen scharf, packte die Rhej am Arm und drehte sie zu sich um. Lily war gegangen. Rule ebenso. Jetzt war es an der Zeit, dass sie ihm Rede und Antwort stand. »Sag mir, was du ihnen nicht sagen wolltest, und komm mir nicht mit diesem Blödsinn, dass du die ›medizinischen Fachbegriffe‹ nicht kennst. Ich weiß, dass das nicht stimmt.«

Sie lächelte, als fiele es ihr leicht, doch die Sorge in ihrem Blick sprach eine andere Sprache. »Ja, das glaube ich dir gern.«

»TIAs können heftige Kopfschmerzen verursachen, aber sie vergehen nicht nach ein paar Sekunden wieder. Und dann müsste es auch noch andere Symptome geben Veränderungen der Sehfähigkeit, Schwäche, undeutliche Sprache. Irgendetwas.«

»Das stimmt. Doch sie hat Schäden am Kleinhirn, die auf mindestens zwei TIAs, also transitorische ischämische Attacken, hindeuten. Möglicherweise gab es noch eine dritte, die aber schon abgeheilt ist. Diese beiden sind fast verheilt, auch ohne meine Hilfe und viel besser. Ihre Müdigkeit ist wahrscheinlich eine Folge des Heilungsprozesses. Und der ist sehr anstrengend.«

Cullen runzelte heftig die Stirn, um ihren Arm nicht noch fester zu packen. Oder loszuschreien. »Schwindel. Ihr war schwindelig nach dem dritten Mal. Sie ist vom Stuhl gefallen, sagte Rule. Du sagst, ihr Kleinhirn sei beschädigt. Diese verdammten Wurzeln kommen aus dem Kleinhirn direkt neben der Halsschlagader wieder raus.«

Sie nickte müde. »Ich habe die Halsschlagader untersucht, doch nichts gefunden. Ich vermute, dass sie die TIAs nicht aufgrund einer Okklusion hatte, sondern die langsame Fließgeschwindigkeit das Problem ist. Irgendwie stoppen diese Wurzeln hin und wieder den Blutfluss in der Halsschlagader.«

»Das alles hättest du Rule und Lily auch sagen können. Du verschweigst uns doch noch mehr.«

»Nichts, das Fakt wäre. Nichts, das ich tatsächlich habe feststellen können.«

»Dann etwas, das du glaubst oder vermutest.«

Erst als Ella versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, begriff er, dass er sie immer noch festhielt. Er ließ sie los. »Ich spreche ungern über Vermutungen.«

»Jetzt sprichst du mit mir. Nicht mit Lily. Nicht mit Rule. Du wirst dich besser fühlen, wenn du mit jemandem darüber geredet hast.«

Ihr Lächeln wurde leicht ironisch. »Ich sehe, manches ändert sich nie. Du bist immer noch ein manipulativer Mistkerl.«

»Sie ist mir wichtig. Sie sind mir beide wichtig. Ich muss ihnen helfen, aber das kann ich nicht, wenn ich nicht alle Fakten und Vermutungen, und seien sie noch so verrückt, kenne.«

»Na gut. Ich vermute, dass die Clanmacht sie heilt aber sie ist kein Lupus. Ihr Körper kann diese Art von Magie nicht verarbeiten. Sie hat zwar ihren Arm geheilt, doch das ist ein langsamer Prozess gewesen. Es hat eine Weile gedauert, bis die Belastung so hoch war, dass sie ihre erste TIA hatte. Aber wenn die Clanmacht sie wie jeden anderen Lupus auch heilt, dann steht diese Macht an erster Stelle und das Gehirn ist ihre erste Priorität. Deshalb hat die TIA sie gezwungen, sich zu beeilen.«

»TIAs sind per Definition vorübergehend. Sie verursachen keine bleibenden Schäden.«

»Die Symptome einer TIA sind vorübergehend. Das heißt nicht, dass sie keine Schäden verursachen. Sie sind vielleicht so gering, dass das Gehirn sie schnell kompensiert. Aber der Heilungsprozess der Lupi strebt Perfektion an, und da es sich um ihr Gehirn handelt, beeilt er sich, so schnell er kann. Doch eine schnelle Heilung ist für Lily anstrengender als eine langsame. Also hat sie eine neue TIA. Daraufhin folgt wieder eine schnelle Heilung. Was wieder eine TIA auslöst.«

Vor Angst schnürte sich ihm die Kehle zu. Das passte alles viel zu gut zusammen. In den vier Wochen, seitdem Lily die Clanmacht der Wythe übernommen hatte, war nichts weiter passiert, als dass ihr Arm langsam geheilt war. Dann hatte sie plötzlich diese kurze, aber schwere Kopfschmerzattacke gehabt. Am nächsten Tag gleich zwei die länger gedauert und sie mehr geschwächt hatten. »Es wird nicht aufhören. Sie wird immer weiter diese TIAs haben, bis eine von ihnen so schwere Schäden verursacht, dass die Clanmacht sie nicht mehr heilen kann. Doch sie wird es versuchen. Und das wird sie umbringen.«